18

 
 

Als ich ins Blue Moon kam, war es noch zu früh, um Schüler dort anzutreffen, aber Corn Syrup saß ganze vorne allein an einem Fenstertisch und tat so, als wäre sie in ein Buch vertieft. Ich erkannte es daran, dass ihre Augen, als sie mich kommen sah, ganz groß wurden und dass sie schnell wieder in ihr Buch schaute und dann erst zu mir zurück. Sie winkte mir zu, so ein halbherziges Winken, wie man es manchmal macht, wenn man Angst hat, dass der andere nicht zurückgrüßt.

Ich winkte nicht zurück, aber ich ging hinein. Obwohl ich natürlich wusste, wie der Hase lief. Caro hatte nichts dagegen, mit mir zu frühstücken, solange sie wusste, dass niemand aus der Schule im Blue Moon auftauchen und uns sehen würde. Und es war okay, dass wir über Englisch redeten und uns überlegten, wie wir unser zehnminütiges Referat aufbauen sollten. Auch über ihre Eltern und Geschwister konnte sie mit mir reden und irgendwie rutschte mir sogar eine Bemerkung über Mom und Dad heraus, über die Schoko-Muffins am Morgen und ihre dankbaren Blicke, als ich ihnen Saft einschenkte.

»Das muss ganz schön komisch sein«, sagte Caro.

Ich schob ein Stück Pfannkuchen auf meinem Teller herum. »Wieso? Wie meinst du das?«

»Na ja, dass sie plötzlich so um dich herumglucken. Deine Eltern waren doch früher immer nur mit sich selber beschäftigt.«

»Sind sie immer noch.«

»Ehrlich?«

»Ja.«

»Wow. Ich weiß noch, wie sie immer gesagt haben ›Ja, geht nur raus und spielt schön!‹, wenn ich bei dir zu Hause war. Und sie haben uns auch wirklich in Ruhe gelassen und nicht alle paar Sekunden nachgeschaut, so wie meine Mom. Oder weißt du noch, wie wir mal aufs Dach klettern wollten? An dem Tag bin ich reingegangen, um mir was zu trinken zu holen, und da hab ich sie gesehen, wie sie im Wohnzimmer herumgeknutscht haben.« Caro räusperte sich. »Mom hat immer gesagt, dass du ihr durch die ganze Küche gefolgt bist, wenn sie Abendessen gemacht hat. Und sie fand es so toll, dass du sie gefragt hast, ob du ihr helfen kannst, und dann hast du auch geholfen. Sie sagte immer …«

»Was?« Ich hatte meinen Pfannkuchen zu Brei zerhackt und meine Gabel klirrte über den Teller.

Caro biss sich auf die Lippe. »Naja, sie meinte, du hast immer so einsam ausgesehen.«

»Oh.« Ich ließ meine Gabel fallen und stieß den Teller von mir. Dann legte ich meine Hände in den Schoß, die Handflächen nach oben, und drückte gegen meine Knie.

»Tut mir leid, Amy, ich wollte nicht … Meine Mom ist verrückt, ehrlich … Weißt du, was sie immer sagt? Ich soll mich aufrechter halten, dann krieg ich auch einen Freund. Im Ernst, das hat sie echt gesagt.« Caro lachte, ein leises, gezwungenes Lachen, und ich wusste, dass sie das, was ihre Mom gesagt hatte, überhaupt nicht verrückt fand. Ich presste meine Hände noch fester in die Knie, als könnte ich mich durch meine Jeans, meine Haut, meine Knochen bohren und zu etwas anderem vordringen, etwas, das mehr Substanz, mehr Wirklichkeit besaß.

Ich hätte Caro gern gesagt, dass die Frühstücksszene mit meinen Eltern nicht witzig, sondern nur grässlich war. Dass ich Mom und Dad hasste, weil sie sich vor gutem Willen fast überschlugen, und dass ich gleichzeitig mich selber hasste, weil ich im Grunde meines Herzens daran glauben wollte, dass sie mich liebten, genauso sehr, wie sie einander liebten.

Gleichzeitig hätte ich Corn Syrup am liebsten geschlagen, mit aller Kraft, und ihr ins Gesicht geschrien, dass sie sich endlich Mel schnappen sollte, das Leben beim Schopf packen – einfach leben, so wie Julia. Ich wollte sie aufrütteln, ihr klarmachen, dass Menschen wie sie und ich gar nicht wirklich leben. Wir vegetieren nur vor uns hin. Ich hatte Glück gehabt, weil ich Julia hatte, wenn auch nicht so lange, wie ich dachte. Und obwohl ich alles zerstört hatte.

»Wir müssen los«, sagte ich und stand auf. Ich wühlte in meiner Tasche herum und zog den Zwanziger hervor, den ich einfach auf den Tisch fallen ließ.

»Das ist zu viel«, sagte Caro, aber ich hatte bereits meine Sachen zusammengerafft und ging zur Tür.

Caro kam hinter mir her. Ich kehrte der Uni den Rücken, um nach Hause zu gehen, zu den idiotischen Muffins, aber da packte sie mich am Arm.

»Du musst mit, Amy, sonst macht Beth mich fertig«, stieß sie hervor und in diesem Moment war sie mir richtig sympathisch. Sie machte keine Anstalten, mir ihren Anteil am Frühstück zurückzuzahlen, stattdessen bettelte sie mich offen um Hilfe an. Und sie war ehrlich. Sie wollte mich dabeihaben, weil sie hinterher mit Beth darüber lästern konnte, dass sie mich an der Backe hatten, und auf diese Weise selbst aus der Schusslinie war.

Also ging ich mit ihr in die Uni-Bibliothek. Mel war schon da. Er hockte draußen auf der Treppe und fuchtelte mit den Armen, als ob er eine lebhafte Diskussion führen würde, aber er war allein. Caro stieß einen leisen Seufzer aus, als sie ihn sah.

»Wenn du nur willst, gehört er dir«, sagte ich. »Du brauchst nur mit dem Finger zu schnippen.«

»Ich will ihn aber nicht«, behauptete Caro, und bevor ich sie auslachen konnte, fügte sie hinzu: »Oh. Er führt ja gar keine Selbstgespräche. Patrick ist aufgekreuzt. Das hätte ich nie gedacht.«

Patrick war tatsächlich gekommen. Er saß neben der großen Bücherrückgabekiste, fast ganz vor unseren Blicken verborgen. Wir gingen rein und Mel sagte irgendwas von »näher bei den Computerterminals sein«, als wir einen Fenstertisch in der Nähe einer Tür in Beschlag nahmen, aber das war eindeutig nicht der Grund, denn Patrick stürzte sich auf den Stuhl, der am nächsten beim Fenster stand, und dann starrte er hinaus, als ob er sich weit wegwünschte.

Ich fragte mich einen Augenblick, ob ich auf andere Leute auch so wirkte. So abweisend und gestört. Vielleicht hätte mich das aufrütteln müssen, aber es war mir egal. Patrick sah aus, als ob er sich nicht wohlfühlte in seiner Haut, in seinem ganzen Leben, ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte.

Mel saß gegenüber von Patrick und neben mir. Caro saß mir direkt gegenüber. Anfangs redeten sie nicht miteinander, aber es dauerte keine fünf Minuten, bis sie wieder herumstritten wie eh und je, sodass wir von ein paar College-Studenten angefunkelt wurden, die mit übermüdeten Augen über ihren Laptops hingen. Nach einer Weile gingen Mel und Caro weg, um etwas nachzuschauen, immer noch streitend, und ich blieb mit Patrick zurück.

Ich hätte genauso gut allein sein können. Patrick redete nicht mit mir und jedes Mal, wenn ich zu ihm hinschaute – Caro wollte, dass ich eine Liste mit Stichpunkten durcharbeitete, die sie gemacht hatte, und es war todlangweilig –, starrte er aus dem Fenster. Mel und Caro kamen nach einer Weile zurück, immer noch streitend, was ihnen sichtlich Spaß machte, denn beide mussten dauernd ein Lächeln unterdrücken.

»Wir können uns auch noch die anderen Artikel ansehen, klar. Ich wollte ja nur …«, sagte Mel.

»Nein, du hast gesagt, es gibt nur eine Möglichkeit, die Rolle des Mississippi in Huckleberry Finn zu interpretieren.«

»Hab ich nicht. Ehrenwort. Aber Patrick hat sich doch wahnsinnig in die Multimedia-Präsentation reingekniet und ich finde, wir können jetzt nicht verlangen, dass er das alles noch mal ändert …«

»Ich kann schon noch andere Sachen einfügen«, bot Patrick an, ohne sich vom Fenster wegzudrehen. »Ihr müsst mir nur sagen, was ihr wollt.«

Mel und Caro verstummten ungefähr dreißig Sekunden, dann schlenderten sie wieder davon, Seite an Seite, so eng, dass ihre Hände sich fast berührten. Ich konnte praktisch die Funken zwischen ihnen sprühen sehen. Irgendwie süß, obwohl es mir fast den Magen umdrehte, und ich fragte mich wieder mal, warum Mel sich mit Beth eingelassen hatte, wenn er doch Caro viel lieber mochte.

»Sie hat ihm weisgemacht, dass Caro ihn nicht ausstehen kann.«

Ich schaute zu Patrick hinüber und diesmal sah er mich an.

»Beth, meine ich«, fügte er hinzu.

Ich lachte, weil das typisch Beth war. Ein richtiger Beth-Klassiker. Genau dasselbe hatte sie in der fünften Klasse mit mir und Gus DePrio gemacht, den sie unbedingt haben wollte, sobald sie merkte, dass er Interesse an mir zeigte. Wie bescheuert sind die Typen eigentlich, dass sie immer noch auf denselben Schrott reinfallen wie mit zehn?

Patricks Mundwinkel zuckten und dann lächelte er. Ein richtiges Lächeln, und mir war plötzlich, als müsste ich wegschauen, aber ich konnte nicht.

»Amy«, sagte er, und Patricks Stimme ist – irgendwie anders. Tief, so ein dunkles Timbre, aber nicht laut. Im Gegenteil, er redet so leise, als ob alles ein Geheimnis wäre. Als ob man als Einziger hören sollte, was er sagt. »Ich wollte dir noch was sagen, wegen der Sache mit Julias Schließfach – ich meine, weil ich abgehauen bin, als die Glocke geläutet hat.« Er schaute weg, starrte wieder aus dem Fenster. »Das hätte ich nicht tun dürfen. Aber ich … meine Eltern … meine Mutter … Sie hat schon genug am Hals. Das soll jetzt nicht … ich hätte trotzdem dableiben müssen und es tut mir leid, dass ich es nicht getan habe.«

Ich zuckte die Schultern und starrte auf den Tisch. Es war ein komisches Gefühl, meinen Namen aus Patricks Mund zu hören. Auch dass er Julias Name sagte, war komisch. Und dass er so mit mir redete.

»Geht’s dir jetzt besser, nachdem du alles runtergerissen hast, was die Leute ihr sagen wollten?«

»Was?« Ich schaute ihn an. Er hatte sich vom Fenster weggedreht und sah mich an.

»Ich hab nicht … ich meine, so war das nicht. Das war doch alles nicht echt, was da stand. Nur irgendwelches Zeug, das sie aufgeschnappt haben oder das sie von ihren Freunden gehört haben.«

Sobald ich es aussprach, merkte ich, wie dumm es klang. Wie falsch. Es gab viele an der Schule, die Julia kannten und ehrlich vermissten. Darüber hatte ich bisher gar nicht nachgedacht. Vielleicht, weil ich es nicht gewollt hatte. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde.

»Ich hab’s für sie getan.«

Patrick schwieg einen Augenblick. »Kannst du jetzt wenigstens wieder an ihrem Schließfach vorbeigehen?«, sagte er schließlich.

»Ach, sei still«, fauchte ich ihn an und meine Stimme klang brüchig und heiser. Dann stand ich auf, packte meine Sachen, verließ die Bibliothek und ging über den Campus nach Hause. Als ich zur Tür hereinkam, lächelte ich meine Eltern an und sagte, dass es toll gewesen sei.

Ich bin nicht an Julias Schließfach vorbeigegangen, seit ich es in Ordnung gebracht habe. Ich dachte, ich könnte es, aber es geht nicht. Ich kann nicht. Ich … ich glaube nicht, dass ich es für sie gemacht habe. Ich glaube, es war für mich. Aber ich hab mich hinterher nicht besser gefühlt. Es wurde dadurch nicht leichter, Julias Tod zu ertragen.