33
Nachdem die Polizisten, die Paul Spencer Wagoner und seine Gefährten festgenommen hatten, Joshua Valienté freigelassen hatten, erzählte er Lobsang, was passiert war.
Und Lobsang bat einen anderen seiner Freunde um Hilfe.
Nelson Azikiwe, der wieder einmal für David Blessed eingesprungen war, in einer Kopie seiner früheren englischen Gemeinde in der Nahen Erde, ermittelte rasch, dass Paul Spencer Wagoner und seine Leute aus Madison nicht die einzigen Next-Jugendlichen waren, die bei dieser nicht angekündigten Blitzaktion von Polizei, Militär und Heimatschutz aufgegriffen worden waren: Die koordinierte Aktion hatte die gesamte US-Ägide der Langen Erde umspannt. Im Mai 2045 brachte man Paul und ein paar andere dann in Pearl Harbour, dem alten Kriegshafen auf der hawaiianischen Datum-Insel Oahu, in einer Einrichtung unter.
Eigenartigerweise wunderte sich Nelson nicht sonderlich über die Existenz der Next. Schließlich hatte Lobsang schon seit vielen Jahren das Auftauchen solcher Wesen vorausgeahnt, er und Nelson hatten das Thema groß und breit diskutiert. Einmal sogar, vor fünf Jahren, an Bord eines Twain, das über einer lebenden Insel schwebte, siebenhunderttausend Schritte westlich von der Datum.
»Die Menschheit muss sich weiterentwickeln«, hatte Lobsang damals gesagt. »Das liegt in der Logik unseres endlichen Kosmos. Letztendlich müssen wir uns aufraffen und uns seinen Herausforderungen stellen, wenn wir nicht an ihnen zugrunde gehen wollen. Sie sehen das auch. Aber trotz der Langen Erde machen wir keinerlei Fortschritte, wir werden in dieser gemütlichen Wiege bloß immer zahlreicher. In erster Linie deshalb, weil wir keine Vorstellung davon haben, was wir mit dem vielen Platz anfangen sollen. Vielleicht werden bald andere kommen, die sehr wohl wissen, was man damit tun kann.«
»Andere? Sie glauben also, die Logik des Universums besteht darin, dass wir uns über unseren gegenwärtigen Zustand hinaus entwickeln müssen, um zu derlei gewaltigen Entwürfen fähig zu sein. Im Ernst? Glauben Sie wirklich, dass wir schon bald mit einer mutigen neuen Spezies rechnen können?«
»Wäre es nicht möglich? Zumindest logisch?«
Nelson erinnerte sich noch sehr gut an die Unterhaltungen mit Lobsang auf dieser lebenden Insel. Dort war Nelson einer Frau begegnet, die eine rote Blume im Haar trug, einer Frau namens Cassie, mit der er ein sensationelles Liebeserlebnis hatte – nur ein einziges Mal, aber das hatte gereicht. Es war einer der lebendigsten Momente seines Lebens gewesen und einer der unvorsichtigsten, wenn man bedachte, dass keiner von ihnen irgendwelche Verhütungsmaßnahmen getroffen hatte. Er fragte sich oft, wie es Cassie wohl gehen mochte, und schalt sich einen Feigling, weil er nicht wieder zu ihr ging. Immer wieder nahm er sich fest vor, es endlich zu tun – sobald diese neueste Krise vorüber war. Aber es gab immer wieder eine nächste Krise und noch eine, und nie war die rechte Zeit dafür …
Schon damals hatte Lobsang gewusst, dass sie kommen würde, diese Rasse von Übermenschen. Selbstverständlich hatte er es gewusst. Lobsang stand mit den tieferen Strömungen der ganzen Welt in Verbindung – mit allen Welten der Langen Erde. Und so hatte es wohl geschehen müssen. Allerdings hatte sich Homo superior letztendlich als ein Haufen verstreut lebender Kinder erwiesen, die Nelsons Hilfe bedurften, wie Lobsang sagte.
Na schön.
Nelson stellte fest, dass der Inselstaat Hawaii von den Auswirkungen des Yellowstone-Ausbruchs weitgehend verschont geblieben war.
Diese spezielle Einrichtung der Flotte war in einen alten, bombensicheren Bunker unweit der Basis hineingebaut. Obwohl die Pazifikflotte sich den Standort inzwischen mit der Luftwaffe teilen musste, war er immer noch ihr Hauptquartier und diente außerdem als Basis des Militäroberkommandos unter Admiral Hiram Davidson. Als Nelson Azikiwe sich dem im grellen pazifischen Sonnenlicht sehr flach wirkenden Komplex aus der Luft näherte, kam ihm dieser von Militärs nur so wimmelnde Flottenstützpunkt mitsamt seinem unterirdischen, gegen Wechsler geschützten Bunker so sicher wie irgendetwas vor. Selbst wenn man von hier aus davonwechselte, befand man sich immer noch auf einer Kopie von Hawaii, einer Insel inmitten Tausender Meilen blauen Ozeans.
Mit anderen Worten: Es war ein sehr sicheres Gefängnis.
Nelson hatte ziemlich erfinderisch sein müssen, um sich eine Geschichte auszudenken, die ihm Zutritt zu dieser Anlage verschaffte. Er hatte behauptet, er biete den Gefangenen seine Dienste als Geistlicher an, wobei sein Hintergrund als Vikar der anglikanischen Kirche die Sache natürlich plausibler machte.
Auch sein Netzwerk von Online-Freunden, die sich als die Quizmaster bezeichneten, war beim Aufbau seiner Tarnung extrem hilfreich gewesen. Solche Aktionen waren genau ihre Kragenweite, wie es seine Gemeindemitglieder damals in St. John am Wasser ausgedrückt hätten. Natürlich waren seine Freunde im Allgemeinen so klug, dass einige von ihnen selbst zu den Next gepasst hätten. Andererseits gab es bei den Quizmastern auch stets eine Kehrseite. Nelson hatte festgestellt, dass er sich sehr anstrengen musste, sie von ihrer seit fünf Jahren herumgeisternden Obsession abzulenken, es habe sich bei Yellowstone um einen kriegerischen Akt gehandelt, der entweder von Feinden der US-Regierung angezettelt oder von Präsident Cowleys Regierung selbst für eigene Ziele in die Wege geleitet worden sei.
Die Militärtransportmaschine befand sich im Sinkflug. Nelson konzentrierte sich auf die unmittelbar vor ihm liegenden Aufgaben.
Sobald er das Flugzeug verlassen hatte, wurde Nelson im Freien durch einen kurzen Hitzeschwall geführt, der ihm jedes einzelne seiner dreiundfünfzig Jahre bewusst machte. Dann befand er sich in einem Vorzimmer mit Klimaanlage, Topfpflanzen und einer Empfangsdame hinter einem Schreibtisch: ein Zimmer voll pazifischem Licht. Abgesehen von den Abzeichen mehrerer Kommandoeinheiten an der Wand sah es aus wie im Wartezimmer eines etwas edleren Zahnarztes.
Eine Frau in den Vierzigern, ein weiblicher Offizier in einer schneidigen Marineuniform, kam herein und begrüßte ihn. »Reverend Azikiwe?«
»Nennen Sie mich Nelson. Ich bin nicht mehr im aktiven Dienst.«
Sie lächelte, strich sich eine Strähne ihres grau werdenden Blondhaars zurück und gab ihm die Hand. »Ich bin Louise Irwin. Leutnant. Ich bin für die Behandlung der Patienten hier verantwortlich. Wir haben ja schon miteinander korrespondiert, aber ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen.« Sie führte ihn aus dem Zimmer, nickte der Empfangsdame zu und öffnete die nächste Tür, indem sie eine Karte durch einen elektronischen Kartenleser zog. Dann gingen sie durch einen schmalen Gang mit einer abgehängten Decke aus Styroporplatten, die sehr nach Mitte 20. Jahrhundert aussah. »Wie war Ihr Flug? Diese Militärtransporte sind manchmal ein bisschen holprig. Das Zimmer, das wir Ihnen zugewiesen haben, befindet sich im Gebäude nebenan. Falls Sie etwas Zeit brauchen, um sich frisch zu machen …«
»Nein danke, alles bestens.«
»Sie wollen Ihre Schäfchen lieber sofort sehen, was? Eine sehr verständliche Einstellung. Man muss sie wirklich von Angesicht zu Angesicht erleben. Was natürlich auf die meisten Psychiatriepatienten zutrifft. Sie brauchen außerdem noch eine Sicherheitsfreigabe, aber jetzt kann ich Sie mit meiner Karte durchlassen.«
Sie kamen zu einem Fahrstuhl, der sich mit Irwins Karte öffnete und dann sanft, wenn auch recht langsam, nach unten glitt.
»Dann sind sie in Ihren Augen also Patienten?«, erkundigte sich Nelson. »Keine Gefangenen?«
»Na ja, das kommt natürlich durch meine Ausbildung. Ich bin Psychiaterin und dachte mir, dass mein Leben etwas mehr Aufregung vertragen könnte, also habe ich mich bei der Flotte gemeldet. Jetzt bin ich eine Psychiaterin, die viel unterwegs ist.« Sie lächelte wieder.
»Wir sind wohl alle Chamäleons und ändern unsere Meinungen und Pläne im Laufe unseres Lebens.«
»Wie auch Sie«, erwiderte sie und musterte ihn mit einem wissenden Blick, bei dem Nelson sich sofort ein wenig unwohl fühlte. »Ich habe selbstverständlich Ihre Akte gelesen. Jeder, der in diese Einrichtung eingelassen wird, braucht eine Biographie so lang wie mein Arm, und Sie haben sich mit ausgezeichneten persönlichen Referenzen empfohlen, um sich unseren Insassen als persönlicher Geistlicher anzubieten. Ein Junge aus einer südafrikanischen Township, der durch ein Stipendium der Black Corporation seine Chance erhielt, ein anerkannter Archäologe; ein Vikar der Kirche von England … Sie hatten schon viele Rollen.«
Nelson wusste über die »persönlichen Referenzen« Bescheid. Die Empfehlungen, die ihm hier Zutritt verschafft hatten, waren größtenteils von den Quizmastern zusammengestellt worden, gemeinsam mit Lobsang und einem Netzwerk von Kontakten hinter den Kulissen. Dazu gehörte auch Roberta Golding, wie er erstaunt erfahren hatte, die ziemlich glamouröse Mitarbeiterin des Weißen Hauses, von der ständig in den Nachrichten die Rede war. Sie hatte an den Insassen dieser Einrichtung besonderes Interesse gezeigt, aber Nelson hatte keine Ahnung, in welcher Verbindung sie zu ihnen stand. Andererseits war seine Akte, wie sie der US-Flotte vorlag, größtenteils echt. Wenn man schon log, war es immer am besten, auch möglichst viel Wahres zu erzählen. Außerdem hatte er tatsächlich vor, sich diesen inhaftierten Kindern so gut er konnte als Geistlicher anzubieten, bis es an der Zeit war, seine eigentlichen Absichten aufzudecken.
Der Aufzug kam zum Stehen, die Türen öffneten sich sanft. Dahinter lag ein Laufsteg aus Metallgittern, der über eine in einzelne Zellen aufgeteilte Grube führte.
Irwin ging auf dem Steg voran, und Nelson konnte dabei in eine Reihe von Einzelzimmern hinabschauen. Er sah buchstäblich hinein, denn diese Zimmer hatten ausnahmslos durchsichtige Decken, sogar die Badezimmer, obwohl sich Nelson vorstellte, dass sie durch irgendwelche technischen Tricks von unten her blickdicht waren. Die einzelnen Zimmer selbst sahen nicht besonders ungewöhnlich aus, eher wie kleine Hotelsuiten bestehend aus Schlafzimmer, einem Wohnzimmer mit Fernseher und Computerarbeitsplatz und anderen Gegenständen und eben einem kleinen Bad. Die Zimmer waren persönlich eingerichtet, mit Postern und Erinnerungsstücken, in den Schränken (alle ohne Türen) befand sich Kleidung, soweit sie nicht auf dem Fußboden aufgestapelt lag. Nelson kam sich vor, als blickte er in ein nicht ganz billiges Studentenwohnheim. Aber auf dem erhöhten Laufsteg patrouillierten schwerbewaffnete und mit Panzerwesten ausgerüstete Marines, deren Waffen auf die darunterliegenden Räume gerichtet waren.
In den meisten Zimmern war jeweils nur eine einzelne Person zu sehen. Alle Bewohner waren jung, im Alter von vielleicht fünf bis Anfang zwanzig, beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Ethnien zugehörig. Es gab Dicke, Dünne, Große und Kleine. Auf den ersten Blick sahen sie ganz normal aus. Einige hatten Gesellschaft, ein oder zwei Erwachsene, mit denen sie sich meist sehr leise unterhielten. Es gab einen Gemeinschaftsraum, in dem sich ein paar Insassen aufhielten, und ein Spielzimmer, in dem kleine Kinder mit allerlei Spielzeug beschäftigt waren. Sowohl das Spielzimmer als auch der Gemeinschaftsraum wurden von Erwachsenen überwacht, Männern und Frauen in Zivilkleidung. Ein Zimmer sah eher wie eine kleine Klinik aus. Dort wurden einem Mädchen gerade eine Blutprobe und ein Wangenabstrich zur DNA-Untersuchung abgenommen.
Nelson hatte Paul Spencer Wagoner, den Freund Joshua Valientés, rasch ausgemacht. Er saß allein in einem Zimmer und las auf einem Tablet.
Über Lobsang und Schwester Agnes war Nelson schließlich recht gut mit Valienté bekannt geworden. Er hatte Valientés Erkundungsreisen in die Lange Erde seit vielen Jahren studiert und vermutete in ihm einen weiteren Verbündeten Lobsangs in dessen langfristigem Spiel – wie weit es auch vorausgeplant sein mochte. Joshua hatte Nelson gebeten, besonders auf den jungen Wagoner zu achten, der in demselben Kinderheim, dem Heim von Schwester Agnes, gelandet war, in dem auch Joshua ein paar Jahrzehnte zuvor aufgewachsen war. Und nun saß Wagoner in diesem Militärkäfig.
»In der amerikanischen Ägide sind ein paar Hundert solcher Individuen bekannt«, sagte Leutnant Irwin jetzt, »aber wir suchen immer noch nach weiteren. Das hier ist die größte Gruppe, die wir beaufsichtigen. Es muss natürlich noch welche mit anderen Nationalitäten geben. Na, wie ist Ihr erster Eindruck?«
»Es ist ein Gefängnis. Eine sehr beeindruckende Einrichtung. Aber es ist ein Gefängnis.«
Sie nickte. »Wir nehmen uns vor ihnen in Acht. Wir wissen nicht, wozu sie fähig sind …«
»Sie sitzen in Glaskäfigen, wie Laborratten. Sie werden rund um die Uhr von bewaffneten Aufsehern bewacht. Sie haben es mit Kindern und Teenagern zu tun. Können Sie ihnen wirklich keine Privatsphäre lassen?«
»Wir gehen nach den vorgeschriebenen Sicherheitsprotokollen vor. Wir versuchen, ihre Umgebung so weit wie möglich normal zu gestalten. Auch wenn Sie sich gegen diese Einschränkungen sträuben, Nelson, weil Sie glauben, es handelt sich um ganz normale Jugendliche, gewöhnliche junge Amerikaner – das sind sie nicht. Das werden Sie bei jedem Kontakt mit ihnen feststellen. Sie unterscheiden sich deutlich von uns, wirklich. Sie nennen sich die Next. Natürlich sind es junge Menschen, aber sie haben ziemlich viel Geld im Rücken, zumindest einige von ihnen. Ein paar Eltern verfügen auch über die Möglichkeiten, das hier anzufechten. Die Flotte muss sich gegen heftige Angriffe raffinierter Anwälte wehren.«
»Hm. Raffinierte Anwälte, die sich wahrscheinlich für solche Nebensächlichkeiten wie die verfassungsmäßigen Rechte dieser Jugendlichen einsetzen. Amerikanische Bürger, die eingesammelt und ohne ordentliches Gerichtsverfahren einfach eingesperrt werden. Sind auch ein paar andere Nationalitäten darunter?«
Sie hob eine Augenbraue. »Ich freue mich schon darauf, solche Themen mit Ihnen zu diskutieren, Nelson. Aber ich würde sagen, dass Sie an dieser Stelle vorschnell urteilen. Und vergessen Sie nicht, ich bin Flottenoffizier. Sinn und Zweck dieser Einrichtung ist es, die nationale Sicherheit zu gewährleisten.«
»Mir kommen diese jungen Leute nicht wie eine große Bedrohung der nationalen Sicherheit vor.«
Sie nickte. »Genau das sollen wir hier überprüfen. Von der Disziplin und der Überwachung her machen sie uns im Allgemeinen keinen Ärger. Die meisten gewöhnen sich rasch an die Einschränkungen, vermutlich, weil viele von ihnen als Jugendliche oder junge Erwachsene in Kinderheimen, Pflegefamilien oder sogar schon im Gefängnis waren. Sie waren institutionalisiert und sind von daher an Einschränkungen gewöhnt. Das sagt so einiges darüber aus, wie unsere Gesellschaft mit diesen Menschen umgeht, was? Und wenn sie Ärger machen, werden sie aus diesem Teil der Einrichtung entfernt.«
»Wo kommen sie dann hin? In eine Strafabteilung?«
»In eine spezialtherapeutische Einrichtung.« Sie musterte ihn. »Sie benutzen wertende Sprache. Sie müssen unvoreingenommen bleiben, Nelson, bis Sie diese Menschen näher kennengelernt haben. Sie sind ungewöhnlich scharfsinnig – sehr wach, herrschsüchtig, manipulativ. Im persönlichen Gespräch, von Angesicht zu Angesicht, können sie sehr schwierig sein. Aber wenn sie zusammenkommen, dann … dann heben sie wirklich ab. Ihre Sprache ist unglaublich, sie basiert zwar auf dem Englischen, ist aber superschnell und sehr verdichtet. Wir lassen sie so gut es geht von Linguisten analysieren. Was sie auch miteinander besprechen, wir können zumindest das Ausmaß der schieren Komplexität ihrer Unterhaltung ermessen. Und die liegt weit jenseits der Norm. Ich habe mir die Mitschrift einer Diskussion zeigen lassen, die von einem Mädchen namens Indra ausgelöst wurde; da gab es einen Satz, der sich über vier Seiten erstreckte. Und das ist noch eines der einfacheren Beispiele. Oft wissen wir nicht mal, worüber sie sich überhaupt unterhalten …«
»Vielleicht Konzepte jenseits des menschlichen Verstandes«, erwiderte Nelson. »So unvorstellbar für unsereinen wie die Heilige Dreifaltigkeit für einen Schimpansen. Wenn diese Kids wirklich schon mit diesen superleistungsfähigen Gehirnen zur Welt gekommen sind, sind sie wohl sehr schnell an die Grenzen unserer einfachen menschlichen Kultur gestoßen.« Er lächelte. »Wie herrlich es sein muss, wenn sie uneingeschränkt miteinander reden können. Wie viel sie ständig entdecken und erfahren, weit jenseits der Vorstellungskraft eines jeden Menschen, der bisher gelebt hat.«
Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Wissen Sie, ich glaube, Sie sind ein guter Geistlicher. Aber ich will Ihnen noch etwas Erstaunlicheres erzählen. Etwas, was sogar noch abartiger ist. Wir haben ein paar Minderjährige hier, und wir beobachten auch noch jüngere Kandidaten, sogar Babys, die noch bei ihren Familien wohnen. Bevor sie ungefähr zwei Jahre alt sind, versuchen diese Kinder zu reden wie … na ja, wie Menschenbabys eben. Sie plappern Sachen heraus, die uns völlig unverständlich sind und die auch die Älteren von ihnen größtenteils nicht verstehen können – aber manches eben doch. Auch das haben Linguisten untersucht. Ich habe mir sagen lassen, dass es so ist, als untersuchte man die Struktur von Delphingesängen. Dieses Babygeplapper sind Sprachen, Nelson. Das bedeutet, dass es tatsächlich linguistischen Gehalt besitzt. Wenn wir auf die Welt kommen, verfügen wir über die Fähigkeit zu sprechen, aber die Sprache selbst müssen wir erst von denjenigen lernen, die um uns sind. »Nächste« Babys, die versuchen, sich auszudrücken, erfinden ihre eigene Sprache, unabhängig von der Kultur, die sie umgibt, Wort für Wort, eine grammatische Regel nach der anderen. Die Sprache der anderen schnappen sie erst später auf. Noch bemerkenswerter ist, dass die anderen Next einige der Erfindungen der Kleinkinder in ihre eigene, gemeinsame post-englische Sprache übernehmen. Hier entsteht eine völlig neue Sprache, die mit rasender Geschwindigkeit mutiert, und zwar direkt vor unseren Augen.«
»Wann lassen Sie es zu? Wann dürfen sie überhaupt miteinander sprechen?«
Sie wich dieser Frage aus. »Es ist wichtig, dass Sie verstehen, womit wir es hier zu tun haben, Nelson. Diese Kinder repräsentieren eine andere Qualität, einen Entwicklungssprung. Etwas völlig Neues.«
»Aha. Trotzdem sind es Kinder. Die sich in Ihrer Obhut befinden.«
»Ganz recht.«
»Ich glaube, ich sollte mir jetzt mein Zimmer ansehen. Und ich könnte mir vorstellen, dass es hochrangige Offiziere gibt, denen ich vorgestellt werden soll.«
»Ich fürchte ja. Außerdem müssen Sie die Sicherheitsprüfung durchlaufen.«
»Anschließend möchte ich mit einigen Insassen reden. Zunächst immer nur mit einem.«
»Klar. Irgendwelche Präferenzen, mit wem Sie zuerst reden wollen?«
Nelson zögerte kurz und zeigte dann wie zufällig auf Paul Spencer Wagoner. »Mit ihm.«
Nelson durfte mit dem Neunzehnjährigen nicht nur in seinem Zimmer reden, er wurde sogar dazu ermutigt.
Nelson wusste zwar, dass sich damit auch die Sicherheitsvorschriften einfacher einhalten ließen, aber was die Psychologie anging, war er sich nicht so sicher. Als er neunzehn, zwanzig war, hatte er kein eigenes Zimmer gehabt, aber er war ziemlich sicher, dass er es in diesem Falle als Zumutung empfunden hätte, wenn ein Fremder einfach so hereinspaziert wäre, um mit ihm über Gott zu reden. Aber das war nun mal die Bedingung für die Begegnung, und Nelson wollte das Beste daraus machen.
Im Vergleich zu dem, was Nelson bei anderen gesehen hatte oder, besser gesagt, von oben hatte sehen können, bot Pauls Zimmer nur sehr wenig an persönlicher Ausstattung. Poster an der Wand: das Bild einer Galaxis, exotische wilde Tiere aus der Langen Erde, ein Sänger, den Nelson nicht kannte. Auf dem Schreibtisch: ein Telefon, ein Tablet, ein Fernseher, obwohl Nelson inzwischen erfahren hatte, dass man mit diesen Geräten nur bestimmte und streng kontrollierte Verbindungen herstellen konnte.
Paul selbst war schlank und dunkelhaarig und trug einen schwarzen Overall. Alle Insassen mussten Overalls tragen, aber zumindest durfte man sich die Farbe aussuchen, und nur die Allerwiderspenstigsten wählten Guantanamo-Orange. Allem Anschein nach gehörte Paul nicht zu ihnen. Er saß einfach auf der Bettkante, hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und die Beine im Schneidersitz angewinkelt, dazu trug er einen nichtssagenden Gesichtsausdruck zur Schau. Die klassische Pose des trotzigen Teenagers.
Nelson nahm ihm gegenüber auf einem Stuhl Platz. »Du hast dir bestimmt nichts von dem ganzen Kram hier ausgesucht«, sagte er als Gesprächseröffnung. »Die Poster und das alles. Ist wohl eher das, was sich ein älterer Flottenoffizier unter einem Zimmer für jemanden deines Alters vorstellt, stimmt’s?«
Paul erwiderte seinen Blick, antwortete aber nichts.
Nelson nickte. »Leutnant Irwin, die mir hier alles gezeigt hat, hat mir so einiges über dich und deine Kollegen erzählt.«
Paul schnaubte verächtlich, sprach aber zum ersten Mal: »Kollegen?«
»Aber das Wort, das sie am allermeisten und meiner Meinung nach viel zu oft verwendet hat, war institutionalisiert. Und darauf ziehst du dich jetzt zurück, stimmt’s? Das leere Starren, das Schweigen. Die alten Tricks, die du dir angeeignet hast, um in der einen oder anderen Institution zu überleben. Das ist schon in Ordnung. Aber du hast Glück gehabt, weißt du das? Ich kann dir verraten, dass es wesentlich miesere Einrichtungen gibt, in die man geraten kann, als die, die du damals erwischt hast. Ich meine das Heim in Madison West 5.«
Paul zuckte die Achseln. »Ach, die Nonnen.«
»Genau. Und Joshua Valienté. Er ist ein Freund von mir. Ich soll dich von ihm grüßen.« Nelson sah Paul genau an und versuchte, ihm ein unterschwelliges Signal zu senden. Du bist nicht allein. Joshua hat dich nicht vergessen. Deshalb bin ich eigentlich hier …«
Paul lächelte nur. »Der gute alte Onkel Joshua. Der magische Wechsel-Junge. Vielleicht sollte er in so einem Käfig sitzen. Ist nicht er der Vorläufer einer neuen Menschenrasse?«
»Tja, ehrlich gesagt, gibt es da ein paar Gemeinsamkeiten. Diese Menschheitsliga, die Präsident Cowley an die Macht gebracht hat, ist der Angst vor Wechslern entsprungen.«
»Weiß ich. Diese Irren haben deshalb Madison in die Luft gesprengt. Das Nest der Wechsel-Mutanten.« Er bildete mit den Händen eine Explosion nach. »Ka-wumm!«
»Kannst du nachvollziehen, dass Leute so empfinden? Euch gegenüber, meine ich?«
»Theoretisch schon. So wie ich das meiste nachvollziehen kann, was in euch Dumpfbirnen so vorgeht. Es ist bloß eine andere Seite des Wahnsinns, der die meisten von euch die meiste Zeit eures wachen Lebens fest im Griff hat und der bis zu den Hexenprozessen und noch viel weiter zurückreicht. Wenn etwas schiefgeht, muss irgendjemand daran schuld sein! Suchen wir uns jemanden, der anders ist, und geben ihm die Schuld! Verbrennt den Dämon! Schürt die Öfen!«
Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Selbstverständlich sind sie hinter uns her. Es war von Anfang an klar. Zumindest ist dieses Gefängnis hier sicher. Vermutlich sollten wir dankbar für den organisierten Wahnsinn der US-Regierung sein, der uns vor dem unorganisierten Wahnsinn des Pöbels schützt. Dabei haben wir doch eigentlich überhaupt nichts getan. Wir sind nicht wie die Wechsler, die theoretisch in die verschlossenen Schlafzimmer eurer Kinder eindringen können und so. Davor sollte man Angst haben. Wir hingegen haben letztendlich bloß ein bisschen Geld verdient. Aber das hat ja unter Hitler auch gereicht, um die Juden zu verurteilen.«
Nelson musterte ihn. Jetzt wirkte er eher wie ein aufsässiger Jugendlicher, das Mitglied einer Punk-Revival-Band vielleicht, der es darauf anlegte zu schockieren. Nelson bemerkte auch, dass er kaum einen Anhaltspunkt dafür hatte, was in Pauls Kopf vor sich ging. »Aber ihr habt das Potenzial für weitaus mehr. Findest du es nicht vernünftig, dass wir uns vor euch fürchten?«
Paul musterte ihn ebenfalls, als wäre er kurzzeitig an dem interessiert, was Nelson gesagt hatte. »Insofern, als ihr überhaupt zu Vernunft fähig seid – ja. Denn wir sind eine andere Spezies, verstehen Sie?«
Diese Worte, so völlig nüchtern ausgesprochen, waren erschreckend. »Du meinst, im Gegensatz zu den Wechslern …«
»Die genetisch mit euch anderen übereinstimmen. Das Wechseln ist bloß eine Fähigkeit wie das Talent für Fremdsprachen, das manche Leute besitzen, andere nicht. Wir sind alle potenzielle Wechsler. Aber Sie sind kein potenzieller ›Nächster‹. Die stümperhaften Dumpfbirnen von Wissenschaftlern in dieser Einrichtung haben bestätigt, was wir längst wussten. Wir haben einen zusätzlichen Genkomplex. Das zeigt sich körperlich in neuartigen Gehirnstrukturen, besonders in der Hirnrinde, wo komplexere Gedanken verarbeitet werden. Auch das untersuchen sie hier, obwohl sie uns dafür zum Glück nicht die Köpfe aufsägen, zumindest noch nicht. Mein Gehirn enthält hundert Milliarden Neuronen, eine jede mit tausend Synapsen, genau wie Ihres. Aber die Verbindungsfähigkeit scheint sich radikal verbessert zu haben. In Ihrem Kopf ist die Hirnrinde wie ein einziges Blatt aus runzligen Schichten hinter dem Schädelknochen zusammengefaltet, das ausgebreitet ungefähr einen Quadratmeter ausmachen würde, mit ungefähr zehn Milliarden internen Verknüpfungen. Die Topologie der Hirnrinde in meinem Kopf ist viel komplexer, mit deutlich mehr Querverbindungen … Es lässt sich genau genommen nicht in weniger als vier Dimensionen modellieren.«
»Von daher bist du eine Glühbirne, keine Dumpfbirne.«
Paul zuckte die Achseln. »Biologisch gesehen ist eine Spezies dadurch definiert, dass ihre Angehörigen sich untereinander fortpflanzen können. Unser Anspruch, eine eigene Spezies zu sein, trifft das zwar nur ungenau, aber er kommt einigermaßen hin.« Er lächelte. »Haben Sie eine Tochter, Nelson?«
Die Frage überrumpelte Nelson. Er dachte an diese lebende Insel, an die Frau mit der roten Blume im Haar … »Wahrscheinlich nicht.«
Paul hob die Augenbrauen. »Komische Antwort. Tja, falls ja, dann könnte sie als Inkubator für mein Kind dienen. Das wiederum wäre einer oder eine von uns, nicht von euch. Kränkt Sie das? Macht es Ihnen Angst? Würden Sie mich deshalb am liebsten umbringen? Vielleicht wäre es besser so.«
»Erzähl mir, wie es geschehen ist. Falls du es selbst überhaupt verstehst.«
Paul lachte ihm ins Gesicht. »Ach, Sie wollen mich manipulieren, indem Sie mich provozieren. Ich erzähle Ihnen aber nur das, was die Dumpfbirnen hier ohnehin schon herausgefunden haben dürften. Es ist nicht allzu kompliziert. Ich wurde in Happy Landings geboren, wie Sie vielleicht wissen. Und ich bin mütterlicherseits ein Spencer. Sie haben von dem Ort bestimmt schon gehört.«
Happy Landings war zwischen Lobsang und Joshua immer ein großes Thema gewesen.
»Wenn Sie von Happy Landings gehört haben, dann auch von den Trollen. Das Geheimnis sind die Trolle, Nelson. Happy Landings ist regelrecht von ihnen befallen, es wimmelt dort von Trollen, und ihre Anwesenheit hat diese ganz besondere Gemeinschaft hervorgerufen. Nicht jeder Mensch kommt mit den Trollen klar und umgekehrt. Im Lauf der Zeit ist ein Selektionsdruck entstanden. Nur eine bestimmte Sorte Mensch ist in Happy Landings willkommen. Selbst einige von denen, die dort geboren wurden, wissen, dass sie da nicht hingehören. Daran ist nichts Geheimnisvolles, nichts Übernatürliches, es ist einfach nur eine Frage komplexer Gruppendynamik zwischen zwei humanoiden Spezies, Menschen und Trollen, die schon seit Jahrhunderten stattfindet. Seit vielen Generationen, lange vor dem Wechseltag, als der Ort zufällig von natürlichen Wechslern besiedelt wurde. Was dabei herausgekommen ist, ungeplant und unbeabsichtigt, ist eine Selektion hinsichtlich höherer menschlicher Intelligenz. Natürlich muss es dabei einen Wettbewerbsvorteil gegeben haben. Vielleicht können nur kluge Menschen die Segnungen der Anwesenheit von Trollen akzeptieren …«
»Und das Ergebnis ist das, was ich hier vor mir sehe?«
Er zuckte die Achseln. »Momentan tauchen überall ›Nächste‹ auf. Viele Kolonienwelten sind wegen des großen Bevölkerungsansturms aus der Datum in der Folge von Yellowstone in Aufruhr. Vielleicht hat es etwas mit dem ganzen Stress zu tun, den das hervorgerufen hat. Schlafende Gene werden plötzlich virulent. Aber, und das haben eure Dumpfbirnen-Wissenschaftler bestimmt herausgefunden, viele der überall auftauchenden Next können ihren Stammbaum bis nach Happy Landings zurückverfolgen, besonders zu den alten Dynastien der Montecutes und Spencers. Sie sind die Quelle des neuen genetischen Vermächtnisses.«
Nelson musste unwillkürlich an Roberta Golding denken, die sich so dafür eingesetzt hatte, dass er hierherkommen durfte. Auch sie stammte ursprünglich aus Happy Landings …
»Andererseits«, sagte Paul jetzt, »konnten wir nur in der Langen Erde gedeihen. Happy Landings, das Treibhaus, der fruchtbare Boden, ist ein einzigartiges Phänomen der Langen Erde. Das unbeabsichtigte Zusammenleben zweier unterschiedlicher humanoider Spezies hätte auf der Datum nie stattfinden können. Die Trolle hätten auf der Datum-Erde nicht mal überleben können, nicht neben euch, euch vernunftbegabten Affen, die ihr so klug seid, dass ihr alles rings um euch zerstört, aber nie klug genug, um zu verstehen, was ihr dabei verliert … Die Trolle brauchten den Schutz der Langen Erde, sie mussten vor euch geschützt werden, damit sie an unserer Entstehung teilhaben konnten, in Schmelztiegeln wie Happy Landings.«
»Schmelztiegeln? Gibt es noch andere?«
»Natürlich. Das gebietet allein schon die Logik … Aber Sie sind ja Geistlicher. Ich dachte, Sie sind hier, um über Gott zu reden, nicht über Darwin.«
Nelson zuckte die Achseln. »Ich werde stundenweise bezahlt, nicht nach Gesprächsthemen. Wir können uns über alles unterhalten, was du möchtest. Hast du irgendwelche Meinungen zu Gott?«
Paul schnaubte verächtlich. »Eure Götter sind triviale Hilfskonstruktionen, von denen man sich leicht trennen kann. Animistische Fantasien oder fixes Wunschdenken von Säugetieren. Ihr seid verlorene Kinder, die sich nach Papa sehnen und sein Bild in den Himmel projizieren.«
»Aha. Und woran glaubt ihr?«
Paul lachte. »Geben Sie mir eine Chance! Ich bin neunzehn Jahre alt und sitze im Gefängnis. Bis jetzt hatten wir noch keine Zeit, uns solchen Fragen zu widmen. Ich kann Ihnen aber sagen, was ich fühle. Dass Gott nicht irgendwo da draußen ist. Gott ist in uns, in unserem alltäglichen Leben. Im Akt des Verstehens. Gott ist die Heiligkeit des Begreifens – nein, er entsteht im Akt des Begreifens.«
»Du solltest mal Spinoza lesen. Vielleicht auch ein paar von den Yogis.«
»Falls wir genug Zeit dafür bekommen, kommen wir der Wahrheit vielleicht näher. Und falls wir sehr viel Zeit für derlei Dinge haben, gelingt es uns vielleicht, sie so auszudrücken, dass sogar ihr Dumpfbirnen sie verstehen könnt.«
»Vielen Dank«, erwiderte Nelson trocken. »Du sagst falls. Damit deutest du an, dass euch diese Zeit nicht gewährt wird.«
»Sehen Sie sich um.« Er machte eine Handbewegung in Richtung der nichtssagenden Decke. »Sehen Sie sich diesen Affen mit der Knarre da oben an. Jedenfalls kann ich mir herleiten, dass dort so einer steht. Was glauben Sie wohl, wie viel Zeit die Dumpfbirnen uns noch geben?«
»Hast du Angst davor, Paul? Fürchtest du den Tod?«
»Hm. Gute Frage. Nicht den individuellen Tod. Aber es gibt erst so wenige von uns, Nelson, dass unser Tod einer massenhaften Vernichtung unserer Art gleichkommt. Davor fürchte ich mich. Weil so vieles noch ungesagt, so vieles unentdeckt, so vieles unausgedrückt ist. Sind wir fertig? Ich würde jetzt gerne ein bisschen fernsehgucken.«
Nelson wartete einen Augenblick und überlegte. Dann klopfte er an die Tür, um die Wache zu rufen.