Caro rief mich am nächsten Tag an, nach unserem Treffen in der Uni-Bibliothek. Ich war gespannt, was sie von mir wollte, aber als ich ans Telefon kam, sagte sie nur: »Du wolltest doch noch ein paar Sachen recherchieren. Hast du das schon gemacht?«
»Ich arbeite dran«, sagte ich, während Mom, die als Erste am Telefon gewesen war, mir verschwörerisch zuwinkte und mir zuflüsterte: »Ich lass dich jetzt mal allein.« Dann ging sie aus dem Zimmer, ein strahlendes Lächeln im Gesicht.
»Okay, gut«, sagte Caro. »Ich wollte nur mal nachfragen, weil du ja plötzlich weg warst und Patrick wie ein Irrer rausgestürmt ist, als Mel und ich zurückgekommen sind, und da dachte ich, dass du vielleicht nicht …« Sie verstummte. Ich starrte an die Decke und zwang mich, nicht daran zu denken, was Patrick zu mir gesagt hatte.
»Also, bis dann«, sagte Caro schließlich und wir legten auf. Mom kam ein paar Minuten später zurück, immer noch lächelnd. Ich sagte: »Das war nur jemand aus meiner Arbeitsgruppe«, bevor sie mich fragen konnte, und dann vertiefte ich mich wieder in meine Hausaufgaben.
Ich spürte, dass Mom mich eine ganze Weile beobachtete, aber sie sagte nichts.
Caro rief irgendwann wieder an und Moms Augen leuchteten auf, wie beim letzten Mal, aber als noch mehr Anrufe kamen – immer dasselbe, wegen dem Englisch-Projekt – begriff sie endlich, dass sich dadurch nichts an meinem Einsiedlerleben ändern würde. Komischerweise war es keine Erleichterung, dass ich nicht mehr jedes Mal in Moms hoffnungsvolle Augen sehen musste, wenn sie mich ans Telefon rief. Im Gegenteil, irgendwie vermisste ich jetzt dieses Lächeln, das mir das Gefühl gab, dass sie auf etwas Gutes für mich hoffte und es mir mit aller Kraft wünschte.
Dann rief Caro gestern Abend an, völlig außer sich wegen unserer Präsentation.
»Hi«, sagte sie, als ich ans Telefon ging. »Ich bin total am Abdrehen. Hast du irgend ’ne Ahnung, welche Rolle der Mississippi in Huck Finn spielt?«
»Also … ähm, nein – ich meine, wie denn auch? Wo wir heute in der Klasse über nichts anderes geredet haben.«
»Oh, Mist, stimmt ja, du hast recht. Ich entwickle mich langsam zur Zwangsneurotikerin, was?«, sagte sie und lachte.
Ihr Lachen überraschte mich. Alle anderen Leute um mich herum waren total verbiestert, sobald es auch nur entfernt um Schule ging, aber Caro … also Caro konnte wenigstens darüber lachen.
»Nein, bist du nicht. Eine echte Zwangsneurotikerin würde sich nämlich nicht die Zeit nehmen, Hi zu sagen«, sagte ich.
Caro lachte wieder. »Hey, ich … ich muss morgen Nachmittag nach Millertown, um was für meinen Dad abzuholen. Mom lässt mich nicht mit dem Auto in die Schule fahren, das heißt, ich muss erst nach Hause zurück und den Wagen holen. Bescheuert, was? Aber wenn du Lust hast, könntest du doch zu mir nach Hause kommen und mitfahren?«
»Was?«
»Ach, egal«, sagte Caro schnell. »Ich dachte nur … war wohl ’ne blöde Idee. Und außerdem hab ich auch eine Menge Hausaufgaben und so …«
»Ich komm’ mit.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Es war mir einfach herausgerutscht, bevor ich mich bremsen konnte.
Mom und Dad überschlugen sich fast vor Freude, als ich ihnen sagte, dass ich nach der Schule zu einem Mädchen aus meiner Klasse gehen und mit ihr nach Millertown fahren würde.
»Caro«, fragte Dad: »Wer ist das noch mal?«
»Sie ist in meiner Arbeitsgruppe in Englisch und wir machen die Präsentation zusammen«, erklärte ich. »Und außerdem kennt ihr sie. Sie war früher oft hier, als wir noch klein waren.«
»Ach ja, Caro«, sagte Mom und Dad nickte dazu, aber sie konnten sich beide nicht erinnern, das wusste ich.
»Na, das ist doch großartig«, sagte Dad. »Dann muss ich dich morgen nicht abholen, oder?«
»Doch, musst du. Und du musst mich zu ihr nach Hause fahren, weil Caro nicht will, dass jemand aus der Schule mitkriegt, dass ich mit ihr herumhänge.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Dad betont fröhlich, obwohl man ihm ansah, dass er sich innerlich krümmte.
»Dein Vater kann dich dort absetzen«, sagte Mom und dann wechselte sie das Thema und redete mit Dad über seine Geschäfte und ich sah, wie sie ihre Hand auf seine legte. Ich dachte, sie hätte dazugelernt und begriffen, dass das keine große Sache war, nachdem alle anderen Anrufe vorher nicht zu dem glamourösen gesellschaftlichen Leben geführt hatten, das sie für mich erhoffte.
Aber wie üblich hatte ich mich getäuscht.
Als ich am Abend nach Hause kam, wartete Mom schon auf mich und gleich als ich hereinkam, fragte sie: »Und? Wie war’s? Habt ihr euch gut amüsiert?«
Ich zuckte die Schultern.
»Was habt ihr denn gemacht?«
Ich schaute sie an. »Wir sind nach Millertown gefahren. Wir haben eine Bowling-Trophäe für Caros Dad abgeholt und dann haben wir Käse-Pommes gegessen. Dann hat Caro mich nach Hause gefahren und da bin ich wieder. Und jetzt muss ich noch an der Präsentation arbeiten, die wir morgen machen müssen.«
Ich ging schnell in mein Zimmer, bevor sie etwas sagen konnte. Ich wollte nicht mit ihr über den Nachmittag reden. Ich … ich weiß auch nicht.
Dabei war es richtig nett. Lustig. Die Trophäe, die Caro und ich abholen mussten, war der Wahnsinn – fast so groß wie ich, mit einem Typ oben drauf, der triumphierend die Arme hochreißt, eine Bowlingkugel in der Hand. Wir haben uns schlappgelacht und später, als wir unsere Pommes aßen, sagte Caro: »Dad musste meiner Mutter schwören, dass er das Ding im Keller aufstellt«, und dann spielte sie mir vor, wie ihre Eltern sich deshalb gestritten hatten. Ich lachte, bis ich kaum noch Luft bekam.
Wir haben nicht über die Schule geredet und auch nicht über Beth oder Mel. Wir … wir haben einfach die bescheuerte Trophäe abgeholt und Pommes gegessen, nichts Besonderes, aber in der ganzen Zeit ging es mir so gut wie schon lange nicht mehr. Weil ich mich weniger hasste als sonst.
Mom ließ sich nicht so leicht von mir abwimmeln. Ein paar Minuten später kam sie in mein Zimmer und sagte: »Ich bin so froh, dass du wieder mal rausgekommen bist, Amy. Und ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hast, am Wochenende mit mir ins Oasis zu gehen. Wir könnten uns die Haare schneiden lassen und uns vielleicht einen schönen Tag in dem Spa dort machen.«
»Ich lass’ mir die Haare wachsen«, sagte ich. Julia hat mir früher die Haare geschnitten. Sie konnte das richtig gut und sie hätte garantiert mit zwanzig ihren ersten eigenen Friseursalon gehabt, so wie sie es sich erträumte, und der wäre tausendmal besser gewesen als das Oasis. (Obwohl ich dort noch nie war.)
»Oh. Na ja, dann könnten wir stattdessen vielleicht ins Einkaufszentrum gehen oder so.«
»Ich glaub nicht, Mom. Ich hab eine Menge Hausaufgaben und dann noch die Präsentation morgen, das hab ich dir ja schon gesagt, und außerdem hab ich schon gegessen – also, ich muss jetzt arbeiten.«
Mom schwieg einen Augenblick, dann nickte sie und ging.
Ich dachte, sie würde vielleicht zurückkommen und mich noch mal fragen, ob ich was mit ihr unternehmen wollte, aber sie kam nicht. Später ging ich hinunter, um mir eine Limo zu holen, und da saß sie Händchen haltend mit Dad in der Küche und unterhielt sich mit ihm. Sie blickten kaum auf, als ich hereinkam. Nahmen mich gar nicht wahr, sodass ich mich in total vertrautem Terrain bewegte, genau das, was ich gewollt hatte. Nur dass ich mich nicht so gut dabei fühlte, wie ich erwartet hatte.
Wenn das morgen vorbei ist, wird alles so sein wie immer. Caro wird nach der Präsentation nicht mehr mit mir reden und mein Verhältnis zu Mom und Dad scheint auch in die alten, ausgetretenen Bahnen zurückzufallen. Das ist gut so. Wirklich. Alles wird sein wie immer. Wie ich es verdient habe.
Aber warum …
Warum geht’s mir dann so schlecht dabei?