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Während sie sich auf die »Anhörung« mit Mac und Valienté vorbereitete, blieb Maggie Zeit, darüber nachzudenken, wie es wohl kam, dass ausgerechnet sie auf diesem Schleudersitz saß.

Admiral Davidson musste unter gewaltigem Druck gestanden haben, von ganz oben im Weißen Haus und von anderen Seiten. Sonst hätte er die geheime Verladung von Massenvernichtungswaffen in Schiffe, die in erster Linie Lewis-und-Clark-Erkundungsschiffe sein sollten, nie erlaubt, ganz zu schweigen von der Bevollmächtigung, im Ernstfall eine Atombombe gegen Happy Landings einzusetzen, eine nichtmilitärische Siedlung innerhalb der amerikanischen Ägide. Aber Maggie kannte Davidson schon sehr lange. Bei der Rebellion von Walhalla im Jahre 2040 beispielsweise hatte er sich als jemand erwiesen, der sich nicht von seinen Instinkten lenken ließ. Vielleicht hatte er diesen Giftbecher an Maggie weitergereicht, um zu verhindern, dass er jemals vergossen wurde.

Aber das alles spielte jetzt keine Rolle, dachte Maggie. Wie sie auch an diese Verantwortung geraten sein mochte, sie saß an der entscheidenden Stelle. Und wie schon seit damals, als sie das Kommando über die Benjamin Franklin übernommen hatte, von der Armstrong ganz zu schweigen, hatte man ihr notgedrungen die Autonomie gegeben, so zu handeln, wie sie es für richtig hielt, egal unter welchen Umständen. Cutler hatte recht. Sie allein musste diese Entscheidung treffen, weder Davidson noch sonst jemand, ganz egal, wie sie in diese Position geraten war.

Ehe sie sichs versah, war es so weit.

Fast genau vierundzwanzig Stunden nach dem Treffen mit Mac und Ed Cutler wurde Joshua Valienté von Leutnant Schneeball zu Maggies Kajüte begleitet. Mac war bereits da, ausnahmsweise in voller Uniform und mit einem Tablet voller Notizen vor sich auf dem Tisch. Er sah ausgesprochen missmutig aus. Als Joshua eintrat, erhob er sich und nickte auch Schneeball kurz zu.

Ehe der Beagle wieder hinausging, beugte er sich kurz vor und roch an Joshuas Gesicht. Maggie wusste inzwischen, dass dieses Verhalten bei den Beagles in etwa einem Händeschütteln entsprach und in gewisser Hinsicht schon menschlichen Umgangsformen angepasst war.

»Jos-sshua. Wie geht es deinem R-rrhücken?«

»Nicht mal mehr eine Narbe übrig.«

»Und der-rrh Hh-and?«

Joshua ließ die künstlichen Finger spielen. »Besser als die richtige. Schwamm drüber!«

»Schön, dich wieder-rrh zu sehen, Jos-sshua.«

»Ebenso, Krypto.«

Nachdem Schneeball gegangen war, nahm Joshua Platz, und Maggie begann mit einer kurzen Vorstellungsrunde. Ein Ordonnanzoffizier schob einen Wagen mit Wasser, Kaffee und Säften herein. Maggie stand auf, um die Getränke selbst einzuschenken, Wasser für sich und Mac. Joshua bat um einen Kaffee, was geradezu typisch war, denn ein Pionier würde nie eine gute Tasse Kaffee ausschlagen.

Joshua Valienté trug geflickte Hosen, eine robuste Jacke über einem Jeanshemd und einen Indiana-Jones-Hut, den er über die Stuhllehne hängte. Er sah genau so aus, wie man sich einen Pionier der Langen Erde vorstellte, und Maggie fragte sich, ob er sich zu diesem Anlass extra umgezogen hatte, um damit sein Anliegen zu unterstreichen. Wahrscheinlich eher nicht, entschied sie zögernd. Sie hatte wohl den authentischen Valienté vor sich. Allerdings schien er sich auf seine Weise genauso wenig wohlzufühlen wie Mac.

Sobald jeder etwas zu trinken hatte, verriegelte Maggie die Tür.

»Da wären wir also, meine Herren. Die Toilette ist dort drüben, hinter dieser Tür. Ansonsten kommt hier niemand rein, ehe wir … Entschuldigung: ehe ich eine Entscheidung getroffen habe. Jetzt liegt es nur noch an uns. Allerdings wird alles aufgezeichnet, für das Kriegsgericht, das sich später einmal wahrscheinlich für mich interessieren dürfte.«

Joshua machte ein überraschtes Gesicht.

»So sieht das Leben beim Militär nun mal aus, Mr Valienté.«

»Nennen Sie mich Joshua.«

»Danke. Aber Sie beide werden keinesfalls belangt. Ich habe mich erkundigt, mein Stellvertretender hat ein paar juristische Recherchen angestellt, und ich habe seine Empfehlungen und meine Sicht der Dinge im Logbuch festgehalten. Sie sind einfach nur Ratgeber. Sie auch, Mac.«

Mac zuckte die Achseln. »Nach dieser Geschichte quittiere ich wahrscheinlich sowieso den Dienst.«

»Ganz bestimmt. Auch bei Ihnen möchte ich mich bedanken, dass Sie gekommen sind, Joshua. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich all dem hier aussetzen, obwohl Sie es nicht müssten. Nebenbei gesagt: Ich wusste gar nicht, dass Sie Schneeball kennen.«

»Er hat mir mal das Leben gerettet. Zumindest hat er mich weitestgehend verschont. Das genügt vermutlich als Grundlage für eine Freundschaft.« Joshua grinste. »Wie Hund und Katz, was, Käpt’n?«

Sie warf Mac einen kurzen Blick zu, der sich nichts anmerken ließ. Maggie schloss daraus, dass Joshua nichts von der Rolle wusste, die Mac bei dem späteren Schicksalsschlag spielte, der die Beagles ereilt hatte. »So sieht’s aus, Joshua«, sagte sie.

»Hören Sie, Frau Kapitän, ich weiß immer noch nicht genau, warum Sie sich ausgerechnet mich für dieses … wie sollen wir es nennen … für diese Anhörung ausgesucht haben?«

»So können Sie es nennen«, brummte Mac. »Eine Gruppe Menschen ist angeklagt und könnte zum Tode verurteilt werden. Eine ganze Spezies könnte ausgelöscht werden. Je nachdem, wie man die Sache betrachtet.«

»Aber wieso ich?«

Maggie dachte noch einmal darüber nach, was Shi-mi ihr geraten hatte, darüber, was sie von diesem Mann namens Valienté wusste. »Weil auch Sie ein Außenseiter gewesen sind, damals, als es mit dem Wechseln anfing. Sie waren anders. Sie wissen, wie man sich in so einer Lage fühlt. Und weil Sie sich, trotz allem, als anständiger Mensch mit gesunden Instinkten erwiesen haben. Das beweisen die Akten, die man über Sie einsehen kann. Außerdem wissen wir aus den Unterlagen aus Pearl Harbor, dass Sie mit einem dieser Next befreundet sind.« Sie warf einen Blick auf ihre Notizen. »Paul Spencer Wagoner? Von daher sind Sie in der Lage, die Situation richtig einzuschätzen.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir noch wie ein menschliches Wesen vorkomme, wenn ich hier auf diese Weise zu Gericht sitzen muss.«

Mac grinste. Es war ein kaltes, humorloses Grinsen. »Sollen wir die Rollen tauschen?«

»Diese Entscheidung obliegt mir, nicht Ihnen«, sagte Maggie. »Die gesamte Verantwortung liegt bei mir.«

Joshua nickte, sah aber trotzdem alles andere als glücklich aus. »Ich habe mich nicht groß informiert. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gewusst, wo ich anfangen oder was ich überhaupt recherchieren soll.«

»Gut so«, erwiderte Maggie. »Folgen Sie Ihrem Herzen. Schön. Fangen wir an. Ich habe keinen festen Ablauf im Kopf, kein Format, auch keine zeitliche Begrenzung. Möchten Sie den Anfang machen, Mac?«

»Klar.« Mac warf einen letzten Blick auf sein Tablet, dann spreizte er die Hände auf dem Tisch. »Wir sollten uns von Anfang an klar darüber sein, worüber wir hier eigentlich reden. Wir haben eine Atomwaffe von der Größe der Hiroshima-Bombe mitgebracht, einer Bombe, die zerstörerischer ist als die, mit der Madison vernichtet wurde, aber das nur nebenbei. Ich weiß, dass Sie, Joshua, das Ausmaß der Zerstörung damals selbst gesehen haben. Wir sprechen darüber, ob wir diese Bombe ohne Vorwarnung inmitten dieser Siedlung zünden sollen. Selbstverständlich ohne Vorwarnung, wir wollen schließlich niemanden entkommen lassen. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass es die üblichen Kollateralschäden geben dürfte. Der letzte Wetterbericht, den ich für diese Region von den Meteorologen an Bord eingeholt habe, besagt, dass die radioaktive Wolke von hier aus nach Südosten ziehen würde. Damit werden auch andere Gemeinden in Mitleidenschaft gezogen, von denen viele, soweit wir wissen, überhaupt nichts mit den Next zu tun haben. Aber das liegt nun mal im Wesen dieses Einsatzes. Happy Landings selbst würde jedenfalls völlig ausgelöscht und auch jedes Lebewesen im gesamten Umkreis, mit Ausnahme von Kakerlaken – Menschen, Trolle, Next und alles, was sonst noch dort lebt.«

Maggie nickte. »Militärisches Ziel ist, die angenommene Quelle dieses neuen Phänomens, die Next, vollständig auszuradieren.«

»Ganz genau«, sagte Mac. »Da wir uns jetzt über den Preis dieser Aktion im Klaren sind, möchte ich gleich den allerzwingendsten Grund dafür nennen, weshalb wir sie sofort durchführen sollten. Weil wir es können. Gut möglich, dass wir keine zweite Chance wie diese mehr bekommen. Vermutlich gibt es noch andere Next-Zentren, die wir bereits mit allem Nachdruck ausfindig zu machen versuchen, aber nach den genetischen Untersuchungen sind wir ziemlich sicher, dass dieser Ort hier der Ursprung war. Damit töten wir mit Sicherheit nicht alle Next, aber es ist ein entscheidender Schlag gegen sie und verschafft uns Zeit, die anderen aufzuspüren und in aller Ruhe zu eliminieren. Wenn wir jetzt jedoch zögern …« Er sah Maggie ernst an. »Momentan sind sie superklug, aber es sind wenige, und sie sind körperlich und wirtschaftlich schwach. Sie besitzen keine Superwaffen oder so etwas – in dieser Hinsicht sind sie jetzt nicht stärker als wir, noch nicht. Aber das kann sich rasch ändern.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich habe mir die Sprachanalysen und die kognitiven Tests angesehen. Unsere lachhaften Versuche, die IQs dieser Kreaturen zu messen. Sie sind klüger als wir. Qualitativ. So wie wir klüger als Schimpansen sind. So wie ein Schimpanse nichts von dem Flugzeug versteht, das über seinen Baumwipfel fliegt, und noch weniger von der globalen technologischen Zivilisation, von der er selbst ein Teil ist, so sind wir nicht in der Lage, uns auch nur ansatzweise vorzustellen, wozu die Next in der Lage sind – was sie in Zukunft tun, sagen oder erschaffen werden. So wenig wie sich ein Neandertaler die Atomwaffe vorstellen konnte, die hier auf Happy Landings niedergeht. Wir sollten jetzt zuschlagen, solange wir noch dazu in der Lage sind – solange sie uns nicht daran hindern können.«

»Ich kann mir vorstellen, wie solche Sätze in den Einsatzzentralen ausgesprochen werden«, sagte Maggie. »Wir sollten uns erheben und sie so vernichten, wie die amerikanischen Ureinwohner die Konquistadoren hätten vernichten sollen, als sie von ihren Segelschiffen an Land kamen.«

Mac lächelte grimmig. »Oder, was in diesem Falle die bessere Analogie ist, wie diese Neandertaler, die ich erwähnt habe. Sie hätten ihre großen fiesen Keulen in die Hand nehmen und die flachen Gesichter der ersten Homo sapiens, die nach Europa gewandert kamen, damit einschlagen sollen.«

»Darf ich gleich was dazu sagen?«, erkundigte sich Joshua.

»Jederzeit«, antwortete Maggie. »Es gibt keine festen Regeln.«

»In beiden Fällen, die Sie erwähnt haben, hätte der Widerstand lediglich ein wenig Zeit gegenüber den Invasoren erkauft. Auf Columbus und Cortés und Pizarro wären andere und noch mehr Europäer gefolgt.«

»Stimmt«, sagte Mac. »Aber diese Zeit können wir gut gebrauchen. Wir sind keine übermenschlichen Genies wie diese Next, aber wir sind auch keine Trottel. Wir sind nicht so schwach wie die Indianer oder die Neandertaler. Wenn wir mehr Zeit haben, können wir uns organisieren, wir können sie weiter jagen und ausrotten. Vergessen Sie nicht, dass ihre DNA sie verrät. Die lässt sich nicht verbergen. Außerdem gibt es Milliarden von uns und nur eine Handvoll von ihnen.« Man sah ihm an, dass er sich ziemlich unwohl fühlte. »Außerdem sind viele schon gechipt worden, bei der Inhaftierung auf Hawaii. Auch das würde helfen.«

»Aber Mac«, sagte Maggie, »Sie plädieren für Mord. Kaltblütigen, vorsätzlichen Mord. Wie wollen Sie das rechtfertigen?«

Man musste Mac zugutehalten, dass er in seiner Rolle blieb. »Es ist kein Mord, Maggie. Nicht, wenn Sie das Argument übernehmen, dass es sich um eine andere Spezies handelt. Die Next sind keine Menschen. Es ist vielleicht grausam, wenn wir ein Pferd niederschießen, aber es ist kein Mord, weil das Pferd nicht unserer Spezies angehört. Unsere sämtlichen Gesetze und Gebräuche basieren auf dieser Sicht der Dinge. Im Verlauf unserer Geschichte, und wahrscheinlich sogar schon in der Vorgeschichte, haben wir die Interessen der Menschen stets vor die der Tiere gestellt. Wir haben den Leoparden getötet, der uns über die afrikanische Savanne gehetzt hat, wir haben die Wölfe ausgerottet, die es in den Wäldern Europas auf unsere Kinder abgesehen hatten. Wenn es nötig ist, setzen wir auch heute noch auf radikale Ausrottung: Viren, Bakterien …«

»Die Next sind etwas anderes als Viren«, warf Joshua scharf ein. »Und wir vernichten nicht immer, nur weil wir in der Lage dazu sind. Wir haben die Trolle beschützt.« Er warf Maggie einen Blick zu. »Sie waren selbst an der Kampagne beteiligt, Käpt’n. Allein die Tatsache, dass Sie Trolle in Ihre Besatzung aufgenommen haben …«

Mac schüttelte den Kopf. »Die Trolle werden geschützt, als wären sie Menschen, zumindest nach amerikanischem Gesetz, auch wenn sie nicht in Gänze als menschlich oder auch nur dem Menschen gleichwertig angesehen werden. Jedenfalls sieht die Praxis völlig anders aus. Noch nie hat ein Troll nachweislich einem Menschen Schaden zugefügt, höchstens unabsichtlich oder aufgrund einer Provokation. Solche Vorfälle sind immer der Fehler eines Menschen gewesen. Die Trolle stellen keine Gefahr für uns dar. Die Next hingegen, so steht zu befürchten, könnten eines Tages nicht nur für einzelne Menschen, sondern für uns alle eine Bedrohung darstellen, genau, wie Cutler gesagt hat. Sie könnten uns alle ausrotten.«

»Das ist eine extreme Position«, erwiderte Joshua. »Selbst wenn sie uns feindlich gesinnt wären – warum sollten sie so weit gehen?«

»Gute Frage«, sagte Mac. »Aber die genetischen, linguistischen und kognitiven Beweise laufen alle auf eins hinaus – dass es sich tatsächlich um eine andere Spezies handelt, die inmitten unserer Welten entstanden ist. Und deshalb wird es Auseinandersetzungen zwischen uns geben, das ist ganz unvermeidlich. Auseinandersetzungen, die erst mit der Auslöschung der einen oder anderen Seite enden. Enden müssen! Ich sage Ihnen auch, warum: Die Next sind keine Menschen. Aber das erdrückendste Argument, das ich gegen sie anführen kann, ist, dass sie den Menschen viel zu ähnlich sind. Sie mögen klüger sein als wir, aber sie haben dieselbe äußere Erscheinung, sie nehmen dieselbe Nahrung zu sich, und sie müssen in denselben Klimazonen wohnen wie wir. Es ist ein klassischer Darwin’scher Konflikt zwischen zwei Spezies, die um dieselbe ökologische Nische kämpfen. Und Darwin selbst wusste, was er damit meinte.«

Mac suchte in seinem Tablet. »Ich habe dieses ganze Zeug schon während des Medizinstudiums gelesen, damals, in einem anderen Zeitalter … Hätte nie gedacht, dass ich mal direkt damit zu tun bekomme. Kapitel 3, Die Entstehung der Arten, 1894: ›Da die Arten einer Gattung gewöhnlich, doch keineswegs immer, viel Ähnlichkeit mit einander in Lebensweise und Constitution und immer in der Structur besitzen, so wird der Kampf zwischen Arten einer Gattung, wenn sie in Concurrenz mit einander gerathen, gewöhnlich ein härterer sein, als zwischen Arten verschiedener Genera.‹« Er legte das Tablet wieder hin. »Darwin wusste es. Er hätte diese Situation voraussagen können. Es wird keinen Krieg geben. Es wird sich auch nicht zivilisiert abspielen. Es wird viel primitiver zugehen. Es wird biologisch ausgetragen. Es ist ein Konflikt, den zu verlieren wir uns nicht leisten können, Maggie. Nur einer von uns kann überleben, wir oder sie, und wenn wir verlieren, verlieren wir alles. Und gewinnen können wir nur dann, wenn Sie jetzt handeln.«

»Wir reden hier nicht über Biologie«, erwiderte Joshua hitzig, »sondern über menschliche Wesen. Selbst wenn sie uns vernichten könnten, so haben wir doch keinen einzigen winzigen Beweis dafür, dass sie es auch tun werden.«

»Doch«, sagte Mac, »den haben wir.«

»Welchen denn?«

»Allein die Tatsache, dass wir überhaupt hier sitzen und uns darüber unterhalten, ob wir eine offensichtlich vernunftbegabte, menschenähnliche Spezies ausradieren. Allein dadurch, dass wir darüber reden, schaffen wir einen Präzedenzfall, verstehen Sie das nicht? Und wenn wir so ein Vorgehen ins Auge fassen können, warum sollten sie es in Zukunft nicht tun?«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Joshua. »Mit solchem Gedankengut hätte man auch den Kalten Krieg jederzeit heiß werden lassen können, und wir alle wären schon Jahrzehnte vor dem Wechseltag tot gewesen. Schmeiß den Feind mit Atombomben zu, damit er gar nicht erst die Gelegenheit bekommt, dich selbst damit zuzuschmeißen.«

»Eigentlich nicht«, mischte sich Maggie ein. »Dieser Gedanke ist keineswegs so krude. In den vergangenen paar Jahrzehnten hat die Menschheit gelernt, mit existenziellen Bedrohungen immer besser umzugehen – Bedrohungen, die normalerweise recht unwahrscheinlich sind, die aber, falls sie doch eintreten, extreme Konsequenzen nach sich ziehen. Yellowstone haben wir letztendlich nicht kommen sehen. Aber wir planen, gefährliche Asteroiden aus dem Weg zu schaffen … Jedenfalls haben wir so etwas vor Yellowstone noch geplant. Ich würde sagen, die Grundphilosophie besteht darin, dass man auf solche Bedrohungen reagieren sollte, idealerweise mit dem Einverständnis der Öffentlichkeit und unter Einsatz von Ressourcen, die in einem gewissen Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehens und den Ausmaßen seiner Konsequenzen stehen.«

»Und in diesem Fall«, sagte Mac sehr ernst, »wägen wir das Risiko ab, von diesen Next vernichtet zu werden oder vielleicht auch ein nicht ganz so grausames Schicksal wie etwa die Versklavung zu erleiden, und zwar gegen den Preis einer einzigen Atombombe und der darauf folgenden Aufspür- und Tötungsaktion. Dazu kommt noch der Tod einer unbekannten Anzahl Unschuldiger. Normaler Menschen, will ich damit sagen. Wobei ich einräume, dass auch diese Next-Kinder unschuldig sind.« Er sah erst Maggie, dann Joshua an. »Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

Eine ganze Weile herrschte Stille in der Kabine. Dann sagte Maggie: »Verdammt, Mac, Sie haben sich sehr gut geschlagen. Jetzt überzeugen Sie, Joshua, mich bitte davon, dass er sich irrt.«

Joshua sah Mac an und sagte: »Tja, zu Darwin kann ich nichts sagen. Von dem weiß ich nichts. Auch Columbus, Cortés und die Neandertaler habe ich nie kennengelernt. Ich habe auch keine großartigen Theorien. Ich kann Ihnen nur etwas über die Leute erzählen, die ich kenne. Ich glaube, der erste ›Nächste‹, den ich einigermaßen gut kennengelernt habe, war ein kleiner Junge namens Paul Spencer Wagoner. Was Ihnen bekannt sein dürfte, denn es steht in Ihren Akten. Ich habe ihn sogar hier in Happy Landings kennengelernt. Damals war er fünf Jahre alt. Jetzt, nach all diesen Jahren, habe ich ihn hierher zurückgebracht. Er ist irgendwo dort unten und sitzt auf Ihrer verdammten Bombe. Er ist neunzehn Jahre alt …«

Er sprach davon, was er von dem heranwachsenden Paul Spencer Wagoner mitbekommen hatte. Von den Eltern, denen es im turbulenten Happy Landings nicht mehr gefiel. Davon, wie der emotionale Druck, der allein durch die Eigenheiten der Next-Kinder hervorgerufen wurde, die Familie auseinandergerissen hatte. Wie ein verlorener kleiner Junge in dem Heim, in dem auch Joshua aufgewachsen war, ein neues Zuhause fand. Wie der traumatisierte junge Mann, zu dem er geworden war, eingesperrt wurde wie ein lebenslänglich Gefangener und wie lebenslustig er dennoch war, voller Tatendrang und Mitgefühl, wenn er sich unter seinesgleichen aufhielt.

»Sie sind auch unsere Kinder«, sagte er bestimmt. »Unser aller Kinder. Sie sind klüger als wir. Na und? Soll ein Vater seinen Sohn töten, nur weil der Sohn klüger ist als er? Unterschiede lassen sich nicht ausrotten, nur weil man sich davor fürchtet.« Er warf Maggie einen Blick zu. »Ich weiß, dass Sie so etwas nicht tun würden, Käpt’n. Nicht Sie, die Sie Trolle und einen Beagle in Ihrer Besatzung haben!«

Ganz zu schweigen von einer Roboterkatze, dachte Maggie.

»Erklären Sie mir, warum Sie diese Nicht-Menschen an Bord genommen haben.«

Maggie dachte kurz darüber nach. »Um den Kleingeistern und Neinsagern etwas entgegenzusetzen, glaube ich. Und …« Sie musste daran denken, was Schneeball gesagt hatte, als sie sich über eine ganze Nation vernunftbegabter krabbenartiger Kreaturen gewundert hatten, sehr, sehr weit von zu Hause entfernt: Eure Gedanken, meine Gedanken, immer abhängig von Blut, von Körper-rhh. Brauchen anderes Blut, andere Körper-rhh, um Gedanken zu überprüfen. Mein Blut nicht deins. Meine Gedanken nicht eure.

»Wegen der Vielfalt«, sagte sie. »Weil ich eine andere Perspektive haben wollte. Nicht unbedingt eine bessere oder schlechtere. Wie sollen wir die Welt sonst richtig erkennen, wenn nicht mit den Augen der anderen?«

»Genau«, sagte Joshua. »Die Next stehen für etwas Neues, wie bedrohlich wir sie auch empfinden. Vielfalt. Was ist das Leben denn wert, wenn man es nicht mit beiden Armen umfängt? Und … ja, sie gehören zu uns. Mehr habe ich nicht zu sagen, Käpt’n, ich hoffe, das genügt.«

»Ich danke Ihnen, Joshua.« Sie glaubte zu spüren, wie sich die Entscheidung in ihrem Kopf langsam formte. Lieber auf Nummer sicher gehen. »Wie wäre es mit einem Schlussplädoyer? Noch ein Satz von jeder Partei. Mac?«

Mac schloss die Augen und lehnte sich zurück. »Wissen Sie, meine größte Furcht ist nicht die Sklaverei, nicht einmal die völlige Auslöschung. Sondern, dass wir sie eines Tages anbeten werden. Wie Götter. Wie heißt es in den Zehn Geboten? ›Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.‹ Exodus, Kapitel 20, Vers 3. Wir haben die biologische, moralische und sogar religiöse Verpflichtung, um auf diese Weise und nicht anders zu handeln, Maggie.«

Sie nickte. »Joshua?«

»Mein letzter Punkt ist, glaube ich, eher praktischer Natur. Sie können nicht alle erwischen, hier und heute. Sie, Doktor, behaupten, Sie könnten den Rest aufspüren. Das bezweifle ich. Die Next sind zu schlau. Sie finden immer Mittel und Wege, uns zu entkommen, Möglichkeiten, die uns nicht einmal in den Sinn kommen. Wir können nicht alle umbringen. Aber die Next werden nie vergessen, dass wir es versucht haben.«

Maggie verspürte ein Frösteln, ganz tief in ihrer Seele.

Mac seufzte, als wiche alle Spannung von ihm. »Wär’s das jetzt? Sind wir fertig? Sollen wir Sie eine Zeitlang allein lassen, Käpt’n?«

Sie lächelte. »Nicht nötig.« Sie tippte auf den in ihrem Schreibtisch eingelassenen Bildschirm. »Nathan?«

»Ja, Käpt’n?«

Sie zögerte noch eine Sekunde, überdachte ihre Entscheidung ein letztes Mal. Dann sagte sie zu Joshua und Mac: »Die Logik ist mir völlig klar. Moralisch und strategisch wäre es falsch, diese Ausrottung zu veranlassen. Selbst wenn sie funktionieren würde, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Wir können uns nicht retten, indem wir die Neuen vernichten. Wir müssen lernen, mit ihnen umzugehen – und hoffen, dass sie uns verzeihen.«

»Käpt’n?«

»Entschuldigen Sie, Nathan. Gehen Sie mit Kapitän Cutler nach unten und holen Sie diese verdammte Bombe aus dem Boden. Ich entschärfe sie von hier oben aus, jetzt sofort. Kümmern Sie sich bitte persönlich darum.«

»Jawohl, Kapitän.«

Sie nahm Cutlers Aktentasche vom Boden und öffnete sie mit einer schrägen Grimasse. »Mac, während ich das erledige, könnten Sie uns was zu trinken einschenken. Sie wissen ja, wo die Gläser sind. Trinken Sie einen mit, Joshua?«

Mac erhob sich. »Das wird allmählich zur Gewohnheit, Maggie.«

»Gießen Sie schon die Gläser voll, Sie alter Quacksalber.«

Er folgte ihrem Wunsch, aber sie nahm seine nach unten gezogenen Mundwinkel, die Verspannung in seinem Hals und die Leere in seinen Augen wahr. Er hatte die Debatte verloren, obwohl er alles darangesetzt hatte, sie zu gewinnen. Sie glaubte, nachvollziehen zu können, was jetzt in ihm vorging. Was, wenn er gewonnen hätte? Wie hätte er damit weiterleben können? Was hatte sie ihm angetan? Welchen Preis hatte sie ihrem alten Freund abverlangt, um diesen Sieg davonzutragen?

Sie begegnete Joshuas Blick. In seinem Ausdruck lag Verständnis. Verständnis und Mitgefühl, sowohl für sie als auch für Mac.

Da tauchte Shi-mi wie aus dem Nichts auf. Maggie hatte nicht gewusst, dass sie im Raum war. Sie sprang auf Joshuas Schoß, und er streichelte sie zur Begrüßung. »Hallo, meine Kleine.«

Shi-mi fauchte Mac an, und Mac fauchte zurück.

Dann stieß Mac seinen Stuhl zurück, erhob sich und ging zur Tür. »Ich glaube, ich gehe Ed Cutler ein bisschen quälen. Vielleicht dürfte ich mir Ihre künstliche Hand ausborgen, Joshua? He, Ed! Mein Führer – ich kann wieder gehen!«

»Ich will Ihnen etwas verraten«, sagte Joshua zu Maggie, nachdem er draußen war. »Es bedeutet Ihnen wahrscheinlich nicht viel, aber meine Kopfschmerzen sind weg. Vielleicht heißt das, dass wir heute die richtige Entscheidung getroffen haben. Was meinst du, Shi-mi?«

Die Katze schnurrte nur und stieß das Köpfchen in seine künstliche Hand, damit er sie noch kräftiger kraulte.