Julia,
ich hab mich geirrt. Zu Hause ist nicht wieder alles beim Alten, wie ich erwartet hatte, und das macht mich irgendwie verrückt. Dass ich nicht losgehen und trinken kann, steigert noch meine Angst, obwohl – wenn ich wüsste, wie man das macht, einen Riesenaufstand, dann würde ich es wahrscheinlich tun. Aber ich kann das nicht. Egal wie zugedröhnt ich war, ich habe meinen Eltern nie zugemutet, dass ich nackt auf dem Tisch getanzt habe oder so. Wenn ich auf einer Party war, hab ich einfach auf einem Sofa oder Stuhl gesessen und den anderen zugenickt oder mit ihnen geredet. Ich hatte fünfmal Sex – dreimal in der Neunten, zweimal letztes Jahr. (Ich weiß, was Du denkst, und ja, okay, Du weißt jetzt von Patrick, weil Du da, wo Du bist, garantiert alles weißt, und klar, ich hätte es Dir sagen müssen – aber ich will jetzt nicht wieder davon anfangen, okay?)
Als ich nach Pinewood kam und darüber reden sollte, was ich »unter Alkohol« gemacht habe, kassierte ich so komische Blicke von den anderen, als wollten sie sagen: »Was? Ist das alles? Mehr hast du nicht gemacht?«
Aber die Blicke verschwanden, wenn ich über Dich geredet habe. Was ich Dir angetan habe.
Die Sache ist die, dass meine Eltern weiter mit mir sprechen, und das ist … na ja, merkwürdig. Ich weiß nicht, wie ich mit ihnen reden soll. Ich bin hin- und hergerissen: einerseits möchte ich schreien, weil ich ihnen nicht wichtig genug war, dass sie schon früher damit angefangen haben – mit mir zu reden, meine ich –, und andererseits würde ich ihnen so gerne alles erzählen.
Alles, Julia. Ich will ihnen erzählen, dass es zu spät ist, und warum. Ich will ihnen erklären, wie grässlich es für mich ist, mit diesen notenfixierten Freaks in einer Klasse zu sitzen. Ich meine, es ist doch abartig, dass Du erst sterben musst, damit sie kapieren, dass sie vielleicht hin und wieder mal mit ihrer Tochter reden sollten, oder?
Ich will Dir ein Beispiel geben, wie gestört sie sind: Hier ein Gespräch, das ich gestern mit meiner Mutter hatte, nachdem sie mich von der Schule abgeholt hatte.
Mom (ruft): Amy. (lange Pause) Schätzchen. (Offenbar übt sie jetzt auch die Nummer mit den Kosenamen.) Wo bist du? Meinst du nicht, wir sollten mal über deine … oh. Du bist in der Küche.
Ich: Ja, klar. Wir sind doch erst vor fünf Minuten hier reingekommen, oder? Du hast gesehen, wie ich mich hingesetzt habe, und du hast gesagt, du willst nur mal kurz deine Tasche wegräumen.
Mom: Ja, natürlich! Ich dachte nur, du bist vielleicht in dein Zimmer raufgegangen.
Ich: Oh, kann ich gern machen. Kein Problem. Ich geh gleich rauf, ich will nur noch meine Sachen …
Mom: Nein, nein, bleib nur. (setzt sich) Wie war’s heute in der Schule?
Ich: Mhmh. Gut.
Mom: Und wie sind deine Fächer?
Ich: Gut.
Mom: Arbeitest du an deinen Hausaufgaben?
Ich: Ja.
Mom: Bist du … wie läuft’s denn so? Das muss dir ja alles wie Berge von Arbeit vorkommen. Ich meine, nicht, dass ich dir nicht zutrauen würde, dass du damit fertig wirst, aber …
Ich: Das ist schon okay.
Mom (sichtlich erleichtert): Oh, gut. Hast du Hunger? Ich könnte was Kleines vertragen. Magst du vielleicht ein Salamibrot? Ich mach mir eins. (steht auf)
Ich: Ich bin Vegetarierin, Mom. Seit ich dreizehn bin.
Mom: Oh … ich dachte nicht … Also ich hab schon gesehen, dass du die Paprikawurst von deiner Pizza heruntergepickt hast, aber ich dachte nicht, dass das irgendwas zu bedeuten hat … ich meine, mir war nicht klar, dass du so konsequent bist. Ich finde das gut, wirklich, und …
Ich: Danke. Ich nehme jetzt meine Sachen und geh nach oben.
Was ich dann auch machte und ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil Mom so traurig aussah, wie sie da allein in der Küche stand. Als ob sie … ich weiß auch nicht. Als ob sie wollte, dass ich dableibe und mit ihr rede? Aber wenn das so ist, warum sagt sie es dann nicht einfach? Ich glaube, Du weißt, warum sie es nicht gemacht hat. Sie fühlte sich schuldig, weil sie als Eltern so versagt haben. Es ging überhaupt nicht um mich.
Aber trotzdem, Julia, ich kam mir so schäbig vor. Und da war auch noch was, etwas, das einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterließ und mich dazu brachte, die Fäuste zu ballen.
Verstehst Du, auf einmal wird alles, was ich mache, beachtet. Jede Kleinigkeit. Als ob ihnen wirklich was dran liegen würde. Jetzt, wo ich, wenn ich in den Spiegel schaue, nur noch eins sehen kann, nämlich was ich Dir angetan habe.
Und dann die Schule. Solange ich einen Bogen um Dein Schließfach mache, ist es in Ordnung. So einigermaßen jedenfalls.
Okay, nicht wirklich. Es ist beschissen. Natürlich bin ich nicht mit denselben Leuten zusammen wie früher, als Du noch da warst. Schon deshalb nicht, weil ihr Anblick mich viel zu sehr an Dich erinnert, und, na ja, das kann ich nicht verkraften. Außerdem …. Julia, sie schneiden mich. Und das kann ich verstehen. Ich wollte mit keinem von ihnen über den Unfall reden, nicht mal auf Deiner Beerdigung. Und ich war den Sommer über in Pinewood, statt auf Partys. Ich war dabei, als Du gestorben bist.
Ich bin der Grund, dass Du tot bist.
Also keine alten Freunde. Auch keine neuen in meinen bescheuerten Leistungskursen, was mir nur recht ist, weil ich keine Lust habe, mit Leuten herumzuhängen, die vor lauter Einbildung stinken. Allerdings – lach nicht – hat Corn Syrup tatsächlich mit mir gesprochen! Wir saßen in unserer Arbeitsgruppe in Englisch, als jemand auf der anderen Seite des Klassenzimmers Deinen Namen sagte, und ich … also ich muss total weggetreten sein oder so. Richtig zusammengebrochen. Mein Gehirn machte einfach pffft! und mein Gesicht wurde ganz heiß und ich konnte plötzlich weder hören noch denken noch sonst was. Ich habe noch dunkel wahrgenommen, dass Mel zu mir herschaute, und dann zu Patrick (der wie immer auf seinen Schreibtisch starrte, obwohl ich glaube, dass er vielleicht mich angesehen hat). Aber Caro war die Einzige, die was gesagt hat: »Amy, bist du okay? Brauchst du vielleicht ein Glas Wasser oder so …« Aber dann hat Beth Emory über mich gelacht und Corn Syrup verstummte. Seither hat sie nicht mehr mit mir gesprochen.
Du erinnerst dich doch an Beth, oder? Dieses Miststück aus der Mittelschule? Sie ist ganz die Alte. Schön, gemein und giftig wie eine Klapperschlange: Sie schafft es, ihre Freunde mit ein paar gezielten Worten in blökende Schafe zu verwandeln. Bäääh! Caro hängt natürlich immer noch mit ihr herum.
Ach ja, einer redet doch mit mir, und zwar dieser Typ, dieser Mel. In Englisch, wenn wir in dieser bescheuerten Gruppe sitzen, nervt er mich immer mit seinen Fragen. »Was ist deine Lieblingsfarbe?« oder »Wieso hast du Psychologie abgewählt und stattdessen Umweltwissenschaften genommen?«. So geht das die ganze Zeit. Das Komische ist, dass er zwar eine Menge über mich weiß – zum Beispiel kennt er meinen Stundenplan – und mich dauernd ausfragt, aber meine Antworten interessieren ihn überhaupt nicht. Ich kann ihn nicht einschätzen, aber das macht nichts, weil er mir egal ist.
Soll ich Dir sagen, was mein größtes Problem in der Schule ist? Das Mittagessen. Absurd, was? Jedenfalls hätte ich das nicht gedacht. In Pinewood haben wir eine Menge Rollenspiele gemacht (ja, lach nur!), weil wir lernen sollten, »wir selber zu sein«, und das war für mich okay. Aber in der Schule ist das anders. Wer wo sitzt und mit wem und warum, ist hier praktisch das Einzige, was zählt, und die Tatsache, dass ich keine Freunde habe, bei denen ich sitzen kann … na ja, Du weißt ja, was das bedeutet. Und wozu mich das in den Augen der anderen macht.
Es gibt noch mehr Loser außer mir, die allein sitzen, aber ich habe keine Lust, mich mit sozialen Problemfällen abzugeben, und selbst wenn, könnte ich mich nie dazu überwinden, mit der »Schnurrbärtigen« zu essen, der mal jemand stecken müsste, dass sie ihren Oberlippenbart bleichen soll, oder mit dem Typ, der immer in Anzug und Krawatte herumläuft. Wahrscheinlich hält er das für ein Mode-Statement, aber wir sind hier an der Highschool, verdammt noch mal. Oberstes Gebot: ja nicht auffallen. Nur wenn du einigermaßen wie alle anderen bist, kannst du das hier überstehen und irgendwann in die große, weite Welt hinausziehen.