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Es gab nichts zu sagen. Deshalb sagte zunächst auch niemand etwas.
Sie wechselten jetzt nach Westen, kehrten auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, zurück zum Lückenmars und anschließend nach Hause.
Sally verzog sich ins hintere Ende der Druckkabine, wo eine kleine Toilette abgetrennt war. Dort öffnete sie ihren Anzug zum ersten Mal, seitdem sie das Lager verlassen hatten, um den Schacht zu erforschen. Es kam ihr vor, als wären seitdem Tage vergangen, dabei waren es nur Stunden, denn es war immer noch früher Nachmittag auf dem Mars. Sie atmete in der Kabinenluft, die sich verdächtig dünn anfühlte und auch ein wenig verbrannt roch, tief durch. Zweifellos gab es Lecks in der unter Druck stehenden inneren Hülle, die der angeschlagene Gleiter durch den Treffer des Raketenwurms im Rumpf erlitten hatte. Damit konnten sie sich später noch beschäftigen. Jetzt brauchte sie erst einmal Zeit für sich, um den Anzug zu lockern, sich mit ein paar Deotüchern zu waschen und den Sammeltank ihres Anzugs zu entleeren.
Zeit ohne ihren Vater.
Als sie wieder zurückkam, saß er immer noch am Steuer. Der Gleiter war nach dem geographischen Westen ausgerichtet, und die geschrumpfte Marssonne senkte sich allmählich über die wechselwärtigen Landschaften, die bis auf das übliche Detailflackern immer gleich blieben: verstreute Felsbrocken, Krater und großflächige Schattenmuster. Willis drehte sich mit geöffnetem Visier zu ihr um und hielt ihr ein kleines Glasröhrchen entgegen, in dem sich ein schnurrhaardicker Faden befand. »Eines Tages kommen wir hierher zurück und lassen Frank Wood eine richtige Beerdigung zukommen. Und noch später wird man ihm ein Denkmal errichten. Eine hundert Meter hohe Statue aus Marsgestein. Und das alles nur deswegen.«
»Bohnenstängelkabel.«
»Genau. Wir haben uns das geholt, weswegen wir gekommen sind, egal, was es uns gekostet hat. Und damit werden wir die Welt verändern. Alle Welten der Menschen.«
»Schon wieder.«
»Du solltest mir glauben, Sally. Hör mal, ich habe inzwischen alle Systeme überprüft. Da wir nur noch zu zweit sind, reichen die geretteten Vorräte bis nach Hause. Wir haben allerdings andere Probleme. Thor schafft es nicht bis zurück. Nicht ganz. Die Beschädigungen sind zu groß. Zum einen haben wir zu viel von den Flüssigkeiten verloren, Kühlmittel, Hydraulik. Sogar unsere Methan-Treibstoff-Fabrik gibt den Geist auf.«
Sie ließ sich auf ihre Couch hinter ihm sinken und zuckte die Achseln. »Immerhin ist der Gleiter sogar nach dem Raketentreffer flugfähig geblieben.«
»Ja. Trotzdem müssen wir runter.« Er machte eine kleine Pause. »Und du musst mir sagen, wo.«
Sie verstand, was er damit meinte. Sie schloss die Augen und spürte das Wechseln, den langsamen Rhythmus der Schritte, wieder und wieder und wieder, immer einer pro Sekunde, wie ein Puls tief in ihrem Schädel. Und darunter spürte sie, vage und nebulös, so etwas wie die erweiterte Topologie dieses Langen Mars, so wie es immer auf der Langen Erde gewesen war. Ein Gespür für Verbindungen.
Ihr Vater wollte, dass sie ihn an eine weiche Stelle brachte, eine Abkürzung im Langen Mars. Dort würden sie notlanden …
»Und dann bringe ich dich nach Hause«, sagte sie und vervollständigte damit ihren Gedanken laut. »Durch die weichen Stellen, wie Opa Patrick sie immer genannt hat. Ich nehme dich an der Hand, wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war und dich zu unserem Geräteschuppen in Wyoming West 1 gebracht habe.«
»Einen besseren Plan habe ich nicht. Er war sowieso immer nur als Notlösung gedacht, Sally. Ich meine, es war ein Gedankenspiel, aber ich wusste nicht mal genau, ob es hier überhaupt weiche Stellen gibt, ob du sie überhaupt finden oder nutzen kannst …«
»Sie nutzen, um dich zu retten. Dich und dein kostbares Stück Kabelfaser.«
»Es ist wirklich kostbar, Sally. Kostbarer als alles andere.«
»Kostbarer als das Leben eines Menschen wie Frank Wood?«
»Die Rechte eines Individuums, das Leben eines einzelnen Menschen, sind nichts im Vergleich zum Wert einer Technologie wie dieser hier. Wir reden hier vom Schicksal unserer Spezies.«
Sie kam sich kalt, träge, passiv vor. Als müsste sie sich da Schritt für Schritt durcharbeiten.
»Als du da oben im Gleiter warst, und Frank und ich waren auf dem Boden – da warteten wir auf deine Entscheidung, welchen von uns beiden du retten würdest. Du hast gezögert.«
Er erwiderte nichts.
»Mal ehrlich, die meisten Väter hätten ganz instinktiv ihre Tochter gerettet. Oder? Ich glaube, Frank hätte es verstanden. Aber du – du hast gezögert. Du hast die Chancen abgewogen.«
»Ich …«
»Ich sage dir, was ich glaube. Du hast Frank und mich gegeneinander abgewogen. Frank ist der bessere Pilot. In einem funktionierenden Gleiter wäre Frank für dich nützlicher gewesen als ich. Außerdem war er natürlich besser dazu in der Lage, die Galileo zu bedienen und uns nach Hause zu bringen. Aber du hast den Schaden bedacht und dir überlegt, nein, der Gleiter schafft es ohnehin nicht, du musst bestimmt auf die Abkürzungen zurückgreifen. Was die Galileo angeht, na ja, du hast gesehen, wie ich für den Notfall trainiert habe. Außerdem erhalten wir bestimmt Unterstützung von den Russen in Marsograd, wenn wir nach Hause fliegen müssen. Mit der Galileo kommen wir also irgendwie klar. Der Knackpunkt waren die weichen Stellen. Insgesamt gesehen brauchtest du mich also eher als Frank. Es ging nicht um Familie oder um Loyalität. Deine Überlegung zielte einzig und allein darauf, wer von uns an diesem Punkt der Mission den größeren … Nutzen für dich hatte, ausgehend von den gegebenen Wahrscheinlichkeiten. Zufälligerweise war ich das, wegen der weichen Stellen. Deshalb hast du mich gerettet und nicht Frank.«
»Was soll ich jetzt dazu sagen …«
Sie fiel ihm einfach ins Wort: »Genau deshalb hast du überhaupt Kontakt mit mir gesucht, hast mich zur Lücke und dann zum Mars mitgenommen. Dein erster Kontakt zu mir seit vielen Jahren, ganz plötzlich und unverhofft, der Vater, der die ganze Welt auf den Kopf gestellt hat und dann plötzlich verschwand, als ich noch ein Teenager war. Du hast nicht mich dabeihaben wollen, sondern meine Fähigkeiten. Ich war Plan B, falls mit den Gleitern etwas schiefgeht. Eine menschliche Wünschelrute. Mehr nicht.«
Er schien darüber nachzudenken. »Und? Was willst du damit sagen? Du findest offenbar, ich hätte unvernünftig gehandelt. Ist es das? Aber ich bin kein vernünftiger Mensch, Sally. Vernünftige Menschen sind so wie Frank Wood. Als seine Karriere den Bach runterging, hat er es einfach akzeptiert. Er hat am Cape einen Touristenbus kutschiert, bis du mit dieser Polizistin aufgetaucht bist … Letztendlich hat er sogar seinen Tod akzeptiert, dort unten im Staub. Ich bin nicht wie Frank Wood, ich akzeptierte nicht einfach, was mir das Universum vorsetzt. Ich bin unvernünftig. Ich verändere das Universum.«
Zu ihrer Verwunderung war sie nicht mal wütend. Vielleicht hatte sie in den Weiten der Langen Erde schon zu viel Mist gesehen, um sich über die Fehler einfacher Menschen noch aufzuregen. Selbst wenn es sich dabei um ihren Vater handelte. Was aber fühlte sie stattdessen? Enttäuschung? Vielleicht. Andererseits hatte Willis sich schon immer so verhalten. Eher Mitleid? Nur: mit wem? Für wen? Mit Willis oder mit sich selbst?
»Ja«, erwiderte sie, »du bist ein Mensch, der das Universum verändert. Aber du bist auch mein Vater …«
»Werde endlich erwachsen«, brummte er.
Also brachte Sally ihren Vater zurück, durch frostige Tunnel, durch die weichen Stellen des Langen Mars.
Auf dem Lückenmars wurden sie abermals von Viktor, Sergej und Alexej begrüßt, die über Franks Tod sehr traurig waren.
Dann flogen Sally und Willis durch das All zum Backsteinmond und dann wieder zu GapSpace. Abgesehen von der allernotwendigsten Verständigung gab es zwischen ihnen keine nennenswerte Unterhaltung mehr in den Wochen, die sie benötigten, bis sie wieder zu Hause waren.
Nach ihrer Rückkehr suchte Sally sofort Frank Woods Familie auf. Sie verabscheute solche Verpflichtungen, aber sie wusste, dass es sonst niemanden gab, der ihnen davon erzählen würde, wie er starb.
Sie besuchte auch Monica Janssons Grab in Madison West 5, um es ihr ebenfalls zu erzählen.
Dort erreichte sie die Nachricht von Joshua Valienté.