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Außerhalb von Madison West 5 nahm Lobsang – besser gesagt eine mobile Einheit Lobsangs, also eine seiner Inkarnationen – in einer unscheinbaren Werkstatt, die einer hundertprozentigen Tochter der Black Corporation gehörte, an der Harley von Schwester Agnes eine komplette Wartung vor. Es sah sehr überzeugend aus, wie er da so vor sich hin schraubte, mit aufgerollten Ärmeln, ölverschmierten Händen, schmutziger Stirn und in seinem schmuddeligen alten Overall, obwohl er Agnes dabei einen ziemlich weitschweifigen Vortrag über den Zustand der Welten hielt.

Agnes, die sich gegen die beißende Winterkälte Wisconsins dick eingemummelt hatte, hörte gar nicht richtig zu und war zufrieden damit, dass sie danebensitzen, zuschauen und ansonsten ihren eigenen Gedanken nachhängen konnte. Es war Januar 2045, über vier Jahre nach dem Ausbruch des Yellowstone. Auch wenn sie noch nicht vollends genesen waren, stabilisierten sich die Welten der Menschen allmählich, was Agnes und vielen anderen Zeit zum Ausruhen verschaffte. Außerdem verschafften ihr Augenblicke wie dieser die Gelegenheit, sich wieder an ihr Ich zu gewöhnen. Daran, wieder sie selbst zu sein, sieben Jahre nach ihrer merkwürdigen Wiedergeburt. In letzter Zeit dachte sie kaum noch an ihren Taufnamen. Solange sie sich erinnern konnte, war sie immer »Schwester Agnes« gewesen, und jetzt, in diesem Moment, war sie sicher, dass sie immer noch Schwester Agnes war.

Nicht, dass sie oft von theologischen Zweifeln gequält wurde. Schwester Agnes hatte kaum einen Grund, sich über ihre neue, von Lobsang entworfene Erscheinung zu beschweren, darüber, sich in diesem wunderbaren künstlichen Körper wieder rasch und geschmeidig bewegen zu können. In einem Körper, in den ihre Erinnerungen heruntergeladen worden waren. Natürlich kam es einem ordentlichen katholischen Mädchen ein wenig befremdlich vor, überhaupt so etwas wie eine Wiedergeburt durchgemacht zu haben, denn in der orthodoxen Theologie war dafür kein Platz. Andererseits hatte sie sich immer an die alten Maxime gehalten, dass Gutes tun immer dann am besten funktionierte, wenn man das, was man direkt vor sich sah, mutig anpackte und derlei Zweifel beherzt beiseiteschob. Vielleicht hielt Gott in dieser neuen, durch den technischen Fortschritt ermöglichten Gestalt eine neue Aufgabe für sie bereit. Warum sollte er sich nicht solcher Werkzeuge bedienen? Schließlich war es eindeutig besser, gesund und am Leben zu sein als tot.

Aber was sollte man derweil von Lobsang halten? In dieser zeitlich begrenzten Welt war er so etwas wie eine praktische Vision Gottes, ein Gott der Technologie, der sich in immer komplexeren Kopien seiner selbst fortsetzte, ein Wesen, dessen Bewusstsein sich überall in der elektronischen Welt aufhalten konnte, das sich sogar aufteilen konnte, um an mehreren Orten zugleich zu sein. Ein Wesen, das sich seiner selbst so bewusst war, wie es einem einfachen Menschen nie gelingen würde. Agnes gefiel das Wort »erfassen«. Es war ein gutes Wort, das für sie bedeutete, etwas vollkommen zu verstehen. Und es kam ihr durchaus so vor, als versuchte Lobsang die ganze Welt zu erfassen, das ganze Universum, ja, dass er sogar versuchte, die Rolle der Menschheit in diesem Universum zu verstehen.

Trotz allem schien Lobsang dabei geistig völlig gesund zu sein, sogar ganz grässlich gesund. Er war so zurechnungsfähig, dass es manchmal wehtat! Was seinen Charakter anging, hatte Lobsang wirklich ganze Arbeit geleistet, besonders wenn man bedachte, dass er mit seinen enormen Fähigkeiten sehr viel Unheil anrichten könnte, falls er das wollte. Und soweit sie es beurteilen konnte, besaß er – ungeachtet dessen, was ein Theologe dazu sagen würde – auch eine Seele oder zumindest eine nahezu perfekte Imitation davon. Wenn er ein Gott war, dann war er ein wohlwollender Gott.

Andererseits musste Agnes zugeben, dass Lobsang mit Jehova zumindest ein paar Eigenschaften gemeinsam hatte: Beide waren männlich und sehr von sich eingenommen. Lobsang liebte Publikum. Er war zweifellos klug, sehr klug sogar, aber er stellte seine Klugheit gerne zur Schau. Deshalb suchte er sich Helfer und Verbündete, Leute wie Joshua Valienté, wie Agnes, denn er wollte sehen, wie sein Licht ihre staunenden Gesichter erleuchtete.

Trotzdem war diese neue Epoche nach dem Vulkanausbruch auch für Lobsang nicht ganz einfach. Natürlich nicht körperlich, im Gegensatz zu den hungernden und entwurzelten Menschen, aber auf eine andere, unterschwelligere Weise. Vielleicht konnte man es spirituell nennen.

Der Grund dafür war Agnes nicht genau bekannt. Gut möglich, dass er sich Vorwürfe machte, weil er die Yellowstone-Katastrophe nicht hatte verhindern können. Selbst Lobsang konnte Yellowstone nur durch die Augen der Geologen sehen, und die waren von diesen seltsamen Störungen in den wechselwärtigen Kopien von Yellowstone, quer durch mehrere Nahe Erden, abgelenkt gewesen. Störungen, die im Vergleich zum Ausbruch auf der Datum nur geringe Auswirkungen gehabt hatten. Aber das milderte wohl nicht das Schuldgefühl von jemandem, der sich als so etwas wie den Hirten der Menschheit sah oder als Mittelsmann, der »das erledigt, was Gott nicht mehr geschafft hat«, wie er sich ihr gegenüber einmal ausgedrückt hatte.

Vielleicht lag es auch daran, dass die Katastrophe, die über die Datum-Erde und insbesondere über Datum-Amerika hereingebrochen war, zwangsläufig ein Loch in die Infrastruktur der auf Gel basierenden Speicher, Glasfasernetzwerke und Satellitenverbindungen gerissen hatte, die Lobsangs Existenz überhaupt möglich machten.

Vielleicht wurde auch Lobsang selbst älter, auf seine Art. Schließlich wusste niemand, was mit einer künstlichen Intelligenz geschah, wenn sie alterte, wenn ihr Trägermaterial sich in viele Schichten aus zunehmend veralteten Technologien verwandelte, sowohl was die Hardware als auch die Software anging – wenn sie »zuwuchs wie ein Korallenriff«, wie es Lobsang einmal ausgedrückt hatte –, und die eigene innere Komplexität sich immer mehr verhedderte. Ein derartiges Experiment hatte noch niemand durchgeführt.

Kein Wunder also, dass Lobsang manchmal fast so ziellos umherwanderte wie ein verwirrter und enttäuschter alter Mann. Aber Agnes kannte sich mit verwirrten und enttäuschten alten Männern aus; unter den Kirchenoberen gab es mehr als genug davon.

Vielleicht war sie aus genau diesem Grund da. Lobsang hatte sie aus dem Grab zurückgeholt, damit sie als seine Gegenspielerin seinen übersteigerten Ehrgeiz ausbalancierte. Ja, früher einmal hätte sie sich zweifellos als seine Gegenspielerin betrachtet, obwohl ihre Rolle von Anfang an eine grundsätzlich konstruktive gewesen war. Inzwischen war sie … ja, was eigentlich? Eine Freundin? Das gewiss, aber auch seine Vertraute und sein moralischer Kompass, wobei sich Letzteres recht schwierig gestaltete, da ihr eigener Kompass dazu neigte, sich wie ein Wetterhahn in einem Wirbelsturm zu drehen.

Wie war es überhaupt möglich, zu einem derartigen Wesen eine Beziehung aufzubauen? Das wusste sie selbst nicht so genau, aber es schien ihr irgendwie zu gelingen. Sie besaß ein hohes Maß an Selbstvertrauen. Sie war belastbar. Sie konnte dagegenhalten. Schon seit jeher.

»Überleg doch mal«, sagte er jetzt, »die Menschen sind zum Mond geflogen, eine unbestritten glanzvolle Leistung. Welchem anderen Wesen ist es gelungen, den Planeten zu verlassen? Aber was hat Homo sapiens danach gemacht? Er ist wieder zurückgekommen! Hat ein paar Kisten voller Steine mitgebracht und das überhebliche Gefühl, der Herr des Universums zu sein …«

»Ja, mein Guter«, sagte sie automatisch.

»Man könnte ohne Weiteres sagen, dass solch eine Spezies es verdient hat, von einer besseren Rasse ersetzt zu werden.«

»Wenn du meinst.«

»So, bin gleich fertig. Dort in der Kanne ist Tee. Earl Grey oder Lady Grey? … Worüber lachst du jetzt?«

Agnes versuchte, ernst auszusehen. »Über dich. Und den nahtlosen Übergang von der notwendigen Auslöschung der Menschheit zu der höflichen Frage, ob ich etwas so Normales und Erfreuliches wie eine Tasse Tee haben möchte! Hör mal, ich verstehe alles, was du da gesagt hast. Die Menschen sind ziemlich oberflächlich. Die meisten Menschen haben erst nach der Reise zum Mond verstanden, was die Erde überhaupt ist: rund, endlich, kostbar und in Gefahr. Wir kriegen es nicht auf die Reihe, uns zu organisieren. Aber hat die Menschheit nicht nach und nach immer mehr gesunden Menschenverstand bewiesen, auch wenn es schon etwas spät dafür war? Sieh dir an, wie gut wir mit der Katastrophe von Yellowstone klargekommen sind. Finde ich jedenfalls.«

»Hm. Kann schon sein. Obwohl ich mittlerweile ein paar Hinweise dafür entdeckt habe, dass wir dabei womöglich ein wenig Hilfe hatten …«

Sie ging nicht näher darauf ein. »Ach, tu nicht so geheimnisvoll, Lobsang. Das nervt. Ich glaube nicht, dass wir uns nicht ändern können. Wir können uns immer ändern und an unseren Aufgaben wachsen. Glaub mir, ich habe so manches schwierige Kind erlebt, aus dem ein großartiger Erwachsener wurde. Ein jeder von uns steckt voller Möglichkeiten. Und ehrlich gesagt, bei dem ganzen Unsinn, den du ständig von dir gibst, dass wir dazu verdammt wären, ersetzt zu werden … bis jetzt habe ich noch kein neues Modell entdecken können. Was passiert eigentlich, wenn sie auftauchen? Sollten wir auf das Geräusch marschierender Knobelbecher lauschen?«

»Meine liebe Agnes, ich weiß, dass du gerne übertreibst, was der Sache nur selten dienlich ist. Nein, keine Knobelbecher, sondern etwas … Nützlicheres. Tja, wie ich bereits so geheimnisvoll angedeutet habe … stell dir etwas Subtileres vor – langsam und vorsichtig und hinterhältig, aber nicht unbedingt schlecht, aber natürlich besser organisiert, als es der Homo sapiens jemals hinkriegen würde …«

Seine Stimme wurde immer leiser, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als lauschte er einem sehr fernen Ruf.

Daran musste man sich gewöhnen. Er hatte ihr alles über Parallelverarbeitung erzählt, ein Konzept, von dem sie vor ihrer Auferstehung noch nie gehört hatte. Es bedeutete, dass man mehr als eine Aufgabe gleichzeitig erledigte oder eine große Aufgabe in mehrere kleine aufteilte, die dann simultan bearbeitet wurden. Das alles hatte sie nicht sonderlich beeindruckt. Schließlich hatte sie so etwas ihr ganzes Leben lang gemacht, hatte darüber nachgedacht, was sie zum Abendessen machen sollte, während sie mehreren Kindern die Nase putzte, verstörten Kindern beibrachte, wie man ein Gespräch führte und dabei einen weiteren wütenden Brief an den Bischof aufsetzte, wobei sie gelegentlich noch ein Gebet sprach. Wer musste nicht an jedem einzelnen Tag eines ausgefüllten Lebens auf diese Weise arbeiten?

Zumindest versetzte es sie in die Lage, seine geistigen Abwesenheiten zu verstehen. Schließlich lenkte er, wie er manchmal sagte, das Narrativ der Welt.

Nach einiger Zeit war Lobsang wieder da. Er erklärte nicht, was ihn abgelenkt hatte, und Agnes fragte ihn nicht danach.

Er stand auf, streckte sich und wischte sich die Hände sauber. »Fertig. Vorläufig jedenfalls. Du weißt, dass ich aus diesem Motorrad das sicherste auf der ganzen Welt machen könnte. Kein Wegrutschen mehr, keine sonstigen Gefährdungen … Was meinst du?«

Agnes dachte kurz darüber nach, ehe sie antwortete: »Ich bezweifle nicht, dass du das kannst, Lobsang. Und ich bin sehr beeindruckt, wirklich. Und berührt. Aber so ein Motorrad wie meine Harley will einfach nicht absolut sicher sein. Eine solche Maschine entwickelt so etwas, was man nur als Seele bezeichnen kann, findest du nicht auch? Und man muss dieser Seele die Möglichkeit geben, sich auszudrücken, und sie nicht behindern. Heiß soll das Metall sein, der Motor hungrig …«

Lobsang zuckte mit den Achseln. »Tja, da hast du deine Maschine, inklusive hungrigem Motor. Bitte fahr vorsichtig. Aber das ist in deinem Fall, Agnes, eher ein frommer Wunsch als eine aufrichtige Erwartung.«

Also rollte sie die Harley vorsichtig aus der kleinen Werkstatt und lenkte das Motorrad durch den immer noch spärlichen Feierabendverkehr auf dieser Wechselwelt, bis sie eine Landstraße erreicht hatte, wo sie den Motor spielen lassen konnte. Der Wind wehte kräftig, aber sobald man den sich immer weiter in die Landschaft fressenden Industriegürtel dieser jungen Stadt – hochmoderne Versionen von Blakes »düsteren satanischen Fabriken«, die zum Großteil hinter Plakatwänden und Reklametafeln verborgen waren – hinter sich gelassen hatte, befand man sich in einer besseren Welt mit sauberer Luft und weniger melancholischen Gedanken. Zum Brüllen und Blubbern der Harley sang sie Lieder von Joni Mitchell, folgte kleinen Straßen, die sich wie schwarze Streifen bis zu den überfrorenen Seen von Madison West 5 durch die Schneewehen schlängelten.

Als sie zurückkam, berichtete ihr Lobsang, dass Joshua Valienté nach Hause zurückgekehrt war. »Ich muss ihn unbedingt sehen«, sagte Lobsang eindringlich.

Agnes seufzte. »Lobsang, du weißt genau, dass Joshua womöglich nicht so scharf darauf ist, dich wiederzusehen …«