124 Tage

 
 

Julia,

ich schwör’ Dir, der Tag heute war eigentlich wie drei Tage. Das ist in letzter Zeit immer so.

Mit meinen Eltern ist es der wahre Horror. Immer wieder fangen sie von meinem Schuleschwänzen an (»Wie läuft’s denn jetzt?« und »Weißt du überhaupt, warum du geschwänzt hast?«), sodass ich ihnen am liebsten die Sache mit Corn Syrup auftischen würde, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber ich will kein Mitleid von ihnen. Ich will einfach, dass sie aufhören, die besorgten Eltern zu spielen. Dauernd sehen sie mich an und lächeln, so ein ängstliches, brüchiges Lächeln, und ich kann es nicht ertragen. Sie sollen endlich aufhören, so zu tun, als ob … als ob sie mich um sich haben wollten. Ich würde ihnen gern sagen, dass ich nicht vergessen habe, was ich ihnen über die Unfallnacht erzählt habe. Und dass ich weiß, dass sie es auch nicht vergessen haben – was ich Dir angetan habe. Ich möchte sie fragen, warum sie nicht darüber sprechen. Und ich möchte sie anschreien, dass sie mir endlich sagen sollen, was ich bin, damit wir es hinter uns bringen.

Ich habe vorhin bei Dir zu Hause angerufen. Eine automatische Frauenstimme meldete sich und die Telefongesellschaft erklärte mir höflich, dass sich die Nummer, die ich gewählt habe, leider geändert hat. Die neue Nummer wurde nicht bekannt gegeben.

Bisher wusste ich zumindest, dass jemand ans Telefon gehen würde, wenn ich angerufen habe, verstehst Du? Ich habe die Stimme von Deiner Mom gehört. Ich konnte so tun, als ob. Jetzt hab’ ich nicht mal mehr das.

Ich möchte die Treppe runtergehen und mich vor meine Eltern stellen, die wahrscheinlich eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa sitzen. Warum zum Teufel können sie sich nicht wie normale Eltern benehmen und durchs Zimmer gehen, ohne dauernd aufeinander zu achten? Wie kommt es, dass ich schreien möchte, wenn sie mich ansehen, schreien, bis mir die Stimme versagt?

Ich möchte ihnen den Mund aufstemmen, sie zwingen, das Wort MÖRDERIN auszusprechen.

Warum sagen sie es nicht? Warum kriegen sie es nicht endlich über die Lippen? Ich denke dauernd daran. An das Warum. Warum sagen sie nicht, was wir alle wissen? Warum sagen sie nicht die Wahrheit? Warum ich Dir das angetan habe? Und warum ich es für eine gute Idee hielt, dafür zu sorgen, dass Du Kevin mit einem anderen Mädchen ertappst. Warum ich, als Du so verzweifelt warst, gedacht habe, es sei das Beste, Dich ins Auto zu lotsen und wegzufahren. Warum ich Deine Hand genommen, Dich angelächelt und Dir versprochen habe, dass alles gut wird. Warum hab ich das gemacht? Warum?

Ich weiß nicht, Julia. Wirklich nicht. Ich weiß nur eins:

Du hättest Dich nie mit mir anfreunden dürfen.