Also, ich hatte mein erstes Date. Und natürlich war es ein Reinfall.
Irgendwie war es mir gelungen, die ganze Geschichte zu verdrängen – ich meine, Mel wusste ja nicht mal, wo ich wohnte – und als es an der Haustür klingelte und Dad die Tür aufmachte und so komisch »Amy?« rief, dachte ich im ersten Moment, dass vielleicht Julias Mom gekommen war.
Ich stürzte in den Flur hinaus, aber es war nicht Julias Mutter, sondern Mel. Und Patrick. Ich starrte die beiden wortlos an. Mel winkte mir zu und sagte: »Hey, bist du fertig? Können wir jetzt ins Kino fahren?« Patrick schaute auf den Boden.
»Du gehst aus?«, fragte Dad fassungslos, dann trat Mom hinter mich und sagte: »Amy? Was ist denn los?«
Ich musste also meine Eltern fragen, ob ich zu einem Date gehen durfte. Und das vor dem Typ, der mich eingeladen hatte.
»Aber du hast uns gar nichts gesagt«, protestierte Mom und Dad fragte gleichzeitig: »Warum hast du uns das nicht früher gesagt?«
»Na ja, ich …« Wie sollte ich ihnen das erklären? Also das Problem ist, ich wollte eigentlich nicht Ja sagen, hab’s dann aber doch getan. Hinterher dachte ich mir, der Typ weiß ja gar nicht, wo ich wohne, also wird er auch nicht aufkreuzen, sodass ich am Freitagabend wie üblich zu Hause sitzen würde. Oder glaubt ihr, ich würde sonst in meiner ältesten Jeans herumlaufen, mit einem Ketchup-Fleck auf dem T-Shirt?
»Ich wollte es ja«, sagte ich schließlich. »Aber ich hab’s vergessen.«
»Dann gehst du jetzt also mit …« Dad schaute Mel an, der bereitwillig seinen Namen lieferte, »… und Mel hat einen Freund mitgebracht …« Er fasste Patrick ins Auge, der jetzt auch seinen Namen murmelte und in der Tür lehnte, als sei sie das Einzige, was ihn noch aufrecht hielt.
»Ach so, ja«, warf Mel unbekümmert ein. »Sie wundern sich wahrscheinlich, warum ich noch ’nen Typ mitbringe, stimmt’s?«
Dad sah aus, als ob ihn gleich der Schlag treffen würde – was Mel allerdings nicht merkte, denn er redete einfach weiter: »Patrick braucht eine Mitfahrgelegenheit. Kein Auto, versteh’n Sie, und da dachte ich, ich könnte ein bisschen Benzingeld absahnen.« Er war der Einzige, der über diesen lahmen Spruch lachte. Patrick verzog das Gesicht, als würde er am liebsten in die Tür hineinschmelzen und verschwinden.
Meine Eltern fanden diesen Auftritt gar nicht witzig und eine Sekunde lang hoffte ich, dass sie ein Machtwort sprechen würden: »Kommt nicht infrage, du bleibst da.« Aber dann wechselten sie einen Blick miteinander, zum Teil vielleicht, weil sie sich die Ratschläge aus den Pinewood-Broschüren oder den Gesprächen mit Laurie zu Herzen genommen hatten, aber vor allem war ihnen wohl inzwischen klar geworden, dass sie das Haus eine Weile für sich hatten, wenn ich wegging.
Also durfte ich mit. Aber Dad zog mich beiseite, bevor ich das Haus verließ. »Um elf bist du zu Hause«, sagte er, was mir egal war, weil ich wusste, dass ich sowieso nicht so lange bleiben würde. »Und ruf an, wenn du was brauchst«, fügte er noch hinzu. »Was immer es ist.« Und das war mir nicht egal, weil Dad so aussah, als ob er es ernst meinte, und so was hatte er noch nie zu mir gesagt.
Mein Verstand raste, als ich das Haus verließ. Warum war Mel überhaupt aufgetaucht? Und wieso ging er nicht neben mir? Das war doch so üblich, oder? Stattdessen stand er vor seinem Wagen, warf die Schlüssel von einer Hand in die andere und sah aus, als ob er hochzufrieden mit sich sei. Und Patrick, was hatte der hier zu suchen? Warum hatte ich mir nicht wenigstens die Haare gebürstet oder mein T-Shirt gewechselt? Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich – natürlich – voll gegen Patrick lief.
Was hat der Typ an sich, dass mir bei ihm dauernd solche Sachen passieren?
Diesmal war es allerdings nicht meine Schuld, dass ich in ihn reinlief. Er stand mitten in der Einfahrt, als hätte er dort Wurzeln geschlagen, aber peinlich war es trotzdem.
»Entschuldigung«, murmelten wir beide gleichzeitig und dann vergaß ich alle Fragen, die ich mir gestellt hatte. Warum? Weil Patricks Hand meine streifte, und etwas zuckte in mir, rüttelte sich wach. Ich starrte ihn an und er mich und mein Herz begann zu hämmern und meine Haut fühlte sich erhitzt und gerötet an. Das gefiel mir überhaupt nicht.
»Der Vordersitz ist irgendwie voll«, sagte Mel und ich schwöre, dass ich richtig hochschreckte beim Klang seiner Stimme. Ich hatte einen Augenblick ganz vergessen, dass er da war. Ich hatte na ja … alles vergessen. Patrick sah auch erschrocken aus und wir wandten beide den Blick voneinander ab. Patrick starrte auf den Boden, ich auf Mels Auto. Vorne auf dem Beifahrersitz thronte ein riesiger Karton.
»Ja, der Karton«, sagte Mel. »Mom hat gesagt, ich soll ihn unterwegs beim Wohltätigkeitsbasar abliefern, aber ich hab’s irgendwie vergessen. Macht es dir was aus, mit Patrick hinten …« Er brach ab und räusperte sich. Ich schaute ihn an und er wechselte einen Blick mit Patrick. Wieder kam es mir vor, als führten sie eine Diskussion ohne Worte, als verständigten sie sich mühelos in ihrer eigenen stummen Sprache, so wie Julia und ich früher, und meine Augen brannten bei diesem Gedanken.
»Nein, warte, ich setz mich hinten rein und den Karton kannst du neben mich stellen«, sagte ich schnell, weil ich wusste, was Mel vorhatte, und ich wollte auf keinen Fall die ganze Zeit neben Patrick sitzen, bis wir ihn irgendwo absetzten.
Wir stiegen also zu dritt ins Auto und da saß ich auf der Rückbank neben meinem Karton. Nicht dass ich viel Erfahrung mit Dates hatte (eigentlich gar keine), aber das hier konnte man wirklich nicht als normal bezeichnen. Ganz und gar nicht.
Und dann Mels pausenloses Gerede sobald wir aus dem Haus waren. Zuerst fragte er mich, wie es mir ging.
»Gut«, sagte ich.
»Gut«, wiederholte Mel und räusperte sich wieder. Patrick schaute aus dem Fenster.
»Was ist los mit dir, Patrick?«, fragte Mel und Patrick murmelte etwas, aber so leise, dass ich es nicht verstehen konnte.
»Okay, Mann, dann lass ich dich vielleicht doch Benzingeld bezahlen«, seufzte Mel.
In diesem Moment wusste ich, dass ich diese Farce nicht lange mitmachen würde, was immer das hier auch sein sollte, und ich spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, Bauchschmerzen vorzutäuschen, sobald wir Patrick abgesetzt hatten.
Aber Mel dachte gar nicht daran, Patrick abzusetzen.
Stattdessen gingen wir zu dritt ins Kino. Mel, ich und Patrick. Es war also eindeutig kein Date.
Und es wurde noch viel schlimmer, weil praktisch meine ganze Klasse da war. Jemand rief Mels Namen und winkte uns herüber, sobald wir aus dem Auto ausgestiegen waren.
Es war die Hölle. Mel reihte sich in die Schlange ein, um Eintrittskarten zu kaufen. Patrick schlenderte davon und starrte auf die Vorschau-Poster, als sei es das Interessanteste auf der Welt, und ich stand plötzlich mit Beth und ihrem Gefolge da, darunter auch Corn Syrup.
Beth schaute mich an und sagte etwas von »nicht gesellschaftsfähig«. Gerade so laut, dass ich es hören konnte, und dann fügte sie hinzu: »Mel ist einfach zu nett, ehrlich.«
Ich stellte mich taub – und wäre es nur zu gern gewesen –, weil Beth jetzt ihre ganze Zicken-Clique in eine Diskussion hineinzog, wer von ihnen den dicksten Arsch hatte. (»Also meiner ist eindeutig der dickste.« »Nein, meiner!« »Ach, vergiss es, meiner ist echt voll dick!«)
Schließlich kam Mel mit den Eintrittskarten zurück und wir stellten uns am Eingang an. »He, du schuldest mir ’n Zehner für deine, okay?«, sagte er.
Ich wühlte in meinen Taschen, tastete nach dem Geld, von dem ich wusste, dass es nicht da war, und schwor mir, mich nie wieder auf Mel einzulassen, egal, was er sagte, während Patrick auf der anderen Seite von Mel stand, die Hände in den Hosentaschen, und auf den Boden starrte. Beth, die direkt hinter mir war, schnaubte verächtlich und flüsterte Corn Syrup etwas zu. Mel musste es gehört haben, obwohl ich mir das nicht vorstellen konnte, aber jedenfalls flüsterte er Patrick etwas zu und sagte dann zu mir: »Vergiss das Geld, ich hab’s schon bekommen.«
Als wir endlich reingelassen wurden, saßen Mel und ich noch nicht mal nebeneinander. Ich landete auf dem zweitletzten Platz vor dem Mittelgang, zwischen Corn Syrup und Patrick. Patrick und ich mussten uns eine Armlehne teilen, was aber kein Problem war, weil wir beide keinen Gebrauch davon machten. Ich saß mit verschränkten Armen da und fühlte mich wie früher in der Mittelschule, wenn Beth und ihre Clique sauer auf mich waren und ich mit mulmigen Gefühlen darauf wartete, was sie sich für mich ausgedacht hatten. Patrick hatte sich auf seinem Sitz umgedreht und starrte den Gang hinauf zur Tür, als hätte er vergessen, wo er war.
Mel saß neben Caro und natürlich fingen sie sofort Streit wegen der Armlehne an.
»Ich hab meinen Arm zuerst draufgelegt«, sagte Caro.
»Nein, hast du nicht, und außerdem ist das noch lange nicht deine Armlehne, nur weil du mal hingefasst hast«, schoss Mel zurück.
Dann fetzten sie sich nach Strich und Faden, so wie in Englisch, und jeder konnte sehen, dass ihr Gestreite nichts anderes als eine verkorkste Art von Flirten war. Dafür sprach auch, dass sie sich dauernd zueinander vorbeugten, bis Beth, die auf Mels anderer Seite saß, ihm etwas ins Ohr flüsterte. Caro schleuderte prompt ihre Haare zurück, als hätte sie jetzt genug von Mel. Aber es war nicht überzeugend. Corn Syrup sah vor allem unglücklich aus.
Beth lehnte sich zurück und stieß Mel neckisch gegen den Arm, dann flüsterte sie ihm wieder etwas zu. Mel lachte und ich fragte mich, warum er sich nicht mit Beth verabredet hatte, aber dann begannen die Previews, und als Caro bei der Vorschau von einem total ungruseligen Horrorfilm zusammenzuckte, sah ich, wie Mel eine Hand nach ihr ausstreckte, aber dann im letzten Moment innehielt.
Und okay, mag ja sein, dass ich »nicht gesellschaftsfähig« bin, wie Beth mich freundlicherweise abgestempelt hatte, aber selbst ich konnte an Mels Verhalten ablesen, dass er auf Corn Syrup stand. Die Frage war nur, warum er dann nicht Caro ins Kino eingeladen hatte? Schüchtern wirkte er nicht gerade auf mich.
Und vor allem, warum hatte er mich hierhergeschleppt?
Als der Film endlich anfing, fühlte ich mich hundeelend, ich war erschöpft und traurig und kam mir total fehl am Platz vor, und dann lief eine Szene auf der Leinwand, die anscheinend lustig sein sollte – ein alter Mann, der einen Herzinfarkt hatte und hilflos herumtorkelte. Er krachte gegen sämtliche Hindernisse und am Ende, als er schon mit dem Tod kämpfte, griff er nach den Brüsten eines jungen Mädchens – und alle lachten. Etwas an diesem Gelächter erinnerte mich an Julias Lachen, so sehr, dass ich sie fast körperlich vor mir sah. Und plötzlich erschien mir das Kino ganz unwirklich und ich hatte Angst, dass alles um mich herum versinken würde, wenn ich mich rührte, und dass ich dann verloren wäre.
Ich zitterte und mir war auf eine komische Weise schwindlig – nicht so, dass sich alles um mich drehte, sondern ich drehte mich und da wusste ich, dass ich hier nichts zu suchen hatte. Es war falsch, dass ich im Kino saß, gefangen in einer absurden Situation, die ich nicht durchschaute, und mit lauter Leuten, die ich nicht mochte. Ich musste hier raus. Ich musste weg und ….
Trinken.
Ich brauchte was zu trinken. Dringend.
Irgendwie schaffte ich es, aus dem Kino zu kommen, und erst als ich mir meine verschwitzten Hände an meiner Jeans abwischte und zum Ausgang lief, stutzte ich, weil ich gar nicht über Patrick hatte drübersteigen müssen – er war auch weg.
Das war komisch, aber Patrick war ja auch ein schräger Vogel, und plötzlich konnte ich überhaupt nicht mehr klar denken, weil mich wieder das Schwindelgefühl erfasste und das Foyer mit allen Leuten, die dort standen und auf ihren Film warteten, zu einem Wirbel von Farben und Gesichtern verschwamm. Ich musste hier raus. Ich brauchte was zu trinken, sofort, und ich wollte nach Hause.
Ich überlegte einen Augenblick, ob ich zurückgehen und Mel Bescheid sagen sollte, dass ich nach Hause ging, aber der merkte sowieso nicht, dass ich weg war, und ich hatte Angst, dass ich jeden Moment in Ohnmacht fallen würde oder Schlimmeres. Irgendwie fand ich schließlich ein Telefon – Mom und Dad wollten mir erst wieder ein Handy geben, wenn ich bewiesen hatte, dass ich »vernünftig genug« war. (Was allerdings absurd war, denn wen hätte ich schon anrufen sollen?) Ich rief zu Hause an und Dad sagte: »Ich komme sofort«, und nachdem ich aufgelegt hatte, setzte ich mich auf den Boden, direkt neben dem Telefon, und es war mir egal, ob mich die Leute anstarrten.
Allerdings nicht lange. Angestarrt werden, das war schon immer ein Albtraum für mich, wegen meiner Größe und meiner komischen Haarfarbe, und jetzt saß ich als Einzige am Boden, mitten in einem riesigen Schwarm von Leuten, die hin und her wuselten und mir ständig auf die Füße traten oder über mich drübersteigen mussten. Und natürlich gafften mich alle an und wunderten sich, was dieses Mädchen dort am Boden machte. Ich stand auf und huschte an der Wand entlang zum Ausgang.
Draußen ging es mir besser. Dort war nicht alles so grell, so stickig und ich wischte mir meine Hände, die immer noch verschwitzt und jetzt auch zittrig waren, an meiner Jeans ab. Ein Pärchen drängte an mir vorbei, rammte mich, als sei ich gar nicht da. Vielleicht war ich das auch nicht. Es fühlte sich jedenfalls so an. Ich ging blindlings den Gehsteig entlang, mit gesenktem Kopf, um nur ja nichts zu sehen, und ich betete, dass Dad bald kommen würde.
»Der Gehsteig endet hier, falls du’s noch nicht gemerkt hast«, sagte jemand.
Es war Patrick. Er saß am Boden, an die Wand des Kinos gelehnt, fast ganz verdunkelt von den riesigen Scheinwerfern, die alles beleuchteten, bis hin zum Parkplatz.
»’tschuldigung«, murmelte ich. Meine Stimme klang seltsam, weit weg, und ich schaute zum Foyer zurück. Es war noch heller und voller als vorher, wie in einem schlechten Comic. Nie und nimmer konnte ich dorthin zurück. Ich wollte weg, nur weg, egal wohin. Weg von diesen unangenehmen Gefühlen. Und trinken. Ich wollte wieder trinken. Ich hasste mich dafür, aber es war so.
»Setz dich lieber mal«, sagte Patrick. Ich schaute ihn an, aber er mich nicht. Er starrte geradeaus vor sich hin, die Arme eng um seine Knie geschlungen. Dann verschwamm alles, und als mein Blick wieder klarer wurde, war auf einmal alles überdeutlich, überscharf, als bestünde die Welt nur noch aus Ecken und Kanten, die mich unerbittlich aufschlitzen würden.
Ich setzte mich. Ich konnte nicht anders, weil ich Angst hatte, dass ich sonst umkippen würde. Ich wusste, dass ich eine Panikattacke hatte, so wie damals, als … als das mit Julia passierte. Direkt nach ihrem Tod und dann noch mehrmals in den ersten Wochen in Pinewood. Aber das war jetzt eine Weile her und ich hatte vergessen, wie es sich anfühlt. Als ob alles – und ich mit – auseinanderbrechen würde. Und dass es mich daran erinnerte, wie gelähmt ich war. Gefangen.
Ich versuchte auch, geradeaus zu starren, so wie Patrick, aber die Welt sah immer noch komisch aus. Falsch irgendwie. Ich starrte auf den Boden und redete mir gut zu, wie ich es von Laurie gelernt hatte. Das ist nur die Panik, sagte ich mir, du bist gestresst und aufgeregt, aber das geht vorüber.
Nur leider half es nichts. Ich fühlte mich noch elender, noch weniger in Kontakt mit mir selbst, mit allem. Meine Hände zitterten und mein Herz schlug zu schnell, es raste und setzte ab und zu aus und ich konnte meine Augen nicht zumachen, weil ich sonst nur noch Julia sah, wie sie sich an mich lehnte und weinte, als wir zum Auto zurückgingen.
»Ist wohl das erste Mal, dass du ausgegangen bist, seit Julia …«
»Ja«, sagte ich und stand auf. Ich wollte mich nicht rühren, wollte nicht ins Foyer zurück, aber ich wollte auch nicht über mich und Julia reden.
»Tut mir leid wegen vorhin«, sagte Patrick. »Ich meine, dass ich mit Mel aufgekreuzt bin und das alles. Es war … na ja, du weißt schon.«
Ich wusste gar nichts, aber ich nickte.
Eine Weile schwiegen wir, dann sagte Patrick unvermutet: »Es war auf dem Rummelplatz, weißt du, gleich dort unten an der Straße.« Seine Stimme klang komisch, dünn und brüchig. Vielleicht war er high oder so. Absurderweise hatte dieser Gedanke etwas Tröstliches für mich. Zugedröhnte Typen sind pflegeleichter.
»Klar, ich weiß«, sagte ich, obwohl es nicht stimmte.
Patrick warf mir einen Blick zu.
»Nein, weißt du nicht«, sagte er und er war kein bisschen high. Ich sah es an seinen Augen, die hell und klar und schmerzerfüllt waren, und plötzlich erinnerte ich mich an den Rummelplatz. Ich erinnerte mich, wie der Jahrmarkt in die Stadt kam und auf dem Parkplatz eines verlassenen Großmarkts aufgebaut wurde. Und jetzt wusste ich auch wieder, was dort passiert war.
Kein Wunder, dass Patrick aus dem Film geflüchtet war.
»Wie geht’s deinem Dad?«, fragte ich.
Patrick zuckte die Schultern. »Immer gleich.« Vor zwei Jahren, als Patrick gerade in die Stadt gezogen war – der neue Shootingstar der Schule, hochbegabt und trotzdem ein super Sportler, vor dem selbst die Jocks aus den oberen Klassen Respekt hatten –, war sein Dad fast an einem Schlaganfall gestorben, mitten auf dem Rummelplatz. Ich hatte das alles vergessen.
»Die Leute vergessen so schnell«, sagte Patrick, als hätte er meine Gedanken erraten. »Kapieren einfach nicht, wie schlimm es für dich ist, dass dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde. Anfangs sind sie noch verständnisvoll, reden mit dir und sagen dir, wie leid es ihnen tut und so, aber nach ’ner Weile hast du das Gefühl, dass du der Einzige bist, der sich noch daran erinnert. Das wirst du auch noch merken. Die Leute vergessen, was mit Julia passiert ist. Und sie vergessen Julia.«
»Ich nicht.«
»Nein«, sagte er. »Du nicht. Selbst wenn du es wolltest, wenn du vergessen wolltest, erinnerst du dich. Immer. Ich seh jetzt noch das Gesicht von meinem Dad vor mir. Er war sauer, weil der Eintritt so teuer war, und hat sich fürchterlich drüber aufgeregt. Alle haben uns schon angestarrt. Ich hab nicht hingehört, ich wollte nur weg, zu meinen Kumpeln, und plötzlich … hat er mich so angeschaut. So ein komischer Blick, als würde er mich gar nicht erkennen, als wüsste er überhaupt nichts mehr, und dann … dann lag er auf dem Boden …« Patrick verstummte. Sein Blick war starr und fern, als sei er wieder dort, auf dem Rummelplatz, gefangen in diesem schrecklichen Moment. Ich weiß, wie sich das anfühlt.
»Der Film hat dich daran erinnert, stimmt’s?«
Patrick lachte und ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen, weil es kein fröhliches Lachen war. Sondern mehr wie ein Aufschrei, der reine Schmerz.
»Was denkst du denn? Alles erinnert mich dran. Ich weiß, das ist dumm. Dad ist nicht tot. Er lebt noch, er kommt irgendwie klar, er lernt wieder gehen und alles, ich hatte also verdammtes Glück. Ich dürfte nicht so … Es ist nicht richtig, dass ich hier draußen sitze und mich verstecke. Ich müsste okay sein.«
»Ich hab nicht gesagt …«
»Musst du auch nicht. Es ist die Wahrheit.« Patrick schlang wieder die Arme um seine Beine. »Fehlt dir das auch so? Ich meine, sehnst du dich auch nach früher, nach dem Menschen, der du mal warst, bevor Julia gestorben ist?«
»Ich … nein.« Aber er hatte recht, es war so. Ich dachte immer, ich hätte ein schweres Leben, aber das hat nicht gestimmt. Wie gut es mir in Wahrheit ging, das begriff ich erst, als es zu spät war.
Patrick sah mich wieder an. Er schwieg, aber ich konnte alles in seinen Augen lesen. Sein Blick sagte mir ohne Worte, dass ich eine Lügnerin war. Laurie wäre hingerissen von ihm.
»Und selbst wenn, was würde das ändern?«, sagte ich scharf. »Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen.«
»Würdest du das wollen, wenn du es könntest? Die Zeit zurückdrehen und irgendwas dran drehen, dass Julia noch am Leben wäre …«
»Das … so kann man das nicht sehen. So was sollst du … darfst du nicht mal denken.« Ich stand zitternd da. »Ich denke jedenfalls nicht so.«
»Amy?«
Das war Dad. Ich blickte über die Schulter und sah ihn ein paar Meter entfernt auf dem erleuchteten Teil des Gehsteigs stehen. Er wirkte sehr besorgt.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Sein Gesicht entspannte sich ein bisschen und ich wusste, in einem hatte Patrick recht: Alle brauchten irgendwie das Gefühl, dass ich okay war.
»Du hast recht«, sagte Patrick, als ich wegging. Er redete leise, aber ich hörte ihn. »Es gibt kein Zurück. Auch wenn man es noch so gern hätte, das geht nicht.«
Ich gab keine Antwort und schaute nicht zurück. Ich ging zu Dad hinüber und folgte ihm zum Auto. Als ich einstieg, hantierte ich am Radio herum, damit ich etwas zu tun hatte. Damit ich mich fangen konnte. Patrick, das ist nichts, erzählte ich Dad, als er mich danach fragte, nur ein Typ aus meiner Klasse, der was über die Hausaufgaben wissen wollte. Dann fragte Dad, ob alles in Ordnung sei, und ich versicherte ihm: »Ja, mir geht’s gut. Ich bin nur noch nicht so weit, dass ich wieder ausgehen will.« Und als er noch mal nachhakte: »Ehrlich, Dad, ich würde es dir sagen, wenn was wäre, versprochen.«
Beim Wegfahren konnte ich Patrick im Seitenspiegel sehen. Er schaute mir nach. Er war nur ein Schatten, aber ich sah ihn.