43
Vierundzwanzig Stunden, nachdem die Armstrong und die Cernan ihre Stellung über Happy Landings bezogen hatten, rief Kapitänin Maggie Armstrong den Kapitän der Cernan, Ed Cutler, zu sich in ihre Kajüte an Bord der Armstrong. »Wir müssen uns über Ihre Mitteilung unterhalten«, hatten ihre Worte gelautet.
Nach nochmaliger Überlegung lud sie auch Joe Mackenzie zu dem Treffen ein.
Bevor die Offiziere eintrafen, rieb sich Shi-mi an ihrem Bein. »Wieso Mac?«
»Vermutlich, weil ich eine Stimme der Vernunft mit dabeihaben möchte.«
»Ich bin eine Stimme der Vernunft.«
»Von wegen. Du lässt dich am besten überhaupt nicht blicken.«
»Wenn Mac kommt, sowieso …«
Mac erschien als Erster. Er kam direkt von der Arbeit und trug grüne, zerknitterte OP-Kleidung, zerknautscht und ganz zwanglos. »Was für ein Zirkus«, sagte er, als er sich in einen Sitz warf. »Cutler, dieser Idiot!«
»Was den ›Zirkus‹ angeht, stimme ich dir bei. Aber damit müssen wir umgehen. Was zu trinken, Mac?«
Ehe er antworten konnte, kam Kapitän Edward Cutler in voller Uniform herein. Er hatte eine kleine Aktentasche dabei und bestand darauf, in Habachtstellung stehend zu salutieren.
Mac grinste säuerlich. »Was den Drink angeht, Käpt’n«, sagte er, »haben Sie was mit purem Alkohol und Regenwasser? Das ist doch das Gift Ihrer Wahl, stimmt’s, Ed? Man muss stets an die Reinheit seiner kostbaren Körperflüssigkeiten denken.«
Cutler runzelte die Stirn. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden, Doktor.«
Maggie warf Mac einen tadelnden Blick zu. »Ich schon. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment für alte Filmscherze, Mac. Jetzt rühren Sie sich schon, Ed, um Himmels willen. Setzen Sie sich. Erzählen Sie mir noch einmal ausführlich, was Sie in Ihrer Notiz mitgeteilt haben.« Es ging um eine handgeschriebene Mitteilung, die Maggie von Adkins, Cutlers Stellvertreter, offenbar einem zuverlässigen Offizier, persönlich überbracht worden war.
»Sie haben sie doch bereits gelesen, Käpt’n …«
»Sie haben tatsächlich eine taktische Atomwaffe an Bord der Cernan?«
Mac blieb der Mund offen stehen. »Wovon reden wir hier eigentlich?«
»Wir reden von einer Atomwaffe, Doktor. Von der ich, bis zu unserer Ankunft hier, überhaupt nichts wusste. Und die wir allem Anschein nach den ganzen Weg bis zu Douglas Blacks Shangri-La und zurück mitgeführt haben. Ohne mein Wissen. Ed Cutler wusste jedoch die ganze Zeit über davon …«
»Sie verfügt in etwa über die Vernichtungskraft einer Hiroshima-Bombe.« Cutler schob die Aktentasche über den Schreibtisch zu ihr hinüber, aber sie öffnete sie nicht. »Die Anleitung, wie man sie scharfmacht, befindet sich in dieser Tasche, zusammen mit einer Kopie meiner Befehle. Erklärt sich alles von selbst. Man braucht immer einen zweiten Offizier, um den Einsatz zu autorisieren. Wer das ist, liegt in Ihrer Entscheidung. Es muss nicht unbedingt ich sein.«
»Schön zu wissen, dass ich wenigstens ein bisschen Spielraum habe.«
»Ich bin nur der Überbringer, wenn Sie so wollen.« Er leuchtete förmlich vor Selbstgerechtigkeit und vor Freude darüber, seine geheimen Befehle endlich ausführen zu können.
»Moment mal, nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Mac. »Wir hatten die ganze Zeit über eine verdammte Bombe dabei …«
»Und eine Wartungseinrichtung dafür.«
»Das wird ja immer schöner. Wir haben das Ding also bis zur Erde eine Viertelmilliarde und wieder zurückgeschleppt?«
»Ja. Sie wurde nicht eigens für die jetzige Mission an Bord verstaut, um hierhergebracht zu werden. Nach Happy Landings.« Er sprach den lächerlichen Namen so aus, als wäre er etwas Ketzerisches. »Sie war einfach als zusätzliche Option gedacht, Käpt’n. Im Falle einer besonderen Bedrohung.«
»Was für eine Bedrohung verlangt denn nach einer Atombombe, verdammt noch mal?«, knurrte Mac.
»Eine existentielle Bedrohung. Eine Bedrohung der gesamten Menschheit. Diejenigen, die diese Mission geplant haben, hatten keine genauen Vorstellungen, worum es sich dabei handeln könnte, Käpt’n. Sie hatten ja keine Ahnung, was wir hier draußen in der Langen Erde vorfinden würden – welchen Gefahren wir begegnen, welche Probleme wir aufwirbeln würden.«
»Ich kann mir viele Bedrohungen vorstellen«, sagte Maggie, »gegen die eine Atombombe überhaupt nicht hilft.«
»Stimmt. Aber wie gesagt, Käpt’n, die Befehle dienten allein dazu, Ihnen eine weitere Option an die Hand zu geben: Meine Aufgabe war es sicherzustellen, dass diese Option im Falle eines Falles zur Verfügung stand.«
»Und das oblag Ihrer Beurteilung.«
»Ganz recht, ja. Die letzte Entscheidung sollte jedoch immer bei Ihnen liegen. Ob Sie sie einsetzen oder nicht. Admiral Davidson war sich stets darüber im Klaren, dass ein Twain-Kapitän sehr viel Autonomie braucht, wenn er sich so weit von jeder Verbindung zur offiziellen Befehlskette entfernt. Genau darum ging es auch hier.«
In dieser Hinsicht hatte er natürlich recht. Vor dem Wechseltag waren die Streitkräfte, wie jeder andere auch, an eine dicht vernetzte Welt gewöhnt gewesen, in der man mit der Verzögerung von höchstens einigen Sekundenbruchteilen jederzeit mit jedem reden konnte. Nachdem der große Exodus in die Lange Erde eingesetzt hatte, war das alles nichtig geworden. In den noch ferneren Hohen Megas war Maggie von USLONGCOM so isoliert wie Kapitän Cook von der Admiralität in London, als er vor Hawaii ankerte. Die alten Modelle dezentraler Befehlsgewalt aus dem 18. und 19. Jahrhundert mussten wieder herausgekramt werden. Ja, Maggie verfügte über sehr viel Autonomie da draußen im Feld, und sie war dafür ausgebildet, mit solchen Entscheidungen umzugehen.
»Aber mit so einer Situation habe ich wirklich nicht gerechnet«, sagte sie. »Mit Ihnen und einer verdammten Atombombe.«
»Und welche überwältigende Bedrohung verlangt nach einer solchen Entscheidung?«, brummte Mac. »Eine Bande neunmalkluger Jugendlicher?«
»Die aus einem Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen sind, Doktor.« Cutler schüttelte den Kopf. »Die ein Schiff der US-Flotte zum Absturz gebracht haben. Bei denen es sich um ein neues Lebewesen handelt, das zwischen uns umhergeht und von dem man nicht weiß, wozu es fähig ist. Diese Leute sind eindeutig eine ›potenziell existenzielle Bedrohung‹ im Sinne meiner Befehle. Und dieser Ort hier, Happy Landings, ist eine Art Brutstätte, so viel steht fest. Ein Nest, wenn Sie wollen. Wir sind hierhergeschickt worden …«
»Um uns den Ort genau anzusehen!«, fiel ihm Mac ins Wort. »Um mit den Leuten zu reden! Deshalb sind unsere Gondeln mit Ethnologen, Anthropologen, Genetikern und Linguisten vollgestopft. So lauteten unsere Befehle!«
»Das war doch alles bloß zum Schein«, erwiderte Cutler herablassend.
»Hm«, machte Maggie. »In Ihrer Mitteilung behaupten Sie, Sie hätten die Bombe bereits scharfgemacht. Obwohl Sie mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal von ihrer Existenz berichtet hatten.«
»Auch das geschah streng nach Befehl, Kapitän Kauffman.« Er tippte auf seine Aktentasche. »Jetzt müssen Sie nur noch Ihre Entscheidung treffen. Mit diesem Gerät können Sie die Waffe wieder entschärfen, wir können sie zurückziehen und wieder entfernen. Oder …«
»Schon gut, Ed, Sie haben genug gesagt. Bitte gehen Sie.«
Er erhob sich, blasiert, glatt, akribisch gekämmt. »Ich habe meine Befehle ausgeführt. Falls Sie noch mehr Unterstützung meinerseits benö…«
»Bestimmt nicht.«
Als er endlich draußen war, griff sie unter die Schreibtischplatte. »Jetzt brauche ich wirklich was zu trinken, Mac. Großer Gott! Als hätte ich nicht schon genug mit den Nachwirkungen unserer Mission zu tun.«
Mac nickte nur zustimmend. Ihre lange Reise hatte eine ungelöste Frage hinterlassen. Auf dem Rückweg hatten sie die Truppe, die Maggie zurückgelassen hatte, um die Krabbenkultur auf Erde West 17.297.031 zu untersuchen, wieder abgeholt. Aber zuvor, auf der Monderde West 247.830.855, waren die dort zurückgelassenen Wissenschaftler nicht mehr aufzufinden gewesen. Aufgrund der zur Neige gehenden Schiffsvorräte hatten sie nicht länger nach ihnen suchen können, und Maggie war nicht gewillt, noch weitere ihrer Leute als Suchtrupp zurückzulassen, schon weil sie nicht wusste, wann und ob überhaupt wieder eine nächste Mission dorthin ausgesandt würde. Also hatten sie Vorräte, Funkfeuer und Nachrichten zurückgelassen, sogar Wechselboxen, falls die verschwundene Mannschaft wieder zum Treffpunkt zurückfand, und waren nach Hause gefahren. Maggie verlor nicht gerne Leute. Sofort nach ihrer Rückkehr hatte sie eilig die Familien aufgesucht, bevor Davidson sie mit einer neuen Mission beauftragt und wieder hinausgeschickt hatte – hierher.
Jetzt hockte sie hier wie eine unglückliche Henne auf einer Atomwaffe.
»Dieser Cutler«, brummte sie und goss Mac seinen Whisky ein. »Mir ist noch nie jemand begegnet, der seine Rolle im Leben so gut ausfüllt.«
Mac grunzte. »Und der woanders auch gar nicht reinpassen würde. Wohingegen Sie ein bisschen amorpher sind. Deshalb sind Sie auch seine Vorgesetzte, Maggie, und nicht umgekehrt. Womit bewiesen wäre, dass unsere Vorgesetzten doch keine kompletten Idioten sind, jedenfalls nicht alle.«
»Absolute Zustimmung. Aber wissen Sie, man hat schon über Cutler und seine Rolle bei dieser Mission gemunkelt, bevor wir die Datum überhaupt verlassen hatten. Ich weiß noch, wie Nathan Boss zu mir kam und von Gerüchten erzählte, Cutler habe von Davidson einen besonderen Auftrag erhalten.«
Mac ging nicht darauf ein. »Na und? Hören Sie, Ed Cutler spielt keine Rolle mehr. Er hat seine Aufgabe erfüllt. Jetzt zählt nur, wie Sie mit diesem Schalter vor Ihnen auf dem Schreibtisch umgehen.«
»Ich würde das Ding am liebsten kurz und klein schlagen, Mac. Ganz ehrlich. Ich soll hier nicht nur über das Schicksal dieser paar Next entscheiden, was immer sie auch sein mögen, sondern über das aller Bewohner von Happy Landings. Wir reden hier von einer Atombombe. Das gibt jede Menge Kollateralschaden …«
»Aber Sie können die Entscheidung nicht einfach aussitzen.«
»Nein, das geht nicht. Ich muss die Sache sehr ernst nehmen.«
»Ein karriereentscheidender Moment?«
»Mehr als das, Mac. Lebensentscheidend. Egal, wie ich mich entscheide, ich muss für den Rest meiner Tage damit leben.« Sie massierte sich die Schläfen. »Eins ist klar. Es reicht nicht, einfach abzuwarten und meinem Gewissen zu lauschen. Ich muss die Sache offen ansprechen. Mir Rat holen.«
»Eine Anhörung einberufen«, sagte Mac.
»Was?«
»Besorgen Sie sich ein paar Ratgeber. Einen für jede Position, für und gegen den Einsatz der Atombombe. Diejenigen müssten die Meinung, die sie einnehmen, nicht unbedingt vertreten. Sie sollten nur logisch argumentieren.«
»Keine schlechte Idee.« Sie sah ihn an. »Wissen Sie, was? Sie haben sich gerade freiwillig gemeldet.«
Er nippte an seinem Single Malt. »Hab mir schon gedacht, dass mir so was passieren könnte. Ist mir ein Vergnügen.«
»Ich fürchte, dass es kein so großes Vergnügen sein wird.«
»Wie bitte?«
»Ich kann keinen durchgeknallten Fanatiker wie zum Beispiel Ed Cutler für die Atombombe sprechen lassen. Ich brauche jemanden, der bei Trost ist. Sie, Mac.«
»Moment mal. Ich soll dafür sprechen, die Bombe zu schmeißen?«
»Ich habe doch gerade gesagt, dass die jeweiligen Vertreter nicht notwendigerweise persönlich hinter ihrer Position stehen müssen …«
»Herrgott noch mal, ich bin Arzt. Wie soll ich denn für Massenvernichtung plädieren?«
»Indem Sie Ihr Gewissen beiseiteschieben und an die Vernunft appellieren. Wie Sie bereits gesagt haben. Sie sind Arzt, aber Sie sind auch Soldat. Betrachten Sie es doch von dieser Seite, Mac. Wenn die Logik, die Sie in die Waagschale werfen, Sie selbst überzeugt, dann gewinnen Sie auch die Debatte.«
»Sie haben gesagt, dass Sie mit dieser Entscheidung den Rest Ihrer Tage leben müssen, so oder so. Falls ich die Debatte gewinnen sollte … könnte ich mir das nie verzeihen. Nicht einmal ein Priester könnte so etwas vergeben.«
»Ich weiß es durchaus zu schätzen, wie schwer Sie es sich damit machen, Mac. Helfen Sie mir?«
»Ist das ein Befehl?«
»Natürlich nicht.«
»Zum Teufel damit. Zum Teufel mit Ihnen.« Er leerte sein Glas und erhob sich. »Wann?«
Sie überlegte. »Die Bombe ist noch geheim, aber das dürfte sie nicht mehr lange bleiben. In vierundzwanzig Stunden, Mac. Hier bei mir.«
»Herrgott noch mal. Herrgott noch mal.« Er ging zur Tür. »Wen holen Sie sich für die Gegenposition?«
»Weiß ich noch nicht. Darüber muss ich noch nachdenken.«
»Herrgott noch mal.« Er knallte die Tür hinter sich zu.
Maggie lehnte sich zurück, seufzte, überlegte, ob sie sich noch einen Whisky gönnen sollte, und entschied sich dagegen.
Shi-mi erschien von dort, wo sie sich versteckt hatte, und sprang auf den Schreibtisch. Sie schnüffelte an der Aktentasche, ihre elektronischen Augen glitzerten misstrauisch. »Ich habe dir ja gesagt, dass Cutler als Waffe mit an Bord ist, Käpt’n«, sagte sie.
»Ja, ja.«
»Meine Intuition hat nicht getrogen. Aber selbst ich hätte mir nicht träumen lassen, wie buchstäblich nah ich damit an der Wahrheit war.«
»Ist ja gut, Klugscheißerin. Unsere Frage lautet jetzt: Wie gehen wir weiter vor?«
»Du musst eine Entscheidung treffen«, antwortete Shi-mi. »Die Idee mit dieser Anhörung ist nicht schlecht. Aber wie Mac schon gefragt hat – wer soll dafür sprechen, die Next zu verschonen?«
»Vermutlich einer von ihnen.«
»Nein. Es darf keiner der Next sein.«
»Warum nicht?«
»Denk doch mal logisch«, sagte Shi-mi. »Es geht doch darum, dass diese Next keine Menschen sind. Sie sind eine neue Spezies, und genau deshalb stellen sie eine Bedrohung für die Menschheit dar. Daraus folgt, dass wir eine menschliche Entscheidung treffen müssen. Sie kann nicht, nicht einmal teilweise, von den Next selbst getroffen werden. Du brauchst einen Menschen, der für ihr Überleben plädiert, der eine Sache vertritt, die auf den Interessen der Menschheit basiert, nicht auf den Interessen der Next. Natürlich darf er sich Argumente und Beweise von überall her besorgen.«
»Warum sagst du ›er‹? An wen denkst du?«
»Joshua Valienté.«
»Den Superwechsler? Kennst du ihn?«
»Ein alter Freund.«
»Warum erstaunt mich das nicht? Ist er denn hier? Und woher weißt du das? Ach, ist ja auch egal. Natürlich weißt du es. Kannst du ihn ausfindig machen? Ihn bitten herzukommen?«
»Überlass das alles mir.« Die Katze sprang vom Schreibtisch.