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Nicht weit nach dem Eine-Million-Schritte-Meilenstein gingen die Purpurschlammwelten in eine andere Spielart über, ein weiteres Weltenband, in dem sich multizelluläres Leben entwickelt hatte. Das war eine willkommene Abwechslung nach den langen Tagen voller Purpurschlamm oder gelegentlich auch, um wenigstens ein bisschen zu variieren, voller grünem Schlamm. Aber die Wesen, denen sie auf diesen Welten begegneten, waren so völlig anders als alles, was sie je zuvor gesehen hatten.
Erde West 102.453.654: Auf dieser Welt war das Land von Geschöpfen besiedelt, die wie Bäume aussahen, die jedoch, wie die Biologen behaupteten, eher eine Art hochentwickelter Seetang waren. Etwas, das an Seeanemonen erinnerte, kroch grasend über den Boden. Und die Kronen dieser tangartigen Wälder sowie ein Großteil der darunterliegenden Welt wurden von quallenartigen Wesen beherrscht.
Quallen, die auf Bäumen lebten.
Es handelte sich um riesengroße, ledrige Kreaturen, die meisten von ihnen so massig wie ein Troll. Ihr eigentlicher Lebensraum schien das flache Meer zu sein, aus dem einige von ihnen aufs trockene Land krochen. Andere hingegen flogen, sie schossen förmlich aus dem Ozean heraus, indem sie Wasser aus ihren Schirmen pumpten und durch die Luft glitten. Dabei benutzten sie die Flossen, die aus ihren Rückenschilden hervorstanden, wie »Flügel«, um die Baumwipfel zu erreichen.
In den Baumkronen hingen überall natürliche Fäden, die Lianen glichen, aber vielleicht keine waren. Die Quallen ließen sich an diesen Fäden herab, um blitzartige Überfälle auf ihre Vettern auf dem Boden und auf andere Lebensformen durchzuführen. Einmal beobachteten die Wissenschaftler sogar einen regelrechten Krieg, als eine Gruppe Quallen aus einem Waldstück Seile und Netze über ein anderes Waldstück schleuderte und dann mit vereinten Kräften angriff.
Das alles wurde von den menschlichen Besuchern aus der Luft aufgenommen. Wer keinen Dienst hatte, verbrachte seine freie Zeit an den Fenstern oder auf den Aussichtsdecks und starrte nach unten. Landgänge waren von Käpt’n Kauffman ausnahmslos untersagt worden, denn der Sauerstoffgehalt in dieser Welt war so niedrig, dass man Gesichtsmasken und Sauerstoffflaschen hätte mitnehmen müssen, und derartig behindert wäre man den raubgierigen fliegenden Nesseltieren aus den weiter oben liegenden Ästen ziemlich hilflos ausgeliefert.
Bill Feng überraschte Maggie durch sein intensives Interesse an dem Spektakel, das sich unter ihnen abspielte – zumindest empfand sie es als ungewöhnlich stark bei einem Mann, den sie von Anfang an als mustergültig kontrollierten Ingenieur eingestuft hatte. Der Chinese sagte in seinem seltsam betonten Englisch: »Ich komme selbst vom Militär, aber ich habe den Krieg nie um seiner selbst willen gutgeheißen. Wir sind jetzt hundert Millionen Schritte von der Datum entfernt, und wir finden hier Lebensformen, die so ganz anders sind als die, die wir kennen – und doch finden wir wieder Krieg. Muss es denn immer so sein?«
Darauf fiel Maggie keine zufriedenstellende Antwort ein.
Nachdem sie diese Welt protokolliert und Proben genommen hatten, zogen die Schiffe weiter.
Da es jetzt vor den Fenstern etwas zu sehen gab, reduzierte Maggie die Reisegeschwindigkeit auf die üblichen zwei Millionen Schritte pro Tag, aber sobald dieses Bündel Welten, das die Biologen den »Nesseltiergürtel« nannten, nach nur wenigen Tagen erneut in den Purpurschlamm überging, befahl Maggie sang- und klanglos, die Geschwindigkeit wieder zu erhöhen.
Ungefähr bei Erde West 130.000.000 erreichte die Expedition nach dem Nesseltiergürtel und sieben weiteren Tagen Purpurschlamm eine neue Art von Welt. Hier schien es so gut wie überhaupt keinen Sauerstoff in der Atmosphäre zu geben. Stickstoff, Kohlendioxid und vulkanische Gase herrschten vor, und die geringen feststellbaren Spuren von Sauerstoff waren, wie Maggie von Gerry Hemingway erfuhr, höchstwahrscheinlich auf geologische Prozesse zurückzuführen, nicht auf irgendwelches Leben. Auf diesen Welten hatte sich sauerstoffproduzierendes Leben nie entwickelt, hier war die Photosynthese, dieser komplexe Trick, mit dem Grünpflanzen die Energie des Sonnenlichts nutzen, um Kohlendioxid aufzuspalten, dann den Kohlenstoff zum Aufbau neuen Lebens zu verwenden und quasi als Nebenprodukt Sauerstoff in die Luft zu entlassen, nie entstanden.
Die Luftschiffe waren auf solche Bedingungen vorbereitet. Wenn es an atmosphärischem Sauerstoff fehlte, wurde den großen Düsenturbinen, die das Fahrzeug antrieben, Sauerstoff aus dem bordeigenen Vorrat zugeführt. Harry Ryan fühlte sich angesichts dieser neuen technischen Herausforderung an sein Fahrzeug ganz in seinem Element, und Maggie konnte nur noch staunen. In diesem Modus arbeiteten die Turbinen wie Scramjets, und die Luft im Gondelinneren, die jetzt zwangsläufig komplett recycelt wurde, roch schon bald ein wenig abgestanden.
Derweil präsentierten sich die Landschaften unter dem Bug trostloser als je zuvor. Nur als Biologe konnte man den eigenartigen purpur-violetten Schlammebenen und Hügeln aus anaeroben Bakterien, den uneingeschränkten Herrschern dieser Welten, etwas abgewinnen. Maggie veranlasste stillschweigend, dass die erhöhte Wechselgeschwindigkeit von drei Millionen Schritten pro Tag fürs Erste beibehalten wurde, aber sie ermahnte Harry Ryan, die bordeigenen Reserven im Auge zu behalten. Schließlich hatte sie nicht vor, zu Fuß zurückzugehen. Nicht durch diesen Schlamm.
Letztendlich war es der Sauerstoff, der sie zu ihrem ersten langen Gespräch mit Douglas Black veranlasste, seitdem ihr berühmtester Passagier an Bord der Armstrong gekommen war.
Maggie suchte Black in seiner kleinen Suite auf. Sie hatte Mac dabei, denn sie war gekommen, um die Beschwerden des Doktors zu unterstützen.
Sie hatte um diese Unterredung gebeten, aber sogar hier auf ihrem eigenen Schiff war Douglas Black nicht der Mann, der jeder Aufforderung nachkam. Es überraschte sie auch nicht, dass Black sie vor der Tür warten ließ. Sein Diener Philip teilte ihnen mit, Black sei gerade erst von einem Schläfchen erwacht.
»Arroganter Fatzke«, murmelte Mac.
»Wir halten uns erst einmal zurück, Mac. Mal sehen, was er selbst dazu sagt …« Dann ging die Tür auf.
Black verfügte über ein ganzes Team an Helfern, aber heute war nur ein Diener anwesend, Philip, der überhebliche Leibwächter, der die beiden Offiziere rasch durch Blacks Suite führte und sie dabei nicht aus den Augen ließ.
Die Suite, ein etwas zu großer Name für die Reihe von Kabinen, die Black auf eigene Kosten ausgestattet hatte, war weniger luxuriös eingerichtet, als Maggie erwartet hätte. Es gab eine kleine Küche, da Black darauf bestand, dass ihm seine Mahlzeiten exklusiv und wenn möglich mit frischen Zutaten zubereitet wurden – allem Anschein nach war Philip auch der Koch. Der Wohnbereich war mit bequemen, verstellbaren Sesseln und Sofas eingerichtet und mit einer Konsole voller Datenverarbeitungsgeräte, Bildschirme, Tablets und Speichereinheiten ausgestattet.
Blacks Schlafzimmer kam Maggie auf den ersten Blick wie eine kompakte Intensivstation vor. Hinter einem durchsichtigen Vorhang – es handelte sich um ein Sauerstoffzelt, wie Mac ihr zuraunte – stand ein mit sämtlichen Apparaturen versehenes Bett, umgeben von Monitoren, Infusionsgeräten und sogar einem nach Telechirurgie aussehenden Roboterarm. Philip musste anscheinend mit einer schmalen Koje in der Ecke hinter einer dünnen Abtrennung vorliebnehmen und rund um die Uhr zur Verfügung stehen.
Maggie wusste, dass es Mac um dieses Sauerstoffzelt ging.
Black begrüßte sie im Wohnzimmer. Er saß in einem mit allen Finessen ausgestatteten Rollstuhl und trug eine lose sitzende, bequeme Kimono-Jacke, eine seidene Hose und Pantoffeln. Sogar in der geschlossenen Umgebung der Gondel hatte er die Sonnenbrille auf. Als er lächelte, legte sich sein zerknittertes Gesicht in neue Falten, dann goss er ihnen eigenhändig ziemlich guten Kaffee in die vorbereiteten Tassen. »Ich heiße Sie herzlich willkommen in meiner Höhle, Kapitän Kauffman. Eine solche Begrüßung wird wohl von mir erwartet, oder? Sollen wir gleich zur Sache kommen? Ich habe erfahren, dass Ihr Doktor sich für mein Wohlergehen interessiert, aber wie Sie sehen, habe ich meine eigene medizinische Versorgung gleich mitgebracht.«
»Aber auf diesem Schiff«, knurrte Mac, »auf dem ich der verantwortliche Mediziner bin, unterliegen Sie meiner Zuständigkeit.«
»Selbstverständlich. Ich beuge mich Ihrer Autorität. Wie könnte es anders sein?«
»Ich fürchte, genau das ist der Stein des Anstoßes«, sagte Maggie. »Es geht um Ihren Sauerstoffverbrauch.«
»Käpt’n, ich habe Doktor Mackenzie versichert, dass ich meinen eigenen Vorrat mitgebracht habe, meine eigene Füllanlage und Recyclingausrüstung – ich bewege mich hier wie in einem eigenen kleinen Raumschiff.«
»Trotzdem haben Sie die Schiffsvorräte angezapft«, erwiderte Mac. »Das ist allein schon aus technischen Gründen unvermeidlich. Und Sie, Mr Black, verbrauchen ziemlich viel davon. Ich hätte das Thema nicht zur Sprache gebracht, Käpt’n, aber da wir momentan kein zusätzliches O-Zwei außerhalb der Hülle zur Verfügung haben, müssen wir dringend darüber reden.«
»Was ich nicht ganz verstehe, Mr Black«, sagte Maggie, »wozu brauchen Sie so viel Sauerstoff?«
»Um Tag und Nacht seine Überdruckkammer zu füllen«, warf Mac ein. »Sie haben das Zelt über seinem Bett gesehen, Käpt’n. Er wohnt in dem verflixten Ding und atmet dort Luft mit einem wesentlich höheren Sauerstoffgehalt als auf der Datum-Erde.«
»Aha.« Das alles kam Maggie doch sehr überkandidelt vor. Sie hatte schon einen langen Tag hinter sich, aber jetzt wünschte sie, sie hätte sich ein bisschen besser auf dieses Gespräch vorbereiten lassen. »Ich bin keine Medizinerin. Warum brauchen Sie das, Mr Black?«
»Aus dem einfachsten aller Gründe. Um das wiederzuerlangen, was ich mir mit all meinem Geld nicht kaufen kann – jedenfalls noch nicht. Sie haben einmal scherzhaft gesagt, dass ich wohl nach dem Jungbrunnen suche, Käpt’n. Letztendlich ist es so.«
In den folgenden Minuten hielt er ihr, illustriert mit Bildern auf einem seiner großen Tablets, einen Vortrag über die Behandlungen, denen er sich unterzog, um den Alterungsprozess seines Körpers nicht nur zu verlangsamen, sondern in gewisser Weise umzukehren. Hormone, die mit dem Alter abgebaut werden, wurden ersetzt, darunter Wachstumshormone, Testosteron, Insulin und Melatonin, um die Körperfunktionen aufrechtzuerhalten und zu erneuern, wie es in einem jugendlichen Körper geschieht. Es hatte Versuche zur genetischen Erneuerung mithilfe von Retroviren gegeben, die DNA-Stränge bildeten und auflösten sowie beschädigte oder ungewünschte Sequenzen ersetzten. Auf den Nahen Erden förderte Black experimentelle Methoden, bei denen Stammzellen Gewebe und sogar ganze Organe regenerierten.
Er spreizte seine mit Altersflecken überzogenen Hände. »Hören Sie, Frau Kapitän, ich habe meinen Körper immer gut in Schuss gehalten, ich habe vernünftig gegessen und die meisten Laster gemieden. Ich hatte das Glück, von den meisten üblichen Krankheiten verschont zu bleiben. Und natürlich haben auch meine jahrzehntelangen Vorsichtsmaßnahmen gegen die Bestrebungen ehrgeiziger Attentäter bislang Früchte getragen.« Er klopfte gegen seinen Schädel. »Geistig bin ich so auf dem Damm wie eh und je, mein Gedächtnis funktioniert gut … Aber ich bin achtzig Jahre alt. Die Zeit rinnt mir durch die Finger. Es gibt noch so viel zu sehen, so viel zu tun. Denken Sie nur an die Forschungsreise, die wir gerade gemeinsam unternehmen! Können Sie verstehen, dass ich alles tun würde, um jetzt noch nicht gehen zu müssen? Wollen Sie mir das wirklich vorwerfen?«
»Das ist alles schön und gut, Mr Black. Aber was hat das mit dem Sauerstoff zu tun?«
»Es ist eine von seinen Therapien«, antwortete Mac. »Und zwar eine von der spleenigeren Sorte.«
Black neigte den Kopf. »Ich will mich nicht mit einem Mediziner streiten. Aber Sie wollen mir bestimmt nicht vorwerfen, dass ich alle meine Möglichkeiten ausschöpfe, oder? Ja, der übermäßige Verbrauch von Sauerstoff ist umstritten. Aber sehen Sie doch, wo wir gerade sind. Schauen Sie aus dem Fenster! Hier gibt es keinen Sauerstoff, deshalb sind diese Welten alle so gut wie tot. Der Sauerstoff bringt die Lebenskraft voran. Sie selbst, Doktor, verbrauchen ihn bei bestimmten Patienten im Übermaß, oder etwa nicht? Der Begriff lautet Oxyologie, Kapitän. Der Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks, um die Heilung des Körpers voranzubringen oder seine Verjüngung. Es ist billig, es ist einfach, und es gibt Leute, die behaupten, Beweise dafür zu haben, dass es funktioniert, zumindest bei Ameisen und Mäusen und so weiter. Warum sollte ich es also nicht ausprobieren?«
Mac hätte noch weitergestritten, aber Maggie hob die Hand. »Ich glaube, ich habe so weit verstanden. Trotzdem weiß ich immer noch nicht, was für einen ›Jungbrunnen‹ Sie eigentlich an Bord dieses Schiffs unserer Flotte suchen, Mr Black.«
Er gestattete sich ein feines Lächeln. »Ich kann nur sagen, dass ich es wissen werde, wenn ich es gefunden habe – falls es existiert.«
Maggie erhob sich. »Ich glaube, wir sind hier fertig. Hören Sie, Mac, wir haben unseren eigenen Verbrauch an Sauerstoff sehr genau im Blick, aber wir verfügen immer noch über neunzig Prozent, und Mr Blacks Verbrauch dürfte angesichts seiner privaten Vorräte und sogar trotz dieses Zeltes nur einen Bruchteil davon betragen. Wir kommen durchaus damit aus, zumindest momentan. Andererseits«, sagte sie an Black gewandt, »werde ich meinen leitenden Ingenieur darauf aufmerksam machen. Und falls wir irgendwelche Notmaßnahmen einleiten müssen, werde ich Ihnen nicht mehr zubilligen als jedem anderen Besatzungsmitglied.«
»Selbstverständlich.« Er wirkte nur ein wenig pikiert. »Ich würde nie zulassen, dass meine Eigeninteressen auch nur einen Ihrer jungen Schützlinge in Gefahr bringen.« Er sah seine beiden Gäste direkt an. »Dann wäre das erledigt? Darf ich wieder raus aus der stillen Ecke?«
Maggie lachte höflich und stieß Mac in die Seite, bis auch der sich ein Lächeln abrang.
»Falls Sie noch ein wenig Zeit haben, könnten wir jetzt zu angenehmeren Dingen übergehen. Vielleicht möchten Sie sich die neueste Lieferung wissenschaftlicher Nachrichten ansehen, die mir Ihr freundlicher Leutnant Hemingway zusammengestellt hat. Wahrscheinlich wissen Sie bereits über alles Bescheid, aber die Bilder können schon sehr erschreckend sein.« Er nickte Philip zu, der sich erhob, um die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen. Kurz darauf waren auf sämtlichen Bildschirmen im Raum purpurfarbene und hellrote Schleier zu sehen. »Wer hätte sich je vorstellen können, dass das Leben sogar ohne die Kraft des Sauerstoffs zu solcher Schönheit, zu solchem Erfindungsreichtum imstande wäre? Darf ich Ihnen noch etwas Kaffee anbieten? Oder vielleicht etwas Kräftigeres?«