18
Ein Jahr nach jener ersten Begegnung in Happy Landings traf Joshua den kleinen Paul Spencer Wagoner abermals – diesmal in Madison West 5.
»Hallo, Mr Valienté!«
Joshua stand mit Schwester Georgina auf dem kleinen Friedhof neben dem Heim, das damals von seiner alten Freundin geleitet wurde. Nach dem Bombenangriff auf Madison war das Kinderheim in West 5 gewissenhaft wiederaufgebaut worden, und auf dem neuen Friedhof gab es erst zwei Steine. Der jüngste war für Schwester Serendipity, eine leidenschaftliche Köchin, deren Begeisterung Joshuas junges Leben stets erleuchtet hatte – und die, so wollten es die Legenden des Heims, auf der Flucht vor dem FBI gewesen war. Ihre Beerdigung hatte ihn wieder einmal hierhergeführt.
Und jetzt begrüßte ihn Paul mit heller Stimme, ein wenig älter zwar, aber doch unverwechselbar, von der anderen Straßenseite her.
Joshua überquerte mit Schwester Georgina die Straße. Das dauerte eine Weile, denn auch Georgina hatte schon zu Joshuas Kindheit im Heim gearbeitet und war fast so alt, wie Serendipity gewesen war.
Da stand also der inzwischen sechs Jahre alte Paul Spencer Wagoner mit seinem Vater. Joshua fand, dass die beiden so aussahen, als fühlten sie sich in ihren neuen Kleidern, die auf der Datum hergestellt waren, nicht besonders wohl. Paul hatte ein blaues Auge und eine geschwollene Wange, und sein dunkles Haar kam Joshua seltsam ungeschickt geschnitten vor. Joshuas eigener kleiner Junge, Daniel Rodney, war damals erst ein paar Monate alt, und die Schwestern hatten verzückt über den Bildern gegurrt, die er ihnen mitgebracht hatte. Und Joshua besaß genug Vaterseele, dass ihn der Kummer, der den immer noch kleinen Paul allem Anschein nach bedrückte, innerlich zusammenzucken ließ.
Rasch stellte man einander vor. Schwester Georgina gab Paul und seinem Vater, der irgendwie fehl am Platz und ziemlich verlegen aussah, die Hand.
Paul grinste Joshua an. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Mr Valienté.«
»Ich vermute mal, du hast kombiniert, dass ich hier bin.«
Paul lachte. »Natürlich. Jeder kennt doch Ihre Geschichte, jeder weiß, wo Sie aufgewachsen sind. Das wollte ich mir mal ansehen, wo wir jetzt auch in Madison wohnen.«
»Wirklich?« Joshua sah den Vater an. »Ich dachte, wenn man in Happy Landings angekommen ist, dass man diesen Ort nicht wieder verlässt.«
Tom Wagoner zuckte die Achseln. »Tja, es wurde dort ein bisschen ungemütlich für mich, Mr Valienté …«
»Joshua.«
»Meine Frau gehört dort eher hin. Ich meine, weil sie dort zur Welt kam. Ich nicht. Sie ist eine Spencer. In Happy Landings gibt es diese großen, weitverzweigten Familien, die Spencers und die Montecutes. Meine Frau war auf der Datum auf dem College, in Minnesota, woher ich stamme. Wir haben uns ineinander verliebt, haben geheiratet, wollten Kinder und sind nach Happy Landings gezogen, näher zu ihrer Familie …«
»Also, was ist passiert?«, wollte Schwester Georgina wissen.
»Tja, Happy Landings ist nicht das, was es mal war, Schwester. Kein ganz so fröhlicher Ankunftsort mehr, könnte man sagen. Ich glaube, seit dem Wechseltag hat es viel Zuwachs bekommen. Vorher war es so etwas wie eine Zuflucht, ein Ort, wo Leute, die irgendwie verloren waren, hinkamen und einfach blieben. Außerdem gab es dort die Trolle, was mir immer ziemlich merkwürdig vorkam, aber mit der Zeit gewöhnt man sich an ihre ständige Anwesenheit. Doch in den letzten Jahren, in denen alle Leute ständig überallhin wechselten, stolperten auch immer mehr Leute durch Happy Landings; auf einmal gab es einfach zu viele Fremde. Außerdem wurden es insgesamt zu viele Menschen, und die Trolle mögen das nicht. Und Neuankömmlinge – Leute wie ich – passten da einfach nicht mehr hin.«
»Deshalb sind Sie weggezogen.«
»Es lag eher an mir als an Carla. Sie hatte ja ihre Familie dort. Um ehrlich zu sein, waren wir ziemlichem Druck ausgesetzt. Also kamen wir hierher und suchten uns Arbeit, ich bin ja Buchhalter, und hier kriegt man gerade ziemlich gut Arbeit, da Madison West 5 nach dem Atomangriff rasch wächst … Aber in unserer Ehe läuft es im Moment nicht besonders gut.« Er tätschelte Paul den Kopf. »Nein, das geht schon in Ordnung. Paul weiß darüber Bescheid. Eigentlich weiß er manchmal viel zu viel für sein Alter.« Tom lachte gezwungen.
Schwester Georgina strich Paul über die Wange, über sein blaues Auge. Der Junge zuckte zusammen. »Diese Verletzungen sind noch nicht alt«, sagte sie. »Was ist da passiert?«
»Schule«, antwortete Paul einfach.
»Den brutalen Haarschnitt hat ihm ein Nachbarsjunge verpasst«, sagte Tom. »Die Wange, das waren die anderen Jungs in der Schule. Und das mit dem Auge war einer seiner Lehrer!«
»Das soll wohl ein schlechter Scherz sein?«, sagte Joshua.
»Leider nicht. Der Kerl ist entlassen worden, aber das hilft Paul auch nicht viel. Dabei sage ich ihm immer wieder, dass Klugscheißer nirgendwo besonders beliebt sind.«
»In der Schule ist es langweilig, Mr Valienté«, sagte Paul, der offensichtlich eher verwirrt als bekümmert war. »Die Lehrer sagen immer, ich soll auf die anderen Kinder warten.«
Tom lächelte wehmütig. »Sein Direktor meint, er ist wie ein junger Einstein, der es gleich mit der Relativität aufnehmen will. Aber was ihm seine Lehrer beibringen können, reicht gerade mal bis zur schriftlichen Division. Ist nicht ihre Schuld.«
»Ich sitze meistens da und lese was. Aber ich kann nicht still sein, wenn ich mitkriege, dass andere Fehler machen. Die anderen Kinder in der Klasse. Oder der Lehrer. Ich weiß schon, dass ich besser die Klappe halten sollte.«
»Hm«, sagte Schwester Georgina. »Und zur Belohnung bekommst du Schläge.«
»Ja, als wäre den Leuten ihr Stolz wichtiger als die Wahrheit. Also das, was richtig ist. Ich verstehe das nicht.«
»Es gab auch schon Schlimmeres als Schläge«, sagte Tom jetzt. »Einige Eltern wollten, dass Paul von der Schule entfernt wird. Nicht nur, weil er stört, was nicht von der Hand zu weisen ist, wenn ich ehrlich bin, sondern weil sie … na ja, sie haben Angst vor ihm.«
Schwester Georgina warf Paul einen besorgten Blick zu.
»Keine Sorge«, sagte Tom, »wir können ganz offen reden. Er versteht das alles besser als ich.«
»Ich habe Sachen über die Menschen gelesen«, sagte Paul sachlich. »Psychologie.« Er sprach es wie Pschü-scho-logie aus. »Ich kenne nicht so viele Wörter, deshalb komme ich nicht so schnell voran. Aber manches verstehe ich schon. Menschen haben Angst vor Sachen, die sie nicht kennen. Sie denken, ich bin nicht wie sie. Und das stimmt sogar. Aber ich bin auch nicht sooo viel anders als sie. Eine Frau hat mal gesagt, ich bin wie ein Kuckuck im Nest. Und ein Mann hat gesagt, ich bin ein Wechselbalg, den die Elfen zurückgelassen haben. Dass ich kein Mensch bin.« Er lachte. »Ein Kind hat gesagt, ich bin ein E.T. von einer anderen Welt.«
Schwester Georgina legte die Stirn in Falten. »Weißt du, in Zeiten wie diesen haben die Leute sowieso Angst. Die Möglichkeit zu wechseln war für uns alle eine große Veränderung. Und jetzt, nach dem Atomangriff, sind alle noch viel ängstlicher geworden. In solchen Zeiten suchen die Leute immer Sündenböcke, jemanden, den sie einfach nur hassen können. Dazu ist ihnen jeder recht, der irgendwie anders ist. Aus diesem Grund ist Madison überhaupt in die Luft gejagt worden.«
Joshua nickte. »Als ich klein war, habe ich immer darauf geachtet, dass niemand etwas von meiner Fähigkeit zu wechseln mitkriegt. Mir ging es wie dir, denn ich wusste, wie die Leute reagieren, wenn sie es erfahren – wenn sie mich plötzlich als anders wahrnehmen. Schwester Georgina kann das bestätigen, sie war damals dabei. Und das war auf der Datum. Draußen in der Langen Erde habe ich es dann selbst gesehen. Dort gibt es viele kleine, isolierte Gemeinden, in denen die Leute abergläubisch werden, mehr noch als in den großen Städten auf der Datum …«
Zu Joshuas Verwunderung reagierte Paul mit einem gereizten, beinahe wütenden Knurren. »In Happy Landings gab es wenigstens noch andere Kinder wie ich. Schlaue Kinder, meine ich. Hier nicht. Hier sind sie alle dumm. Aber ich stecke lieber ein bisschen Dresche von denen ein, als so zu sein wie sie.«
Tom nahm seinen Sohn an der Hand. »Komm jetzt, wir haben Mr Valienté Guten Tag gesagt, so wie du wolltest. Wir müssen den Leuten nicht noch mehr Zeit stehlen …«
Joshua sagte, Paul könne ihn jederzeit besuchen kommen, wenn er wisse, wo Joshua sich aufhielt – falls er kombinieren könne, wo er gerade war. Schwester Georgina bot Paul alle Unterstützung an, die das Heim ihm und seiner unglücklichen Familie geben könne.
Nachdem sie gegangen waren, sahen sich Joshua und Schwester Georgina vielsagend an. »Dieses Happy Landings ist mir schon immer komisch vorgekommen«, sagte Schwester Georgina, »nach allem, was du mir davon erzählt hast. Aber was dort auch vor sich geht, ich hoffe nur, dass unsere neuzeitlichen Hexenjäger es nicht allzu bald aufspüren …«