116 Tage

 
 

Julia,

vergiss, was ich gerade gesagt habe ... Du weißt schon, über das, was passiert ist. Versprich mir, dass Du es vergisst, okay? Weil ich … Irgendwie ist es komisch in letzter Zeit. Zum Beispiel heute.

Heute bin ich doch tatsächlich bei Corn Syrup zu Hause gelandet und hab den Tag mit ihr verbracht, statt in die Schule zu gehen (bitte sei nicht sauer, ja?).

Und ich bin spät nach Hause gekommen. (Du weißt ja, wie beschissen die Buslinie ist.) Ich war so spät dran, dass Mom und Dad es tatsächlich gemerkt haben. Ich kam nicht mal dazu, die Haustür aufzuschließen, weil sie herausstürzten, sobald ich in der Einfahrt auftauchte.

Ich kam mir vor wie in einer Vorabend-Soap, als sie mich mit ihren Fragen bombardierten. »Bist du okay?« – »Warum warst du nicht in der Schule?« – »Hast du getrunken?«

»Ja«. – »Ich weiß nicht. Nein.«

»Wo warst du?« – »Was hast du dir dabei gedacht, um Himmels willen?«

»Nichts Bestimmtes. Und ich … ich weiß auch nicht.«

»Nichts Bestimmtes? Und du weißt nicht, was du dir dabei denkst, wenn du die Schule schwänzt?« Das war Dad und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter.

»Amy, das sind keine Antworten.« Das war Mom. Sie hielt Dads Hand. Ihre Finger waren so fest ineinander verhakt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Ich wollte nicht über Corn Syrup sprechen. Meine Eltern würden sofort denken, dass ich mich mit Caro angefreundet hatte, und ich war zu erschöpft, um ihnen zu erklären, was in der Highschool wirklich abgeht. Na ja, Du weißt ja, wie es ist … aber Du bist eben nicht da.

»Ich bin einfach so herumgelaufen«, log ich. »Das ist alles. Ich musste nachdenken.«

Mom wollte etwas sagen, bremste sich aber und sah plötzlich ganz verloren und wütend aus. Dad fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, das schon leicht schütter wird, von einem etwas blasseren Farbton als meines. Er sah auch wütend und verloren aus.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, brachte er schließlich mit brüchiger Stimme hervor und Mom stand einfach da und schaute mich an.

Es war so … so erschütternd, wie sie da standen, mit wilden Augen und zornig auf mich (mich!), aber gleichzeitig erinnerte es mich an Dich und Deine Mom. An die Nacht, als ich im Krankenhaus stand und die Polizisten anstarrte, die auf mich einredeten. Ihre Gesichter tauchten nur bruchstückhaft vor mir auf – Stirn, Nase, Kinn. Und Stimmen. Stimmen, die so weit weg klangen.

Dann hörte ich Deine Mutter. Sie sagte immer nur Deinen Namen, sonst nichts, aber es klang, als würde er ihr aus der Brust herausgerissen. JuliaJuliaJulia! Julia!

Trinken. Ich wollte trinken. Ich wollte den Tag heute vergessen, die vergangenen Monate, wer ich jetzt bin. Ich wollte das nicht, wollte nicht, dass wir alle hier draußen standen und Szenen aus einem Stück spielten, dessen Dialoge wir nicht kannten.

Ich sagte ihnen das alles. Wort für Wort. Das mit dem Stück war das Beste. Mom zuckte tatsächlich zusammen. Das gefiel mir. Es gefiel mir, dass ich sie getroffen hatte, alle beide. Jetzt kann ich verstehen, warum Du oft Dinge gesagt hast, die Deine Mom auf die Palme brachten, bis ihre Stimme immer schriller und ihr Gesicht knallrot wurden. Und ich weiß, warum Du dabei gelächelt hast.

Weil Deine Mom dir ganz gehörte, wenn sie so war. Ganz und gar mit Dir beschäftigt.

Ich fegte an meinen Eltern vorbei, als seien sie gar nicht da, so wie all die Jahre, als sie an mir vorbeigeschaut und nur sich selbst gesehen hatten, und ging hinein. Sie folgten mir, und als ich über die Schulter blickte, sah ich, dass sie mich anschauten. Ihre Augen suchten in meinem Gesicht, als hielte es eine Antwort auf die letzten Dinge bereit.

Endlich hatte ich, was ich von ihnen wollte. Endlich sahen sie mich wirklich an, aber um welchen Preis … Ich wandte mich ab und ging die Treppe hinauf.

Das Problem ist – und Du weißt, was ich meine –, dass meine Eltern nie dazu geschaffen waren, Eltern zu sein. Versteh das jetzt nicht falsch, Julia – wenn man so was sagt, denkt jeder sofort an solche Monstereltern, die ihre Kinder halb tot prügeln oder in dunkle Kellerlöcher sperren, Leute, die besser gar nicht erst Kinder in die Welt setzen sollten. Und so sind meine Eltern natürlich nicht.

Nein, Mom und Dad hatten einfach keine Kinder eingeplant. Ich weiß, das ist kein Weltuntergang. Was ist schon dabei, dass sie keine Kinder wollten? Ich bin nicht die Erste, die kein Wunschkind ist.

Und ich weiß auch, dass ich Glück gehabt habe. Ich lebe in einem schönen Haus in einem guten Viertel. Ich habe Eltern, die noch verheiratet sind. Die sich noch lieben. Ich wurde nie geschlagen, nie beschimpft oder gedemütigt. Sie haben mich noch nicht mal angebrüllt – kein einziges Mal.

Aber genau das ist der Punkt: Ich war es ihnen nicht wert, auch nur die Stimme zu erheben. Ich weiß, es ist krank, dass ich mich beklage, weil meine Eltern mich nie anschreien. Arme Amy, was für ein schweres Schicksal, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Du hast mir immer gesagt, dass ich ein Glückspilz bin, dass meine Eltern cool seien. Du mochtest sie. Dir hat es gefallen, wie sie immer »Oh, hallo, Julia« gesagt haben, wenn Du mich abgeholt hast, ohne je nachzufragen, wo wir hinwollten und wann wir zurückkommen würden. Du hast gesagt, das sei viel besser als Deine Mom, die sich immer in alles einmischte – Deine Kleider, Deine Haare und Deine Freunde – und Dich mit ihren Fragen zur Verzweiflung brachte.

Ich habe Dich beneidet.

Oh ja, ich weiß – Mom und Dad haben mir viel Freiraum gelassen. Sie haben Geburtstagspartys für mich gemacht, als ich noch in dem Alter war, in dem ich das wollte, und sie sind zu meinen Schulaufführungen gekommen und manchmal durfte ich sogar mit in die Ferien. Ich habe immer Taschengeld und tolle Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten bekommen. Sie haben mich in den Arm genommen, wenn ich sie darum bat, und ich bekam jeden Abend einen Gutenachtkuss auf die Wange. Aber das war’s dann auch. Ich war da. Und sie wussten es. Ende der Geschichte. Sie waren so von ihrer Liebe zueinander erfüllt, dass sie nichts anderes brauchten. Nichts und niemanden.

Und als ich es aufgab, ihnen gefallen zu wollen, immer die Beste in allem zu sein, als ich nicht mehr lauter Einser schrieb und den ganzen außerschulischen Kram hinwarf, sagten sie, dass sie das verstehen könnten. Und natürlich durfte ich ins Dachzimmer hinaufziehen, als ich sie fragte. Sie sagten, »Tschüss, amüsiert euch gut«, wenn ich ihnen zurief, dass wir noch wegwollten. Und »Mach dir nichts draus, nicht jeder ist fürs College geeignet«, als meine Noten nur noch Durchschnitt oder sogar schlechter waren. Ich sei in einem schwierigen Alter, sagten sie, alle Teenager haben Probleme.

Aber sie fragten mich nie, wie es mir dabei ging.