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Mit ihrem letzten Schritt tauchte Sally in der Nähe der Einrichtungen von GapSpace auf, sicherheitshalber etwa eine halbe Meile vom Zaun entfernt. Hinter dem Zaun befand sich etwas, das wie eine Schwerindustrieanlage aussah, klobige Blöcke sowie Kuppeln und Türme aus Beton, Backstein und Eisen, teilweise in dicken Rauch gehüllt oder in die Dampfwolken austretender Tieftemperaturflüssigkeiten.
Willis Linsay, ihr Vater, hatte sie an einem ganz bestimmten Tag an diesen Ort bestellt. Wie das erneute Zusammentreffen mit ihm auch ausgehen würde, sie stand an diesem Januartag jedenfalls an der verabredeten Stelle in dieser überaus seltsamen Gegend einer Version von Nordwestengland, mehr als zwei Millionen Schritte von der Datum entfernt. Oberflächlich betrachtet, war es ein öder britischer Wintertag, trübe und kalt.
Trotzdem war die Unendlichkeit nur einen Schritt entfernt.
Der Mond stand am Himmel, aber es war nicht der Mond, den sie als Kind gekannt hatte. Ein Asteroid, den die Nerds von GapSpace Bellos nannten, hatte diesen Mond buchstäblich mit so vielen neuen Kratern bekleckert, dass das Mare Imbrium beinahe nicht mehr zu erkennen war. Die strahlenförmigen Muster eines gewaltigen Einschlags, sehr viel größer als der Kopernikuskrater, zogen sich über die halbe Scheibe. Bellos war aus den Himmeln vieler Wechselwelten hervorgeschossen, seine Flugbahn eine Frage des kosmischen Zufalls, und der jeweiligen Erde dann nahe gekommen oder auch nicht. Ungezählte Milliarden von Erden hatte er verfehlt, einige Dutzend aber, wie diese hier, hatten das Pech gehabt, seinen Pfad so dicht zu kreuzen, dass sie viele Einschläge durch herumirrende Bruchstücke erlitten hatten. Und eine Erde war so schwer getroffen worden, dass es sie komplett zerrissen hatte.
Derlei Dinge mussten sich in der Langen Erde ständig ereignen. Wer hatte einmal gesagt, dass in einem unendlichen Universum alles, was geschehen kann, auch irgendwo geschieht? Das bedeutete für einen unendlichen Planeten … Alles, was geschehen kann, musste irgendwo geschehen.
Sally Linsay hatte diese riesige Wunde, die Lücke in der Weltenkette, damals gefunden, gemeinsam mit Joshua Valienté und Lobsang. Ihr Twain war in den leeren Raum gefallen, ins Vakuum, in ungefiltertes Sonnenlicht, das wie ein Messer zustach … Dann waren sie zurückgewechselt und hatten überlebt.
Die Luft hier war kalt, aber Sally saugte sie in sich ein, bis der Sauerstoff sie trunken machte. Sie hatte den Fall in die Lücke schon einmal überlebt. Wollte sie jetzt wirklich dorthin zurück?
Sie musste es. Zum einen hatte ihr Vater sie darum gebeten. Zum anderen arbeiteten dort jetzt Leute. In der Lücke, im Weltraum. Das, was da vor ihr lag, war ihre Basis, einen Schritt von der Lücke selbst entfernt.
Der stete Wind vom Meer war genauso, wie sie es von ihrem letzten Besuch vor fünf Jahren mit Monica Jansson in Erinnerung hatte. Damals, in einer anderen Zeit. Der Zeit vor Yellowstone. Der weite Himmel, die Schreie der Vögel, alles war unverändert. Ansonsten hätte sie den Ort nicht wiedererkannt. Sogar der Zaun vor ihr hatte sich von einer lächerlichen Sperre zu einer regelrechten Berliner Mauer gemausert, einem bedrohlichen Gebilde aus Beton und Wachttürmen. Zweifellos war die Anlage selbst mit allerneuesten Anti-Wechsler-Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet.
Der Sinn und Zweck dieser Anlage lag auf der Hand. Sie konnte bereits die Silhouette einer Rakete erkennen, elegant, klassisch und unverwechselbar. Es handelte sich tatsächlich um eine Raketenabschussbasis. Aber wenn man genauer hinsah, erinnerte nicht viel an Cape Canaveral. Es gab keine hochaufragenden Gerüste, und diese einzelne Rakete, die sie erspäht hatte, war eher klein und gedrungen. Es fehlten die gewaltigen Hüllen der Shuttles oder einer Saturn V – sie war ganz eindeutig nicht dafür gebaut, die Schwerkraft der Erde zu überwinden. Diese Rakete musste sich auch nicht aus der Schwerkraft lösen, und genau darum ging es. Diese Rakete sollte nicht in den Himmel geschossen werden, sondern vielmehr wechselwärtig, in die Leere des Universums gleich nebenan.
Insgesamt glich der gesamte Komplex nicht mehr wie damals einer liebenswert altmodischen Raketenbastelbude, sondern sah aus wie der überdimensionierte Spielplatz ernstzunehmender Ingenieure. In den letzten paar Jahren war die Lücke zum großen Geschäft geworden, so viel wusste Sally. Regierungen, Universitäten und Firmen, die auf der Datum zu Hause waren, hatten nach und nach das Potenzial dieses Ortes erkannt. Jetzt verkündeten Reklametafeln die Namen sämtlicher großen Technikfirmen, die Sally kannte, von Lockheed und IBM über die Handelsgesellschaft Lange Erde bis natürlich zur Black Corporation. Diese Einrichtung hier war inzwischen der wahrscheinlich am dichtesten bewohnte Ort in der Langen Erde jenseits von Walhalla, der größten Stadt in den Hohen Megas.
Aus genau diesem Grund hatte sie den Ort schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht. Und deshalb fiel es ihr schwer, auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu machen. Es war, als hätte sie eine regelrechte Phobie befallen. Joshua Valienté würde sich unter diesen Umständen sicherlich besser anstellen. Der gute alte Joshua schien sich mittlerweile in vergleichbar beengten gesellschaftlichen Situationen einigermaßen wohlzufühlen, wohingegen sie immer mehr zur Einzelgängerin und verbiesterten Misanthropin wurde.
Aber schließlich hatte ihr Vater sie hierhergerufen, und den konnte nichts verändern, weder zum Guten noch zum Schlechten. Willis Linsay, ihr guter alter Paps: Erfinder der Wechsel-Box, eines Geräts, das er vermutlich direkt unter Pandoras Nase aus der Büchse geklaut und auf eine ahnungslose Welt losgelassen hatte. So etwas war einfach typisch ihr Vater, frickel-frickel-frickel. Wenn man ihn nirgendwo finden konnte, musste man nur dem Rumsen der Explosionen und dem Heulen der Sirenen folgen …
Und während sie noch zögernd und unsicher dastand, kam er auch schon auf sie zu, ging ihr mit zuversichtlichen Schritten aus der Umfriedung des Geländes entgegen, um sie zu begrüßen. Woher hatte er gewusst, dass sie dort stand? Ach, er wusste es eben einfach.
Er war größer als sie, denn was Hautfarbe und Gestalt anging, kam sie mehr nach ihrer Mutter. Und er war dünner denn je, wie ein Mann, der nur aus Sehnen und Knochen bestand. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er offensichtlich jahrelang bloß von Brandy, Kartoffeln und Zucker gelebt.
Als er sie fast erreicht hatte, wurde er langsamer. Schließlich standen sie sich misstrauisch gegenüber und musterten einander.
»Du bist also hergekommen.«
»Was willst du, Vater?«
Er grinste mit dem leicht verwirrten Gesichtsausdruck, an den sie sich nur zu genau erinnerte. »Immer noch dieselbe alte Sally. Immer gleich zur Sache, hm?«
»Hat es irgendeinen Sinn, dich zu fragen, was du die ganze Zeit über gemacht hast, seit … verdammt noch mal, seit du am Wechseltag die ganze Welt auf den Kopf gestellt hast?«
»Ich habe mich mit Projekten beschäftigt«, murmelte er. »Du kennst mich doch. Sachen, die du entweder nicht verstehst oder von denen du gar nichts wissen willst. Es reicht, wenn ich dir sage, dass sie alle dem Allgemeinwohl dienen.«
»Deiner Meinung nach.«
»Meiner Meinung nach.«
»Gibt es jetzt ein neues Projekt, für das du mich hierherbestellt hast?«
»Hierher?« Er drehte sich zu der Anlage namens GapSpace um. »Das da ist bloß eine Zwischenstation zu unserem eigentlichen Ziel.«
»Und wo befindet sich das?«
»Es handelt sich um den Langen Mars«, antwortete er einfach so.
Sally Linsay war an Wunder gewöhnt. Sie war mit der Fähigkeit zu wechseln aufgewachsen und hatte schon als Kind unzählige fremde Welten besucht. Trotzdem war ihr, als sie diese Worte vernahm, als würde sich das Universum plötzlich immer schneller um sie drehen.
Am Tor zum Gelände wartete ein Mann, den ihr Vater als Al Raup vorstellte. Sein Kopf war kahlrasiert, dafür spross ihm ein dichter schwarzer Bart am Kinn, was fast so aussah, als wäre das Gesicht einmal um seine Achse, die knubbelige Nase, gedreht worden und sitze jetzt falsch herum. Er trug Shorts aus Segeltuch, schmuddelige Turnschuhe ohne Socken und ein schwarzes T-Shirt, auf dem sich der Spruch JETZT BRAT MIR EINER’N STORCH viel zu eng um seinen Bauch spannte. Er konnte alles zwischen dreißig und fünfzig sein.
Raup streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Nennen Sie mich Mr Ttt.« Th-th-th.
Sie ignorierte die Hand. »Hallo, Al Raup.«
Willis hob eine Augenbraue. »Jetzt stell dich nicht so an, Sal.«
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen meine Wirkungsstätte …«
Raup schleuste sie durch die Sicherheitssperren, dann gingen sie über das Gelände. Sally hörte das tiefe Brummen schwerer Fahrzeuge, roch Ziegelstaub und nassen Beton und sah riesige Kräne über tiefen Löchern aufragen. Überall gingen Arbeiter mit gelben Schutzhelmen umher. Hier und da fielen ihr Schilder mit der Aufschrift »Gefahr« oder »Radioaktivität« auf, die hatte es bei ihrem letzten Besuch noch nicht gegeben. Wurden hier etwa Atomraketen entwickelt?
Sie bemerkte auch einen Trupp Trolle, der allem Anschein nach glücklich und zufrieden an einem Betonmischer arbeitete. Für Technologie und für Menschen interessierte sich Sally nicht besonders. Für Tiere schon.
»Also«, sagte Raup, »dann herzlich willkommen in Cape Nerdaveral, Marsonauten!«
»Sie sind genau wie diese Typen, die ich schon bei meinem letzten Besuch hier kennengelernt habe«, erwiderte Sally schroff.
»Ach ja. Als Sie diese Trolle entführt haben.«
»Wir haben sie befreit. Freut mich, dass Leute wie Sie mit der Kommerzialisierung dieses Unternehmens nicht gleich mit ausgerottet wurden.«
Raup wackelte mit seinem dicken Zeigefinger. »Nein, nein, wir Geeks waren zuerst hier. Wir haben die Grundparameter ausgetüftelt, wie man sich die Lücke zunutze machen kann, wir haben mit dem Bau des Backsteinmondes angefangen und die ersten Probestarts durchgeführt. Und zwar noch ehe irgendjemandem aufgefallen ist, dass wir überhaupt hier sind.« Seine Aussprache klang nach amerikanischer Mittelschicht, aber er redete eigenartig gepresst und übertrieben, mit gedehnten Vokalen und überpräzisen Konsonanten. Sie vermutete, dass er alles, was er sagte, vorher in seinem Kopf ausführlich geprobt hatte, falls er jemals in die Verlegenheit kam, das Thema einem Publikum zu präsentieren. »Wir sind keine blutigen Anfänger. Wir haben eine Menge Patente angemeldet. Aber letztendlich hatten diese Firmentypen kein Interesse daran, uns über den Tisch zu ziehen. Es war einfacher, uns aufzukaufen. Für ihre Verhältnisse waren wir relativ billig, und wir hatten die Kompetenzen, die sie dringend benötigten.« Er grinste. »Wir Gründer sind jetzt alle Dollar-Millionäre. Wie cool ist das denn?«
Sally interessierte das alles herzlich wenig, sie ging nicht auf seine großspurigen Sprüche ein.
Zwischen den gewaltigen Industrieanlagen sah sie langgezogene Wohnblöcke, Bars, ein Hotel, ein Kino mit Theatersaal, zahlreiche Casinos und Spielhöllen und auch zwielichtigere Etablissements, bei denen es sich wahrscheinlich um Striplokale und Bordelle handelte. Es gab auch eine bescheidene Kapelle, die, wie es aussah, aus einheimischer Eiche errichtet war, mit einem kleinen Friedhof hinter einer niederen Steinmauer – eine ständige Erinnerung daran, dass die Raumfahrt sogar hier eine gefährliche Beschäftigung war.
»Wie ich sehe, mangelt es Ihnen nicht an Gelegenheiten, die vielen Dollars wieder auszugeben.«
»Ja, stimmt. Hier ist es ein bisschen wie in einer alten Goldgräberstadt im Wilden Westen«, erwiderte Raup. »Oder auf einer Bohrinsel. Oder vielleicht sogar wie in den Gründerzeiten Hollywoods, falls Sie etwas mehr Glamour möchten. Dabei muss man heutzutage echt aufpassen, wo man hintritt.«
»Er meint, dass es hier organisierte Kriminalität gibt«, murmelte Willis. »Das Verbrechen wird von solchen Orten wie magisch angezogen. Es gab bereits mehrere Morde, wegen Spielschulden und dergleichen. Recht beliebt ist die Methode, das Opfer einfach ohne Druckanzug und ohne Box in die Lücke zu befördern. Sie nennen es: Bei den Sternen schlafen. Deswegen sind hier so viele Sicherheitskräfte zu sehen, wegen der wachsenden Kriminalität und als Schutz vor Saboteuren.«
»Trotzdem ist es hier immer noch absolut cool«, sagte Raup.
Sally überging auch diese Bemerkung.
Im Zentrum des Komplexes erreichten sie eine Art Hauptstraße, die von brandneuen Bürogebäuden aus glänzend weißem, noch fleckenlosem Beton gesäumt war. Raup führte sie zu einem niedrigen, auffälligen Gebäude mit einer Bronzeplakette: ROBERT A. HEINLEIN AUDITORIUM. Vor der Tür stand eine Menschenmenge, und Raup musste irgendwelche Ausweise vorzeigen, damit sie an der langen Schlange vorbeigehen konnten. »Das Ding haben wir extra für große Pressekonferenzen bauen lassen«, sagte er, als müsste er sich dafür rechtfertigen. »Unsere obersten Firmenchefs haben darauf bestanden. Normalerweise ist hier nichts los. Aber Sie haben Glück, Miss Linsay, angeblich haben die Regenschauer auf dem Mars so weit nachgelassen, dass die Einsatzleitung des Envoy noch heute eine Landung versuchen kann. Von daher stehen die Chancen nicht schlecht, dass wir gleich ein bisschen angeben können, während wir Ihnen zeigen, was wir hier so treiben.«
Sally sah ihren Vater an. »Regenschauer? Auf dem Mars?«
»Es ist nicht unser Mars«, erwiderte er. »Du wirst schon sehen.«
Raup führte sie in einen großen Hörsaal mit vielen Sitzreihen vor einem Rednerpult. An den Wänden hingen große Bildschirme. Überall saßen und standen aufgeregt schnatternde Techniker und Wissenschaftler. Momentan waren die Wandschirme noch leer, aber kleinere Monitore und Tablets im ganzen Raum zeigten grobkörnige Farbaufnahmen, kontrastverstärkt und stark vergrößert. Sally erblickte Bruchstücke von Landschaften, graublauen Himmel und rostroten Boden.
»Wow«, sagte Raup, als er die Bilder sah, und diesmal hörte es sich an, als hätte er die Gefühle, die sich Bahn brachen, nicht vorher geprobt: »Sieht so aus, als hätten sie es geschafft. Sie haben den Envoy gelandet. Es ist uns zum allerersten Mal gelungen, auf dieser Kopie des Mars.«
»Den Envoy?«
»Der Name für eine Baureihe unbemannter Raumsonden.« Raup lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einige Fotodrucke an der Wand: Aufnahmen von etlichen Teilstücken eines Planeten, aufgenommen aus dem Weltall. »Die ersten Envoy-Missionen waren nur Vorbeiflüge, das hier sind Bilder, die sie uns übermittelt haben. Heute fand die erste tatsächliche Landung statt, ein notwendiger Schritt vor den geplanten bemannten Missionen. Die allerneuesten Bilder, live vom Mars in der Lücke!«
Willis schnaubte verächtlich. »Schon, aber die Farben stimmen überhaupt nicht. Der Himmel dort sieht nicht annähernd so aus.«
Sally starrte ihren Vater an. Wenn das hier die erste Landung auf dem Mars war – woher wollte er das wissen? Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass der Versuch, ihn auszufragen, sinnlos war.
Raup sagte: »Die Sonde selbst ist letztendlich nur ein Test, verstehen Sie? Fürs Erste liefern wir bloß Beweise für die Machbarkeit unserer Antriebstechnik. Mit der Lücke lässt sich unglaublich viel anfangen. Wir bringen Rampen für Atomraketen hierher – Trägheitsfusion, falls Sie mit der Technologie vertraut sind –, und mit diesen Dingern kommen wir in wenigen Wochen zum Mars, im Gegensatz zu den sieben, acht oder neun Monaten, die wir vorher dafür brauchten, je nachdem, wie die Planeten gerade zueinander stehen …«
Sally wusste kaum etwas über Atomraketentechnik und sie interessierte sich auch nicht dafür, aber die Fotos hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Auf einem war eine Scheibe zu sehen, vermutlich die volle Marskugel, wie man sie aus dem All sah – aber es war nicht der Mars, an den sie sich von den NASA-Aufnahmen zu Hause auf der Datum erinnerte. Dieser Mars zeigte ein verwaschenes Rosa mit filigranen Wolkenschlieren und stahlgrauen Flecken, die in der Sonne glitzerten: Seen, Meere, Flüsse. Fließendes, flüssiges Wasser, auf dem Mars, vom All aus zu erkennen. Da war auch Grün zu sehen, das Grün des Lebens.
»Ich hab’s dir ja gesagt«, meinte Willis. »Dieser Mars ist anders.«
»Sie wissen, dass Sie hier den Mars des Lückenuniversums sehen, des Universums, das sich einen Schritt von hier befindet«, sagte Raup, jetzt wieder in seinem einstudierten Modus. »Die Bilder werden zum Backsteinmond gefunkt, unserem Stützpunkt in der Lücke. Wir haben ein cleveres System entwickelt, mit dem die Daten paketweise zu unseren Einrichtungen hier herüberwechseln … Unser Mars ist eine tiefgefrorene Wüste. Dieser Mars, der Lückenmars, ähnelt eher Arizona, nur in größerer Höhe. Die Envoys haben den höheren Luftdruck bestätigt. Auf diesem Mars könnten Sie mit Gesichtsmaske und Sonnencreme frei herumspazieren. Unser Startfenster hat unseren Zwillingsboten leider mitten in der schlimmsten Gewittersaison ankommen lassen, die wir bisher auf dem Lückenmars beobachtet haben, und wir beobachten die Verhältnisse dort schon seit, äh, gut zehn Jahren. Keine Sandstürme, sondern Regen, Schnee, Hagel, Blitze. Der Kontrollraum will bei solchen Wetterextremen kein Risiko eingehen, deshalb übermitteln die Kameras der Sonden seit Wochen nicht viel anderes als Lichtblitze. Jetzt haben sich die Unwetter aber gelegt, und die Einsatzleitung hat offensichtlich grünes Licht für eine Landung gegeben. Wir warten nur noch darauf, dass sich die Bilder stabilisieren …«
Schon scharten sich die Techniker und Wissenschaftler aufgeregt näher um die TV-Monitore und Tablets. Die Live-Bilder klarten auf, als ließe ein Schneesturm allmählich nach. Sally erblickte die Flanke eines rundlichen Fluggeräts, das auf einer Oberfläche ruhte, die wie nasser, grober Sand aussah, wie ein Strand, den eine soeben zurückgewichene Flut freigegeben hat. Die Kamera musste auf dem Fluggerät selbst installiert sein. Sally sah deutlich das auf die Hülle aufgemalte Sternenbanner.
Dann schwenkte die Kamera weiter auf ein flaches Tal mit einem Fluss und widerstandsfähig aussehender graugrüner Vegetation, die an seinen Ufern wucherte. Leben auf dem Mars.
Die Poindexter-Typen grölten und jubelten.
Anschließend zogen die drei sich in ein kleines Café zurück.
»Schön und gut«, wandte sich Sally ohne weitere Umschweife an Willis, »jetzt reicht’s mit den Raumtrophäen und den rätselhaften Andeutungen. Erzähl mir bitte, und zwar in beliebiger Reihenfolge« – sie zählte die Punkte an den Fingern ab –, »warum du zum Mars willst, wie du dort hinkommen willst und warum um alles in sämtlichen Welten ich dich dabei begleiten sollte.«
Willis Linsay musterte sie durchtrieben. Er war inzwischen siebzig Jahre alt, seine faltige Gesichtshaut sah zäh wie Leder aus. »Es dürfte eine Weile dauern, dir das ausführlich zu erklären. In ganz knappen Worten: Ich will auf diesen Mars, den Lückenmars, weil er nicht einfach der Mars ist. Er ist nicht mal der Mars mit einem deutlich anderen Klima. Er ist ein Langer Mars.«
Sie ließ die Worte einen Moment auf sich wirken. »Das hast du schon mal gesagt. Ein Langer Mars. Willst du damit sagen, dass man dort wechseln kann?«
Er nickte.
»Woher weißt du das? … Nein, bitte keine Antwort darauf.«
»Ich erwarte, dass ich dort etwas Bestimmtes finde, nach dem ich schon lange suche. Das siehst du dann schon. Vorerst solltest du wissen, dass eine Welt, die Lang ist, auch intelligentes Leben beherbergen muss.« Er sah sie an. »So weit kannst du mir folgen, oder? Die Theorie der Langen Erde, die Kopplung von Bewusstsein und Topologie …«
Sally stand vor Staunen der Mund offen. »Mal langsam. Noch mal zurück. Du hast mal wieder eine gedankliche Bombe gezündet. Intelligentes Leben? Du hast intelligentes Leben auf dem Mars entdeckt?«
»Nicht auf dem Mars«, antwortete er ein wenig ungeduldig. »Auf einem Mars. Außerdem habe ich es nicht entdeckt, sondern seine notwendige Existenz abgeleitet. Im Denken bist du schon immer ein wenig nachlässig gewesen, Sally.«
Bei so viel Stichelei musste sie instinktiv zurückschlagen, so wie sie es immer getan hatte, seitdem sie alt genug war, um eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Also sagte sie provozierend: »Mellanier würde dir da nicht zustimmen. Was intelligentes Leben und die Lange Erde angeht oder dass eine Lange Welt irgendwie mit Bewusstsein zusammenhängt.«
Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Ach, der Scharlatan. Was das angeht, dass du mich bei meiner Forschungsreise begleitest … also, warum zum Teufel solltest du es ablehnen?« Er ließ den Blick über die Geeks in dem Café wandern, die lautstark ihren Triumph feierten. »Sieh dir diese Hirnis an, wie sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen. Ich kenne dich, Sally. Dir wäre es am liebsten, alles wäre noch so, wie es vor dem Wechseltag war, als die Lange Erde uns gehört hat, stimmt’s? Jedenfalls das Lange Wyoming. Ehe ich auf die Idee mit der Wechsel-Box kam, konnte ich allein nicht wechseln, ich war auf dich angewiesen, aber …«
»Du hast mir vorgelesen. Geschichten von anderen Welten, von Tolkien und Niven und E. Nesbit, und ich habe immer so getan, als würden wir dorthin reisen …« Sie verstummte. Nostalgische Gefühle hatte sie immer als eine Schwäche betrachtet.
»Und jetzt ist alles voll mit Dumpfbacken wie denen da drüben. Nichts für ungut, Al.«
»Kein Problem.«
»Sally, ich weiß, dass du immer noch viel Zeit alleine verbringst. Würdest du nicht gern eine ganz neue Welt betreten wollen, eine unberührte Welt, die bis auf uns völlig leer ist? Na ja, bis auf uns und ein paar Marsbewohner? Die Menschheit eine Weile einfach hinter dir lassen?«
Und Lobsang, dachte sie.
Schwitzend und aufdringlich beugte sich Raup zu ihr. »Was die Frage angeht, wie man dort hinkommt: Sie haben vielleicht schon mitgekriegt, dass das Raumprogramm, das wir hier entwickeln, wesentlich schnellere Fortschritte macht als das von diesen Schlaftabletten damals auf der Erde. Natürlich bauen wir auf dem auf, was damals herausgefunden wurde, und verwenden es …«
»Worauf wollen Sie hinaus, Sie Schlaumeier?«
»Unterm Strich darauf, dass wir startbereit sind. Das erste bemannte Raumschiff zum Mars steht auf dem Backsteinmond bereit, nur einen Schritt von hier in der Lücke. Wir haben nur darauf gewartet, dass uns die unbemannten Landeeinheiten die atmosphärischen Bedingungen und so weiter auf dem Planeten bestätigen. Genau das ist heute passiert.«
»Wir? Wer nimmt denn alles an dieser Mission teil?«
Raup blies die Backen auf und hob den beachtlichen Bauch. »Unsere Mannschaft besteht aus drei Leuten, genau wie bei den Apollo-Flügen. Sie, Ihr Vater und ich.«
»Sie.«
»Ich weiß, was du denkst«, mischte sich Willis ein. »Aber du und ich, Sally, wir sind keine Astronauten …«
»Dieser Fettkloß auch nicht. Vater, ich kann unmöglich Monate mit diesem Kerl eingesperrt in einer Konservendose verbringen.«
Willis wirkte unbeeindruckt. »Hast du eine Alternative?«
»Hängt vielleicht noch ein Typ namens Frank Wood hier herum?«