14
In ihrem Logbuch hielt Maggie Kauffman fest, dass ihre Reise eigentlich erst nach Erde West 1.617.524, der Welt der Beagles, und mit dem neuen, dort an Bord genommenen Besatzungsmitglied begonnen hatte.
Jetzt gab sich auch Harry Ryan mit seinem Maschinenraum zufrieden, den er als »Fusionsküche« bezeichnete, weil dort robuste amerikanische Ingenieursarbeit einen Kern chinesischer, auf Gel basierender Raffinesse umschloss, und er gab Maggie endlich grünes Licht, den Befehl zum Vollgas zu geben.
Maggie selbst hielt sich zu diesem entscheidenden Zeitpunkt mit einigen ihrer Offiziere im Ruderhaus auf. Alle waren bereit, auf etwaige Katastrophen, die Harry prophezeit hatte, zu reagieren. Wu Yue-Sai machte sich wie immer Notizen. Durch die großen Panoramafenster mit den dicken Keramikläden, die sich bei einem Notfall sofort vor die Scheiben schieben würden, hatte Maggie eine gute Sicht auf die Welten.
Nachdem der Antrieb zugeschaltet war, sah sie diese Welten, eine nach der anderen, immer schneller vorüberhuschen.
Zuerst war der Anblick reine Routine, falls man in der Langen Erde überhaupt irgendetwas Routine nennen konnte. Im Sekundenrhythmus, dem Rhythmus ihres Herzens, löste sich eine trockene Welt nach der anderen in diesem »Para-Venus-Gürtel« auf. Dann beschleunigte sich die Frequenz auf bis zu zwei Erden pro Sekunde, wurde dann noch schneller, und Maggie spürte, wie ihr eigenes Herz als Reaktion darauf ebenfalls schneller schlug, wie die Rhythmen ihres Körpers unbewusst der Musik der Welten folgten. Als die Geschwindigkeit immer weiter zunahm, empfand Maggie das rasende Vorbeiflackern immer neuer Welten jedoch als zunehmend unangenehm. Eigentlich sollte keine Gefahr bestehen. Inzwischen gehörte es zur Routine, Besatzung und Passagiere auf mögliche Epilepsie zu untersuchen, und Doc Mackenzie hatte allen an Bord befohlen, sich einem letzten automatischen Screening zu unterziehen, ehe man dem Test des Antriebs zustimmte.
Immer noch sausten die Welten vorüber, schneller und immer schneller. Maggie nahm wahr, dass die flackernden Welten unter ihr jetzt grüner als vorher waren, der Himmel stellenweise blauer. Wahrscheinlich hatten sie den Venusgürtel bereits verlassen, aber die Welten rasten so schnell unter ihnen dahin, dass sich keine Einzelheiten mehr erkennen ließen, abgesehen von ein paar Grundtatsachen am Himmel, am Horizont, auf dem Boden und dem stählernen Glitzern des Flusses unter ihnen – einem weit entfernten Vetter des Ohio, wenn man den Geographen an Bord glauben durfte.
Dann verschwammen die Welten ineinander. Sie erreichten einen bestimmten kritischen Punkt, an dem die Wechselrate so schnell war, dass das Auge nicht mehr folgen konnte, als wären die Welten – jede von ihnen eine komplette Erde! – nicht mehr als kurze Wiederholungen eines digitalen Bildes. Das Gefühl, von einer Erde zur anderen zu wechseln, ging in ein Gefühl gleichmäßiger Bewegung über, fließend und dabei kontinuierlich einer gewissen Veränderung unterworfen. Die Sonne blieb als Konstante an einem Himmel stehen, der eine Mischung aus allen Wetterlagen war, eine Art tiefblaue Ausdruckslosigkeit. Der Fluss unter ihnen breitete sich wie ein bleicher, größerer Geist seiner selbst in seiner Ebene aus, Waldgebiete vermischten sich zu einem grünlichen, über der Landschaft liegenden Nebel. Auf den einzelnen Welten ließen sich keine Tiere mehr erkennen, sogar die größte Herde in jeder dieser Welten war zu schnell wieder verschwunden, als dass sich das Auge ein Bild davon hätte machen können. Trotzdem stellte sich eine gewisse Kontinuität ein, eine Verbindung zwischen all diesen lebenden Welten, diesen aktualisierten Möglichkeiten von Erde. Die rasche Folge wurde von Jokern, Ausnahmen von der Norm, die so schnell wieder verschwanden, wie sie auftauchten, entweder in helles Licht getaucht oder verdunkelt.
Auch die Cernan stand konstant am Himmel, ein beruhigender Reisegefährte – das Werk der Menschheit, das vor dem Flackern multipler Realitäten verlässlich Bestand hatte.
Dann war das dumpfe Dröhnen gewaltiger Maschinen zu hören, die das Schiff durch die Luft schoben, und die Landschaft glitt unter dem Bug der Armstrong dahin. Kontinentalverschiebungen waren bis zu einem gewissen Grad eine Sache des Zufalls, die Landmassen verschoben sich von einer Welt zur anderen, meistens nur recht wenig, manchmal etwas deutlicher, insgesamt gesehen jedoch in recht bedeutsamem Umfang. Deshalb mussten die Luftschiffe, die sich mehr oder minder über der Mitte des Nordamerikanischen Kratons, der uralten Granitmasse im Herzen des Kontinents aufhalten wollten, ihm geographisch gesehen folgen. Auch in dieser Hinsicht griffen sie auf die Vorgabe der chinesischen Expedition fünf Jahre zuvor zurück.
Leutnant Wu Yue-Sai stellte sich neben Maggie und nahm unerschrocken ihre Hand. »Es ist genau wie damals für uns an Bord der Zhen He«, sagte sie. »Als würden wir diese Welten, die gesamte Lange Erde, auf einmal sehen – mit den Augen eines Gottes.«
Nur wenige Stunden später rauschten die Schiffe unweit von Erde West 2.000.000 ohne anzuhalten durch die Lücke. Harry Ryan zeigte sich mit der Robustheit seiner Schiffe, die dabei einer gehörigen Dosis Vakuum und Schwerelosigkeit ausgesetzt waren, sehr zufrieden.
Nach der Lücke veränderte sich der Charakter der Erden ein wenig, wie sich bei kurzen Besuchen auf der einen oder anderen herausstellte, wo sie Proben entnahmen, Aufnahmen machten oder sich einfach nur umsahen. Die Welten wurden langweiliger. Die Wälder bestanden fast nur noch aus riesigen Farnen, die wiederum trockeneren Landschaften wichen, in denen sich die Vegetation auf die Flüsse und die Küsten der Ozeane beschränkte. Es schien jeweils ganze Gruppen ähnlicher Welten zu geben, die sich über Zehntausende oder gar Hunderttausende Schritte erstreckten, vergleichbar mit den Gürteln, die von den ersten Kartographen der Langen Erde vor einigen Jahrzehnten identifiziert worden waren.
Hemingway und seine Wissenschaftler versuchten, jeweils ein repräsentatives Beispiel zu untersuchen und zu beschreiben. Sie untersuchten geologische, geomorphologische und klimatologische Eigenheiten und achteten auch auf astronomische Besonderheiten wie zum Beispiel ungewöhnliche Merkmale des Mondes. Sie suchten sogar nach in fernen Ionosphären umherirrenden Radiosignalen und nach dem Schein von Lagerfeuern, die von Menschenhand entfacht worden waren, denn niemand wusste genau, wie weit die Speerspitze der Kolonisierung in den Jahren seit dem Wechseltag vorgedrungen war. Die Wissenschaftler berichteten, dass die Grundlagen der Vegetation und des tierischen Lebens auf jeder Seite der großen Unterbrechung, die die Lücke darstellte, sehr ähnlich seien, was keine große Überraschung war. Allerdings trafen sie jenseits der Lücke nicht mehr auf wechselnde Humanoide: weder Trolle noch Kobolde, keine der Spezies, die in den Nahen Welten relativ weit verbreitet waren. Auch das war keine große Überraschung, da, wie Maggie vermutete, die meisten Wechsler sich nicht auf das Risiko einließen, die Lücke zu überspringen. Einem erfahrenen Reisenden in der Langen Erde kam es jedoch eigenartig vor, Welten zu sehen, auf denen noch nie ein Troll gewesen war, Welten, auf denen die Ökologie nicht von ihrer massiven Anwesenheit beeinflusst worden war – Welten, die noch nie den Trollruf vernommen hatten.
Immer weiter ging die Reise. Wie ein Wasserfall rauschten Daten auf die Schiffe ein.
Aber es war stets das Leben, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Und das Leben, das sie erblickten, wurde immer eigenartiger.
Die meisten dieser Welten schienen vielfältiges Leben aufzuweisen, nicht nur Bakterien, sondern auch Tiere und Pflanzen. Doch die Welten der Langen Erde unterschieden sich voneinander durch zufällige Entwicklungen, Resultate von Ereignissen in der Vergangenheit, die dazu geführt hatten, dass sie sich entweder nur wenig oder ganz beträchtlich unterschieden. Und die großen Massenaussterben, die sich durch die Erdgeschichte zogen, kamen Maggie wie die schwerwiegendsten Folgen der kosmischen Schicksalswürfel vor. Sogar Welten, die sich näher an der Datum als an Walhalla befanden, schienen auf den großen Meteoreinschlag, der auf der Datum-Erde das Ende der Dinosaurier besiegelt hatte, unterschiedlich reagiert zu haben. Dort hatten die Menschen seltsame Tiere gefunden, die wie Dinosaurier, Säugetiere und Vögel waren, oft aber auch nicht.
Dort jedoch, wohin sich die Armstrong jetzt weiter und weiter hinauswagte, wurde alles immer eigenartiger. Maggie erfuhr, dass es eine weitere bedeutende Massenausrottung auf der Datum-Erde gegeben hatte, über zweihundert Millionen Jahre vor dem ersten Erscheinen des Menschen. Damals war eine Gemeinschaft vernichtet worden, die aus den ersten Säugetieren, aus frühen Dinosauriern und den Vorfahren der Krokodile bestanden hatte. Jetzt, Millionen Schritte von der Datum entfernt, trafen sie auf die Auswirkungen unterschiedlicher Entwicklungen nach diesem epochalen Ereignis, auf den Kopf gestellte Verhältnisse, in denen Säugetierraubtiere dinosaurierartige Pflanzenfresser jagten oder Insektenraubtiere krokodilähnliche Beute schlugen. Es gab Welten mit Krokodilen, die so groß wie Tyrannosaurier waren, oder mit mäusegroßen Greifvögeln mit nadelscharfen Zähnen …
Abgesehen von den Einzelheiten staunte Maggie in diesen ersten Tagen des rapiden Reisens vor allem über den schieren, unerbittlichen Durchsetzungswillen einer elementaren Lebenskraft, die sich überall, wo sie nur konnte, auszudrücken suchte, in welcher Weise auch immer, und das auf jeder möglichen Welt – eine Kraft, die sich in der Ausformung unglaublich vielfältiger Lebewesen äußerte, welche sich in unablässigem Wettbewerb herausgebildet hatten, Lebewesen, die atmeten, sich fortpflanzten, kämpften und starben.
Nach einer gewissen Zeit wurde man davon regelrecht überwältigt. Maggie zog sich in die vertraute Routine ihrer täglichen Arbeit zurück.