20

Tatsächlich schlief Sally nur ein paar Stunden, ehe sie wieder geweckt wurde, und zwar nicht von Frank, sondern von einem weiteren Satz, den der Gleiter machte. Sie richtete sich erschrocken auf und griff nach ihrem Visier.

Es war dunkel in der Kabine, und sie fragte sich, ob sie wieder in einen Sturm gesprungen waren. Erst dann erkannte sie, dass die Sonne sehr tief stand, im Westen unterging und aus dem Himmel die letzte Farbe saugte – nur dass die Farbe auf diesem Mars nicht das übliche staubige Braun, sondern ein blutiges Purpur war.

Frank und Willis unterhielten sich über Funk. Frank sagte gerade: »Der Wechsel in diese Welt mit ihrer dickeren Luft war fast so, als wäre man gegen eine Wand geknallt. Schlimmer als der Sandsturm. Damit haben wir nicht gerechnet.«

»Stimmt. Aber die Gleiter kommen gut damit zurecht.«

»Vielleicht sollte man eine Art Abschaltung installieren, damit wir nicht noch weiter springen … oder ein ganzes Stück aufsteigen, dort dürfte die Luft nicht so schrecklich dick sein …«

Während die beiden sich unterhielten, betrachtete Sally die neue Umgebung. Sie kurvten über einer Ebene aus Staub und geborstenen Felsbrocken, nicht weit von der Öffnung der immer noch vorhandenen Mangala-Struktur entfernt. Nach beinahe zwölf Stunden hatten sie über vierzigtausend Welten durchquert, wie Sally bei einem Blick über Franks Schulter auf den Anzeigen sah. Und jetzt das hier, etwas völlig Neues, anderes. Hier war die Luft dicker und sauerstoffreicher, und sie enthielt Wasserdampf. Die Atmosphäre war nicht so günstig wie die des Lückenmars, aber doch deutlich besser als alle, durch die sie bis jetzt gekommen waren.

Auf dem Boden unter ihnen bewegte sich etwas.

Zuerst bemerkte Sally so etwas wie Wellen im Staub, aber es waren Wellen, die sich fortbewegten und veränderten. Im Licht der tiefstehenden Sonne waren die langen Schatten deutlich zu erkennen, wodurch dieses Diorama leichter zu verfolgen war.

Dann erhob sich ein riesiger Leib aus dem Staub.

Sally sah ein klaffendes Maul und dann einen röhrenförmigen Leib, der mit chitinartigen Platten bedeckt war, die im schrägen Sonnenlicht glänzten. Es war beinahe so, als tauchte ein Wal aus der Tiefe des Meeres auf. Dann öffnete er das große Maul weit und saugte den Sand ein. Jetzt sah Sally weitere dieser Gestalten aus dem Sand steigen, aber keine war so groß wie die erste. Vielleicht waren es junge, noch nicht ausgewachsene Versionen. Sie glitten mithilfe von Flossen durch den Sand, bei dem großen Leittier zählte Sally ein Dutzend Gliederpaare.

»Leben auf dem Mars«, keuchte sie ungläubig, »tierisches Leben.«

»Allerdings«, rief Willis. »Wie Wale in einem Meer aus Staub, Nahrungsaufnahme durch Filtrieren. Und hier ist keine Lücke. Vielleicht gibt es gemeinsame Wurzeln mit dem Leben auf der örtlichen Erde. Aber es dürfte eine sehr weit entfernte Verwandtschaft sein.«

»Man hat gar kein richtiges Gefühl für den Maßstab.«

»Dieses große Ding ist ungefähr so groß wie ein Atom-U-Boot«, sagte Frank. »Vielleicht ist es … vielleicht ist sie ja die Mutter … Was für ein Anblick!«

»Ist doch logisch«, knurrte Willis. »Eine von ihrer Umwelt geschaffene Ökologie. Der Staub muss hier so fein sein, dass er wie eine Flüssigkeit wirkt, um derartige Lebensformen zu begünstigen …«

»Bitte keine Vorträge. Seht nur da runter! Die reinste Hommage an alte Science-Fiction-Träume! Ich bin mit einem Buch aufgewachsen, das allerdings schon über zwanzig Jahre vor meiner Geburt veröffentlicht wurde … aus diesem Roman habe ich mehr über Ökologie erfahren als in der Schule, und wenn wieder mal jemand dumm daherredet und behauptet, Science-Fiction hätte keine prophetische Kraft …«

Sally bemerkte leise: »Du scheinst ja ein richtiger Fan zu sein.«

»Entschuldigung.«

»Könnten wir vielleicht wieder etwas vernünftiger miteinander reden?«, fragte Willis. »Warum gibt es diese … Wale … ausgerechnet auf dieser Welt hier? Weil es hier wärmer und feuchter ist … nicht sehr viel, aber immerhin. Die Luft hier enthält viele vulkanische Produkte. Schwefeldioxid …«

»Vulkansommer?«, fragte Frank.

»Ich glaube schon.«

»Dann ist es so, wie du vorausgesagt hast, Willis.«

»Wir müssen uns vergewissern. Ich würde hier gerne eine Sonde stationieren. Eine langsame Drohne dürfte ausreichen. Wir haben welche, die von Ballons getragen werden. Falls es ein Supervulkan wäre, ein Yellowstone, wäre der wahrscheinlichste Ausgangspunkt Arabia, ein uraltes Terrain auf der gegenüberliegenden Seite des Planeten. Vielleicht finden wir dort den Krater.«

Sally runzelte die Stirn. »Ich kann euch nicht folgen. Was haben denn Vulkane damit zu tun?«

Ihr Vater antwortete: »Ich glaube, dass diese Welt ein Joker ist. Sieh mal, Sally, Leben – vollständig erhaltenes, komplexes, aktives Leben jedenfalls – dürfte im Langen Mars sehr selten sein. Bei der Langen Erde handelt es sich größtenteils um lebende Welten, nur auf den Jokern, den Ausnahmen, die von irgendwelchen Katastrophen getroffen wurden, findet man oft überhaupt kein Leben. Richtig? Hier ist es genau andersherum. Der Lange Mars ist größtenteils tot. Hier kann Leben nur auf den Jokern entstehen, auf diesen seltenen warmen Inseln … Als er noch jung war, war der Mars warm und feucht, mit einer dichten Lufthülle und tiefen Meeren. In vielerlei Hinsicht so wie die Erde. Dort konnte Leben entstehen.«

»Aber der Mars ist erfroren. Alexej hat mir davon erzählt.«

»Trotzdem dauert das Leben an, Sally, es verkriecht sich unter die Oberfläche, hält sich als Sporen oder als Bakterien, die sich von schon lange verschütteten, salzigen Wasserschichten, von Wasserstoff oder Sulfiden oder aufgelösten organischen Stoffen ernähren, ja, sie können sogar irgendwo eingekapselt einen langen Winterschlaf halten. Diese Mikroorganismen sind resistent gegen Hitze und Kälte, gegen Strahlung, Trockenheit und einen Mangel an Sauerstoff, sogar gegen die extreme ultraviolette Strahlung … Und manchmal hat das Leben sogar noch weitere Chancen. Denk dir einen Asteroiden aus Eis, der in der Schwerkraft des Mars gefangen ist, langsam zerbricht und seine Masse nach und nach auf den Planeten abregnen lässt, ihn so mit Wasser und anderen flüchtigen organischen Stoffen versorgt …«

Er skizzierte rasch mehrere Voraussetzungen, unter denen ein Mars zu Leben kommen konnte. Der Aufprall eines großen Asteroiden oder Kometen könnte einen so heißen Krater zurücklassen, dass es jahrhundertelang, vielleicht sogar Jahrtausende lang warm blieb, warm genug, um einen Kratersee aus flüssigem Wasser zu erhalten. Es könnten sich »Achsenabweichungen« ergeben, wie Willis es ausdrückte, Zeiten, in denen die Rotationsachse des Planeten kippte oder schwankte, was Sonnenlicht in Polargebiete brachte und den Planeten mit Erdbeben und Vulkanismus erschütterte. Auch davon gab es auf dem Mars mehr als auf der Erde, weil der Mars keinen massereichen Mond hatte, der das Kreiseln stabilisiert hätte. Ihre Beobachtungen bislang schienen zu bestätigen, dass die meisten Marse überhaupt keine Monde besaßen; die Doppelmonde des Datum-Mars, Phobos und Deimos, allem Anschein nach eingefangene Asteroiden, waren eher ungewöhnlich. Nach allem, was sie bis jetzt herausgefunden hatten, war der Datum-Mars ein Joker.

»Und auf dieser Welt hier«, sagte er, »diesem Joker, neigt sich ein Vulkansommer gerade seinem Ende zu. Der Mars ist innen noch warm. Hin und wieder brechen die großen Tharsis-Vulkane aus. Auf der Erde stellen Vulkane eine Katastrophe dar. Hier stoßen sie eine ganze Ersatzatmosphäre mit Kohlendioxid, Methan und anderen Elementen aus, dazu eine Decke aus Asche und Staub, die die Welt lange genug erwärmt, dass das Wasser aus dem Dauerfrost wieder auftauen kann. Auf diesem Mars hat vor nicht allzu langer Zeit ein Ausbruch die Luft für hundert oder tausend oder gar zehntausend Jahre aufgewärmt. Samen, die vielleicht schon seit Jahrtausenden schlummerten, trieben gierig aus, und die marsianische Entsprechung der Blaualgen machten sich ans Werk und reicherten die vulkanische Suppe mit Sauerstoff an. Diese kleinen Viecher sind dazu geschaffen, zu überleben und sich nützlich zu machen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommen. Es muss ein unglaublicher Anblick sein, wenn der Mars innerhalb weniger Jahrtausende grün wird, wie ein natürliches Terraforming. Und dann entstehen Lebensformen wie die Wale da unten, die ihren Augenblick in der Sonne haben. Aber früher oder später, schneller oder langsamer, entweicht die Wärme, und die Luft wird wieder dünner. Wenn das Ende schließlich kommt, kommt es wahrscheinlich schnell.«

Sally nickte. »Dann wird alles wieder ein großer Sandkasten.«

»Genau. Die Datum-Wissenschaftler glaubten, sie hätten auf unserer Kopie des Mars fünf solcher Perioden ausgemacht, fünf tief in der Zeit verlorene Sommer. Die erste fand ungefähr eine Milliarde Jahre nach der Entstehung des Planeten statt, die letzte ungefähr vor hundert Millionen Jahren …«

»Und wenn wir durch den Langen Mars reisen«, sagte sie, »finden wir ähnlich spärlich gesäte Inseln des Lebens, die hier im Wechsel-Weltraum so selten sind wie jene Episoden auf einem einzigen Mars in der gesamten Vergangenheit.«

»So ungefähr. Jedenfalls meiner Theorie zufolge. Und bis jetzt scheint sie sich zu bestätigen.«

»Seht euch das an«, murmelte Frank, der immer noch nach unten schaute. »Eins von den Babys ist von der Herde getrennt worden.«

Sally blickte ebenfalls hinab. Das Walkind, falls es sich überhaupt um ein noch junges Exemplar handelte, befand sich tatsächlich ein ganzes Stück von der Horde entfernt, die um die große Mutter herumschwärmte.

Da tauchten mit einem Mal andere Kreaturen wie aus dem Nichts auf und griffen das kleine Tier sofort an. Sally erahnte gewaltige Formen mit beweglichen Panzerplatten, aber eindeutig kompakter als die Wale, eher wie hungrige Krustentiere mit großen Augäpfeln auf langen Stielen. Sie sausten dicht auf der Stauboberfläche oder dicht darunter dahin.

Als sie den kleinen Wal erreicht hatten, fielen sie über ihn her. Der Wal zappelte und wand sich, wobei er große Erdfontänen in die Luft schleuderte.

»Wir nehmen das doch alles auf, Frank?«, rief Willis.

»Klar«, antwortete Frank. »Jedes von diesen Krustenviechern ist so groß wie ein LKW. Seht euch nur an, wie sie sich fortbewegen: entweder auf dem Sand oder sogar darunter. Ich wette, dass es sich dabei um eine Anpassung an die geringe Schwerkraft handelt. Sie halten sich mithilfe der Haftung und der zusätzlichen Geschwindigkeit dicht am Boden. Sollen wir runtergehen und ein paar Proben mitnehmen? Ich bin übrigens dagegen, denn es sieht ziemlich gefährlich aus da unten, und unsere Gleiter sind nicht besonders robust.«

»Wir fliegen weiter«, sagte Willis. »Schließlich habe ich es nicht auf Leben abgesehen, sondern auf Intelligenz, und davon ist dort unten nicht viel zu erkennen. Noch eine Stunde? Dann suchen wir uns eine sichere tote Welt und schlagen dort unser Nachtlager auf. Auf null: eins, zwei …«

Sally warf noch einen Blick auf die Szene auf dem aufgewühlten Boden unter ihnen. Etwas, das wie Blut aussah, sickerte aus einem Dutzend Wunden in der Haut des kleinen Wals, der von den wütenden Krustenviechern zerrissen wurde. Blut, das im fahlen Licht fast violett aussah.

Dann war die Szene wie weggewischt und wurde von Leblosigkeit ersetzt. Unter ihnen lag eine Ebene voller Steinbrocken, die sich wohl seit einer Million Jahren nicht mehr bewegt hatten und lange, bedeutungslose Schatten warfen, während die Sonne über einem weiteren ereignislosen Tag auf einem weiteren schlummernden Mars unterging.