152 Tage

 
 

Julia,

was ich neulich gesagt habe, war ernst gemeint. Ich hasse Dich. Ich will es nicht, aber ich kann nichts dagegen machen.

Und dass ich das weiß, Julia, macht alles noch viel schlimmer. Ich hasse Dich, weil Du gestorben bist. Abartig, was? Wenn ich an Deiner Stelle gestorben wäre, würdest Du mich vermissen und vielleicht mit dem Foto von uns beiden reden, das du an Deinen Ankleidespiegel gepinnt hattest, das vom Aqualand, aber Du würdest keine Briefe an mich schreiben, langweilige Bäh-bäh-bäh-Briefe.

Du würdest mir keine Vorwürfe machen.

Ich vermisse Dich die ganze Zeit, Julia; die Art, wie Du Deine Haare mit Henna gefärbt hast, nur weil Dienstag war, wie Du gelacht und mich »alter Trauerkloß« genannt hast, wenn ich was Dummes sagte, dass Du immer genau wusstest, wann ich eine Tüte Chips mit Salz und Essig aus dem Automaten brauchte, um die letzten Unterrichtsstunden zu überstehen, und und und. Aber in den letzten paar Tagen hast Du mir so schrecklich gefehlt, dass ich nichts anderes mehr war als das – die Sehnsucht nach Dir.

Als würde man kein Skelett und keine Muskeln, kein Blut und keine Nerven in mir finden, wenn man in mich reinschauen würde, sondern nur die Erinnerungen an Dich und alles, was ich Dir sagen wollte und aus dem Notizbuch herausgerissen habe, alles, was ich Dir nicht sagen kann, weil mir die Worte dazu fehlen. Du ahnst nicht, wie elend ich mich deshalb fühle. Wie denn auch? Es gibt keinen Ausdruck dafür.

Ich weiß nicht, was ich wegen Patrick tun soll. Es ist jetzt vier Tage her, Julia. Ich habe seit jenem Nachmittag nicht mehr mit ihm gesprochen. Er mit mir auch nicht und eigentlich müsste ich froh darüber sein.

Statt Buch zu führen, wie viele Tage es her ist. Es müsste mir egal sein, ob er je wieder mit mir spricht oder nicht. Es war doch nur Sex und ich weiß nicht, warum ich überhaupt darüber schreibe. Aber ich 

Ich denke dauernd an ihn. Seine Haut. Seine Stimme. Die Art, wie – mein Gott, wie sich das anhört. Ich rede schon wie in einem verdammten Liebesroman. ES. WAR. NUR. SEX. Was ist los mit mir?

Ich habe mit Mel gesprochen. Nur zwei oder drei Tage danach. Das letzte Mal, als ich dir geschrieben habe.

Mel ist nach Englisch zu mir gekommen und hat mit so einem komischen Unterton in der Stimme gesagt: »Du weißt doch, warum ich dir so viele Fragen gestellt habe, oder? Und warum ich Patrick mit ins Kino genommen habe?«

»Was?«, sagte ich und verrenkte mir den Hals nach Patrick, bevor ich mich bremsen konnte. Aber er war nicht bei Mel. Im Unterricht hatte er an seinem Tisch gesessen (ganz am anderen Ende des Raums, jetzt, wo das Gruppenprojekt vorbei ist) und auf die Tür gestarrt. Mich hat er gar nicht angeschaut, kein einziges Mal.

»Wegen Patrick«, sagte Mel. »Er ist mein Freund, er mag dich, und ich dachte, wenn ich mit dir rede, wenn ich dich alles frage, was er dich gern gefragt hätte, dann würde er vielleicht irgendwann selber mit dir zu reden anfangen. Und jetzt … also hör mal, ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich hab gesehen, wie ihr nach der Präsentation miteinander geredet habt, und seither … Du musst irgendwas tun, und falls du was gesagt hast, musst du’s zurücknehmen oder was auch immer, weil Patrick jetzt total durch den Wind ist.«

Ich ging einfach weg. Was sollte ich sonst tun? Oder sagen? »Ehrlich gesagt, Mel, hab ich ein bisschen mehr mit ihm gemacht als nur geredet. Wir hatten Sex miteinander. Und das kann ich schlecht zurücknehmen, oder?«

Absurd, was? Da stöhnt jemand ein paar Minuten über dir, und das war’s, das ist alles. Klare Sache. Aber Du, Julia, Du hast immer gesagt, dass man etwas dabei fühlen muss, dass man Gefühle für den Typ haben muss, mit dem man schläft. Du hast Sex nie als das gesehen, was es ist, ein flüchtiger Augenblick, der nur dann Bedeutung gewinnt, wenn man es zulässt.

Ich kann’s nicht fassen, hab ich immer gesagt, wenn Du Dich wieder mal über einen Typ aufgeregt hast. Und bei Kevin war das ständig so, stimmt’s? »Das ist doch idiotisch« und »Du darfst es nur nicht an Dich ranlassen, dann kann Dir nichts passieren«. Kein Wunder, dass Du immer die Augen verdreht und gesagt hast, dass ich keine Ahnung hätte.

Ich dachte, ich wüsste, wovon ich rede, aber das stimmt nicht. Ich wusste gar nichts. Kevin war der letzte Arsch, weil er Dich betrogen und belogen hat (noch dazu schlecht), aber er hat Dir was bedeutet. Wenn Du mit ihm zusammen warst, war das nicht nur ein flüchtiger Moment für Dich und es spielte keine Rolle, ob Du das, was du für ihn gefühlt hast, an Dich herangelassen hast oder nicht. Es war einfach da und Du hast es gespürt.

Hätte ich das doch nur früher verstanden! Ich würde alles dafür geben, glaub mir.