144 Tage

 
 

Julia,

Laurie ist wieder da. Ich war am Nachmittag bei ihr. Ich wollte nichts über ihren Dad sagen, aber sie sah so müde und traurig aus und sie hat mir … naja, sie hat mir echt leidgetan.

Ich sagte: »Hoffentlich ist Ihr Vater wieder okay«, als ich mich hinsetzte, und Laurie antwortete: »Ja, es geht ihm viel besser, danke.« Als ich zu ihr aufschaute, sah sie mir ruhig in die Augen, und ich begriff, dass ihr Vater vielleicht nicht mehr lange leben würde, auch wenn es ihm vorübergehend besser ging, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich ihr alles über den Tag erzählt, als ich auf dem Friedhof war. Sogar die Begegnung mit Deiner Mom.

»Das hört sich ja sehr dramatisch an.«

Ich nickte.

»Und was ist mit den Sachen, die sie gesagt hat?«

Ich zuckte die Schultern.

»Meinst du, Julia würde auch so reden?«

»Nein. Sie war nicht so. Sie würde nie – ach, ist doch egal.« Das ist wieder mal typisch Laurie, dass sie nichts kapiert, nicht sieht, wer man ist. »Da ist noch was, das ich Ihnen sagen wollte.«

Ich erzählte ihr, was mir in jener Nacht klar geworden war. Dass es meine Entscheidung war zu trinken. Ich war so froh, dass ich ihr das endlich hinknallen, ihr etwas unter die Nase reiben konnte, das sie nicht gesehen hatte. Aber weißt Du, was sie gesagt hat?

»Gut.«

Das war alles? Gut? »Aber Sie haben doch … Sie haben mich diese ganzen Sachen über Julia und mich gefragt. Und Sie haben ihr unterstellt, dass …«

»Hab ich das?«

Ich funkelte sie an.

»Ich will dich noch was fragen«, sagte Laurie. »Was, meinst du, bedeutet ›Entscheidung‹ im Hinblick auf alles, worüber wir gesprochen haben?«

»Wie meinen Sie das?«

Laurie klickte mit dem Kugelschreiber. »Du hast Entscheidungen getroffen. Aber nicht nur du vermutlich, sondern auch Julia, oder?«

»Hmm.«

»Hat sie je Entscheidungen getroffen, mit denen du nicht einverstanden warst? Oder die dir wehgetan haben?«

Ich schaute auf meine Hände hinunter, die sich in meinem Schoß zu Fäusten geballt hatten. Ich zwang mich, sie zu lockern. Ich starrte auf meine Finger.

Ich dachte an die Zeit, als Du Dein Auto bekommen hast. An die Nacht, in der wir zu Kenny Maddens Party eingeladen waren. Ich wollte nicht. Ich wollte einfach mal Abstand von allem, verstehst Du? Selbst wenn ich trank, fühlte ich mich auf Partys manchmal noch zu groß und zu dumm und zu 

Du hast gesagt: »Okay, wahrscheinlich ist es sowieso nur öde«, obwohl wir beide wussten, wenn du hingehen würdest, könntest Du Dir den heißen Typ aus der Abschlussklasse angeln, der extra vorher angerufen hatte, ob Du auch kommst. Wir sind bei Dir zu Hause geblieben und haben DVDs angeschaut. Du hast Fudge gemacht, und als Deine Mom nach Hause kam, hat sie nicht mal über die geschmolzene Schokolade geschimpft, die an der Küchentheke klebte, sondern nur gelacht und gesagt, dass sie das am nächsten Morgen sauber machen würde. Wir hatten so viel Spaß. Ich hatte so viel Spaß.

Und ich dachte, du auch.

Aber das war ein Irrtum, weil Du nachts, als ich schon schlief, aus dem Fenster gestiegen bist. Du bist erst morgens zurückgekommen, als Deine Mom schon auf war und ich mich gerade zur Haustür rausschleichen wollte, um ihrem wütenden Gesicht und ihren Vorwürfen zu entgehen.

Ich habe Dich angefleht: »Jetzt sag ihr doch, dass ich nichts dafür kann. Dass ich nicht wusste, dass Du weg warst.«

»Wo zum Teufel warst du?«, hat Deine Mom Dich angeschrien. »Ich bin vor Angst fast wahnsinnig geworden! Wie kannst Du mir das antun? Was glaubst Du, wie mir zumute war, als ich in Dein Zimmer kam und Du nicht da warst!«

Du hast nur »Jaja, klar« gesagt und Deine Jacke über einen Stuhl geschmissen und dann bist du nach oben gegangen. »Mir reicht es langsam, dass man hier nie seinen Spaß haben darf.«

Ich habe nie erfahren, wen von uns beiden Du gemeint hast.

Die restliche Stunde saß ich schweigend da, bis Laurie mir sagte, dass ich gehen könne.