8

Schwester Agnes hatte recht. Joshua weigerte sich herbeizueilen, bloß weil Lobsang pfiff. Er war nie darüber hinweggekommen, dass Lobsang den Terrorangriff auf Datum-Madison, bei dem im Jahr 2030 eine Atombombe gezündet worden war, nicht verhindert hatte. Auf einer noch tieferen Ebene hatte er sich nie sonderlich wohl dabei gefühlt, dass Lobsang schon vor fünfzehn Jahren damit angefangen hatte, den Einzelgänger Joshua in seine Pläne und Intrigen miteinzubeziehen.

Aber er musste zugeben, dass Lobsang in der Langen Erde alles in allem eine Macht des Guten gewesen war. Vielleicht versuchte er ja jetzt, abermals für das Gute einzutreten.

Außerdem hatte ihm Agnes berichtet, dass Lobsang einsam sei.

Dazu kamen die Kopfschmerzen. Sobald er dieses Warnsignal im eigenen Schädel bemerkt hatte – ein sicheres Anzeichen dafür, dass irgendwo in der Langen Erde eine Störung aufgetreten war –, hatte er damit gerechnet, dass sich Lobsang auf die eine oder andere Weise mit ihm in Verbindung setzen würde. Als es dann so weit war, war er beinahe erleichtert.

Zum Teufel damit. Also begab er sich zurück zur Datum.

Joshua erklärte sich damit einverstanden, sich mit Lobsang in Twin Falls, Idaho, auf der Datum-Erde zu treffen, ungefähr hundertfünfzig Meilen von Yellowstone entfernt.

Direkt in die Stadt zu wechseln war für Joshua inzwischen nicht mehr so einfach. Eis und Asche auf dem Boden der Datum hatten die Oberfläche deutlich über die der benachbarten Wechselwelten ansteigen lassen und somit unberechenbar gemacht. Also wechselte Joshua ein ganzes Stück von Twin Falls entfernt auf die Datum, lieh sich einen SUV und fuhr damit in die Stadt.

Die Straßen waren einigermaßen passierbar, vor allem die Autobahnen und Schnellstraßen. Bis auf die LKWs und ein paar Busse, hinter deren beschlagenen Fenstern dick eingemummelte Fahrgäste saßen, gab es kaum Verkehr; private Fahrzeuge wie sein eigener SUV waren kaum zu sehen, was an der Benzinknappheit auf dem ganzen Planeten lag.

Zuerst lief alles recht gut. Dann wurde er von einem Schneesturm überrascht und musste meilenweit hinter einem schweren Schneepflug her zuckeln.

Als er endlich in Twin Falls ankam, war dort so gut wie alles gefroren. An den Straßenrändern häuften sich mehrere Schichten altes, schmutziges Eis, inzwischen schon mehrere Jahre alt; Eis, wie man es am Nordpol oder auf dem Mars finden mochte, so stellte er es sich jedenfalls vor. Im Eis war Vulkanasche eingeschlossen, sogar so weit entfernt und Jahre, nachdem sie vom Himmel gefallen war. Ganze Aschehaufen lagen in irgendwelchen Ecken zusammengeweht oder waren vom Eis zu harten, rußigen Wällen am Straßenrand zusammengebacken. In der Stadtmitte hatte die Last von Schnee und Asche ganze Gebäude zum Einsturz gebracht, einige waren auch ausgebrannt. Nichts davon war bisher wiederaufgebaut oder auch nur weggeräumt worden. So sah es in Idaho im Januar aus. Der Anblick erinnerte ihn an einige Eiszeitwelten, die er aufgesucht hatte.

Er fragte sich, warum die Leute überhaupt noch hierbleiben wollten, wobei er wusste, dass es sogar noch weiter im Norden die eine oder andere bewohnte Gemeinde gab. Eigensinn, vermutete er, oder schiere Trägheit. Oder Stolz. Er hatte festgestellt, dass eine solche Herausforderung die Menschen förmlich wachsen ließ, dass sie sich weigerten, sich geschlagen zu geben, wie schlecht ihre Chancen auch stehen mochten. Sie kehrten in ihre Häuser in Überschwemmungsgebieten zurück, sobald das Wasser abgeflossen oder an die Hänge von Vulkanen, sobald der Ausbruch zu Ende war. In Twin Falls konnte man immer noch leben, gerade so, deshalb lebten hier noch Menschen, in ihren eigenen Häusern.

Er ließ den Wagen auf einem Motel-Parkplatz stehen, nachdem er sich mit dem Eigentümer darüber geeinigt hatte, dass dieser das Fahrzeug gegen ein entsprechendes Entgelt im Auge behielt. Der Mann riet ihm, den Tank zu entleeren, bevor er den Wagen zurückließ, dann versuchte er, noch mal an dem verabredeten Preis zu drehen. Doch ein missgelaunter Joshua ließ nicht mit sich spaßen. Die Kopfschmerzen, unter denen er schon seit Wochen in den Hohen Megas gelitten hatte, waren nach seiner Ankunft auf der Datum noch schlimmer geworden.

Da er zu seiner Verabredung mit Lobsang etwas zu früh dran war, spazierte er in die Stadtmitte und bezahlte einen erstaunlich gesalzenen Preis für einen Kaffee, der nach mit Sägespänen verlängertem Aufguss schmeckte. Wenigsten konnte er in der schwülen Wärme des kleinen Cafés sitzen und dort warten.

Eine Stunde später erschien auf die Minute genau ein Twain am trüben Himmel.

Jetzt, wo sie sich wieder gegenüberstanden, hatten sie einander erstaunlich wenig zu sagen. Nachdem Lobsang Josua an Bord begrüßt hatte, konzentrierte sich Joshua auf das Twain selbst.

Mit gut sechzig Metern Länge war das Luftschiff, verglichen mit Lobsangs Mark Twain und den gewaltigen Handelsschiffen des Langen Mississippi, eher klein. Seine Gondel war kaum größer als ein Wohnmobil. Aber während Lobsang ihm alles zeigte, fiel Joshua auf, dass ausreichend Platz für zwei Personen war. Es gab ein geräumiges Wohnzimmer mit großen Fenstern, Sofas im Stil von Flugzeugsitzen, eine Kombüse, einen kleinen Tisch und wegklappbare Tablets mit Anzeigen, auf denen sich Landkarten, Höhenmessungen, Windgeschwindigkeit und Temperatur ablesen ließen.

Wie in allen Luftschiffen Lobsangs befanden sich seine Privaträume hinter verschlossenen Türen – Werkstätten zur Wartung von Lobsangs künstlicher Infrastruktur, wie Joshua schon immer vermutet hatte. Durch eine halbgeöffnete Tür erhaschte Joshua einen kurzen Blick auf einen aufrecht stehenden Zylinder von ungefähr einem Meter Höhe, der mit komplizierten, eingebrannten Mustern überzogen war – eine Gebetsmühle? Dahinter erblickte er eine Art Schrein, einen goldenen Buddha in einem roten und grünen, mit Goldblatt verzierten Rahmen. Ein Hauch von Weihrauch. Auch das ein Aspekt Lobsangs, vermutete Joshua, der den Blicken der Öffentlichkeit verborgen blieb.

Es gab ein Erdometer, aber Lobsang hatte Joshua darauf hingewiesen, dass er heute nicht vorhatte, wechselwärts zu reisen, sondern sich quer über die Datum-Erde fortbewegen wollte. Sie würden den Autobahnen folgen, der 84, 86 und 15, mehr oder weniger nach Nordosten, und einen Blick auf den neuen Yellowstone-Krater werfen.

»Es ist ein unglaublicher Anblick«, sagte Lobsang jetzt. »Der Krater. Sogar für abgebrühte Reisende aus den Hohen Megas wie uns. Und er befindet sich hier, auf der Datum. Ziemlich erschreckend, wenn man darüber nachdenkt.«

Er, besser gesagt eine mobile Einheit seiner selbst, saß Joshua in orangefarbenen Gewändern, mit rasiertem Schädel und, wie Joshua fand, einem ziemlich starren künstlichen Gesicht gegenüber. Auch seine Smalltalk-Fähigkeiten hatten sich nicht weiterentwickelt. Aber sie würden sich schon irgendwie arrangieren.

Joshua hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, der unendlich stärker und schmackhafter war als das, was man ihm in Twin Falls vorgesetzt hatte. Er blickte hinab auf die freigeräumte Autobahn, ein schwarzer Streifen, der sich durch eine grauweiße Landschaft zog. Nur wenige Lastwagen verkehrten zwischen den noch existierenden Ortschaften, aber er sah auch Pferdewagen wie aus einem Freilichtmuseum. Auch Fahrräder, zumindest in der unmittelbaren Umgebung der Gemeinden. Sogar etwas, das wie ein Hundeschlitten aussah, bahnte sich seinen Weg über die Schneefelder. »Was für ein Anblick«, sagte er. »Vor zehn Jahren hätte man nicht geglaubt, dass es so etwas wieder geben würde.«

»Allerdings. Als wären die Klimazonen plötzlich tausend Meilen näher an den Äquator gerückt, und zwar von Norden wie von Süden. Deshalb hat Los Angeles jetzt ein Klima ungefähr wie Seattle vor dem Ausbruch.«

»Ich weiß. Ich war dort. Die Angelinos sind ganz schön sauer auf den vielen Regen und den Nebel.«

»Seattle wiederum ist jetzt mehr wie Alaska. Ein Großteil des Planeten nördlich und südlich von vierzig Grad ist mehr oder weniger dem Eis überlassen worden. Kanada, Nordeuropa, Russland, Sibirien – alles leer. Die Länder sind zusammengebrochen, die Menschen woandershin gewechselt, altehrwürdige Städte sind bis auf ein paar Hartgesottene völlig ausgestorben. Nelson Azikiwe hat mir mitgeteilt, dass sich in Großbritannien inzwischen kaum noch etwas regt, bis auf die Bergungskommandos aus den Nahen Erden, die versuchen, möglichst viele Kulturschätze zu bergen.«

»Nelson Azikiwe?«

»Einer meiner Freunde, Joshua. Du bist ihm sogar schon einmal begegnet, auf meinem Anwesen in Madison auf einer der Nahen Erden, am Tag des Vulkanausbruchs. Ich möchte, dass du dich möglichst schnell mit ihm in Verbindung setzt.«

Joshua reagierte nicht darauf. Statt »Freunde« hörte er »Aktivposten«. Manchmal empfand er sich ungefähr so sehr als einen »Freund« Lobsangs, wie ein Bauer in einem Schachspiel der »Freund« eines Großmeisters ist. Trotzdem würde er letztendlich das tun, was Lobsang von ihm verlangte.

»Die politische Lage auf der Datum-Erde ist auf entscheidende Weise umgestaltet worden«, sagte Lobsang. »Die neuen Machtzentren sind jetzt Südeuropa, Nordafrika, Indien, Südostasien, Südchina … sogar Mexiko, und auch Brasilien, das die schreckliche Abholzung des Regenwaldes jetzt ausnutzt, um ganz Amazonien für die Landwirtschaft und den Bergbau auszubeuten. Du kannst dir bestimmt vorstellen, dass ein großes Gerangel um die Positionen in diesem neuen Machtgefüge herrscht. China ist, ähnlich wie Amerika, von seiner Ägide, von seinen Kopien in der Nahen Erde mehr oder weniger abgekoppelt, aber auf der Datum sind die Chinesen noch sehr stark.«

»Ich wünsche ihnen viel Glück dabei.«

»Datum-Amerika hingegen liegt völlig am Boden. Ich weiß, dass dich das dort draußen in deiner neuen Heimat in Weiß-der-Kuckuck-wo nicht sonderlich interessiert.«

Joshua machte ein finsteres Gesicht. »Du weißt genau, dass ich dort nicht mehr wohne, Lobsang. Ich bin seit Monaten nicht mehr dort gewesen. Du musstest Bill Chambers losschicken, um mich aus meiner letzten Auszeit zu holen, schon vergessen?«

»Ich hatte gehofft, dass du dich inzwischen zu einer Versöhnung mit Helen durchringen konntest.«

»Da kennst du Helen aber schlecht. Ich glaube, die viele Zeit, die ich nach Yellowstone hier auf der Datum verbracht habe, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Obwohl sie wusste, dass meine Arbeit hier gut und richtig war. Ihrer Meinung nach habe ich das Gleichgewicht nie richtig hingekriegt, zwischen zu Hause und …«

»Und dem Ruf der Langen Erde. Die beiden Seiten deiner Natur.«

»So ungefähr.«

»Was ist mit Dan?«

»Ach, den sehe ich, so oft es geht. Ein guter Junge. Inzwischen ist er schon dreizehn und ein Stück größer als ich.«

»Trotzdem ziehen deine Auszeiten dich immer wieder weg von ihnen … Wie geht es eigentlich deiner Hand?«

Joshua hob die Prothese an seiner linken Hand zum Hals und tat so, als wollte sie ihn erwürgen, als müsste er sich gegen sie wehren. »Mal besser, mal schlechter.«

»Du weißt, dass ich dir etwas viel Besseres besorgen lassen könnte.«

»Etwas, in dem du selbst gleich mit drin bist? Sei mir nicht böse, Lobsang, aber nein danke.« Er hielt Lobsang die Tasse hin: »Ist der Kaffee schon alle?«

Das Luftschiff bewegte sich ohne Eile. Es wurde Abend, ehe sie sich über Idaho Falls befanden, ungefähr achtzig Meilen vom Einsturzkrater entfernt. An dieser Stelle wollte Lobsang anhalten und erst am nächsten Morgen weiterfahren.

Auf Joshuas Bitte ließ Lobsang das Schiff sinken, damit sie von Bord gehen und wenigstens kurzzeitig der warmen Luft ihrer Gondel entfliehen konnten. Lobsang bestand allerdings darauf, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder an Bord zurückkehrten. »Heutzutage treiben sich da draußen jede Menge Banditen herum, Joshua.«

In Lobsangs Begleitung spazierte Joshua probeweise auf einer mit Eis und Aschewehen verkrusteten Straße. Überall lagen Bimssteinbrocken herum, die so groß waren, dass man sich nur schwer vorstellen konnte, welche Kraft sie achtzig Meter weit in die Luft schleudern konnte, geschweige denn achtzig Meilen. Es war bitterkalt, die Kälte verbiss sich in seine Wangen, die Nase und die Stirn, in alles, was nicht unter dicken Schichten Winterkleidung verborgen war.

Er kam an einen sich träge dahinschlängelnden Bach. Das Wasser war aschgrau, die Baumstämme am Ufer graubraun. Im kupferfarbenen Licht der tiefstehenden Sonne machte die Landschaft einen unheimlichen Eindruck. Die ganze Welt war still. Schon seit vielen Meilen hatten sie auf der Autobahn keinen Verkehr mehr gesehen, aber hier war auch die Natur verstummt; Joshua hörte nicht mal einen Vogelruf, als er die dürren Stämme der toten Kiefern näher untersuchte.

»Wie ruhig es ist«, sagte er zu Lobsang.

Die mobile Einheit steckte ebenso wie er in Polarausrüstung. Ihr Atem, der offensichtlich von irgendeinem Mechanismus erwärmt und angefeuchtet wurde, dampfte recht überzeugend, ein Hauch von Echtheit. »Für mich ist die Welt noch viel stiller. Viele Kommunikationsknoten und Netzwerke sind abgeschaltet oder werden nicht mehr bedient. Mir kommt es so vor, als verwandelte sich die Welt in Thulcandra.«

Joshua wusste mit der Anspielung etwas anzufangen. »Der schweigende Stern. Warum hast du mich hierhergebracht, Lobsang?«

»Wie geht’s deinen Kopfschmerzen?«

»War ja klar, dass du darüber Bescheid weißt. Aber wenn du’s genau wissen willst: Sie sind schlimmer als je zuvor. Normalerweise fühle ich mich nicht sehr wohl, wenn ich auf der Datum oder in ihrer Nähe bin, aber diesmal ist es viel heftiger …« Er beendete den Satz nicht und sah sich um. Er glaubte, in der tödlichen Stille etwas vernommen zu haben. Ein leises Schlurfen. Vielleicht ein Wolf, der in dieser erstarrten Wildnis am Verhungern war? Ein Bär? Oder ein Mensch, einer der Banditen, vor denen ihn Lobsang gewarnt hatte?

Lobsang schien nichts zu bemerken. »Und jetzt ist es ganz anders? Deine Kopfschmerzen, meine ich. Wahrscheinlich spürst du deutlich, dass sich etwas auf der Datum verändert hat.«

»Du wohl auch?«, knurrte Joshua. »Du hast auch schon Beweise, stimmt’s? Beweise für etwas. Sonst hättest du mich nicht zurückgerufen.«

»Allerdings. Beweise für etwas – gut gesagt. Etwas, das schwer zu fassen und noch schwerer zu definieren ist, trotzdem spüre ich es deutlich, denn trotz meines Handicaps nach dem Vulkanausbruch umspanne ich die Welt immer noch wie ein körperloser Bardo-Geist …«

»Wie was?«

»Spielt keine Rolle. Es ist etwas Reales, Joshua. Hör mal, du kennst mich doch. Ich bin in erster Linie ein eifriger Student der Dummheiten des Menschen, die gelegentlich vermuten lassen, sie seien endgültig.«

»Worüber wir uns schon des Öfteren ausführlich unterhalten haben«, erwiderte Joshua trocken.

»Tja, also jetzt hat sich wirklich etwas verändert. Das Nachbeben von Yellowstone scheint es ausgelöst zu haben. Die Menschen haben entweder recht gut oder sehr schlecht darauf reagiert. Aber inmitten dieses Heldentums und der Feigheit, der Großzügigkeit und der Bestechlichkeit, wenn man es mal global sieht, und ich kann es eigentlich kaum anders sehen, kommt es mir so vor, als könnte man die Reaktion der Menschheit auf Yellowstone mit einem erschreckenden Ausbruch von – wie es Schwester Agnes einmal genannt hat – gesundem Menschenverstand beschreiben.«

Im gleichen Augenblick, als er diese Worte äußerte, tauchte aus dem Nichts eine Gestalt in einem orangefarbenen Trainingsanzug auf, barfuß und mit geschorenem Schädel. Sie befand sich mitten in einem großen Satz durch die Luft. »HAAARRRGGH

»Nicht jetzt, Cho-je!«

Lobsangs Worte rissen ab, als der Eindringling seine Beine fest um Lobsangs Hals schlang und ihn so auf den gefrorenen Boden riss. Doch noch im Fallen wechselte Lobsang davon, verschwand einfach und ließ den Ankömmling alleine im schmutzigen Schnee herumrollen. Die Asche malte große Flecken auf den orangen Trainingsanzug.

Joshua hatte eine Pistole dabei, aus Bronze, wechselfähig. Er hatte immer eine Pistole bei sich. Ehe der Kerl sich noch einmal regen konnte, hatte Joshua sich breitbeinig vor ihm aufgebaut und richtete die Waffe mit beiden Händen auf ihn. »Hab ich doch richtig gehört, dass uns jemand verfolgt. Keine Bewegung, Grashüpfer.«

Da erschien auch schon Lobsang schwer schnaufend neben ihm. Seine Kleidung war am Hals zerrissen. »Schon gut, Joshua. Er ist nicht richtig gefährlich. Das ist bloß …«

»HEI-AARGH!« Der Bursche vollführte aus dem Stand eine Art Salto rückwärts und wirbelte schon wieder durch die Luft auf Lobsang zu. Aber Lobsang duckte sich in eine Vorwärtsrolle und kickte den Eindringling in hohem Bogen von sich. Diesmal wechselte der Angreifer davon, ehe er auf der Erde aufschlug.

Lobsang richtete sich auf und atmete durch. »Das ist eine von Agnes’ Ideen«, sagte er. »Es geht darum …«

»NIIA-HAAH!« Jetzt erschien der Angreifer Cho-je über Lobsangs Kopf in dieser Welt, mit geballten Fäusten, die er auf Lobsangs Schädel niederkrachen lassen wollte. Aber Lobsang duckte sich, wirbelte herum und erwischte ihn mit einem Tritt in den Bauch – und wieder verschwand Cho-je.

Joshua gab auf. Er schob die Waffe wieder in die Pistolentasche und sah dem Kampf zu. Es war ein wildes Gerangel aus Tritten, Schlägen und sogar Kopfstößen, die dumpf klatschend auf die beiden Gegner einprasselten, dazu wechselten sie ständig hin und her und versuchten, den anderen auf diese Weise zu überlisten. Bei seinen Reisen mit Lobsang hatte Joshua viele Jackie-Chan-Filme gesehen, und draußen in der Langen Erde hatte er selbst gegen Elfen, wechselnde, jagderfahrene Humanoide, kämpfen müssen, die mit einer solchen Präzision zwischen den Welten hin- und hersprangen, dass sie neben einem materialisierten und die Hände bereits in der richtigen Position hatten, um sie einem um den Hals zu legen. Was er hier sah, hatte etwas von alldem, eine entfesselte Hochgeschwindigkeits-Action, der man mit bloßem Auge kaum folgen konnte.

»HIIE-ARR-AARGH

»Cho-je, du Narr!«

Es war erst zu Ende, als Lobsang Cho-jes linke Hand packte, als wollte er sie schütteln. Er hielt sie aber fest und vollführte einen Salto aus dem Stand. Danach hielt er die Hand immer noch fest. Sie war am Handgelenk abgerissen. Der schwer keuchende Cho-je betrachtete den Stumpf interessiert, und Joshua sah in der weißlichen Flüssigkeit, die auf den Erdboden tropfte, LED-Funken aufblitzen.

Cho-je verneigte sich vor Lobsang. »Gut gemacht! Schön zu sehen, dass Schwester Agnes’ Fürsorge dich nicht verzärtelt hat!«

»Im Gegenteil«, erwiderte Lobsang. »Dann bis zum nächsten Mal.«

»Bis dann. Gibst du mir bitte meine abgerissene Hand zurück …« Lobsang reichte sie ihm, und im nächsten Moment war Cho-je nicht mehr da.

»Also, Lobsang … Cho-je?«

Lobsang schwitzte recht überzeugend. »Wie schon gesagt, er war Agnes’ Idee. Sie glaubt, dass ich zu mächtig bin. Sie sagt, ich brauche Herausforderungen. Deshalb lasse ich ein endloses Training über mich ergehen, das mich abhärten soll. Eigentlich kam Agnes auf die Idee mit Cho-je, als ich ihr von unseren Boxkämpfen während unserer Reise mit der Mark Twain erzählte. Tatsächlich ziehe ich sehr viel Gewinn aus diesen Übungen, was die Kontrolle über meine ambulante Körpereinheit angeht, und Cho-je wird als Gegner immer perfekter. Wo wir gerade davon sprechen: Zusätzlich zu diesem Trainingspartner hat Agnes noch einen zweiten rekrutiert, eine ehemalige Heimbewohnerin aus Madison, eine eher zurückgezogene junge Frau, die ihr Leben der Aufgabe gewidmet hat, geniale Computerviren auf mich loszulassen.«

»Viren. Aha.«

Sie spazierten zum Twain zurück. »Für mich stellen Viren eine größere Bedrohung dar als körperliche Gewalt, ganz egal, wie viele Backups ich auch erschaffe. Jede Synchronisierung zwischen meinen verschiedenen Versionen bietet die Gelegenheit für einen tödlichen Angriff. Ich überlege gerade, ob ich nicht zumindest ein nichtelektronisches Backup einrichten sollte.«

»Wie soll das denn aussehen?«

»Ach, ein paar Hundert Mönche irgendwo in einem Skriptorium, die endlos meine Gedanken von einem gedruckten Papierbuch ins nächste kopieren. Vielleicht in einem Skriptorium auf dem Mond.«

»In einer Hinsicht hast du dich eindeutig verändert, Lobsang. Deine Witze sind zwar kein bisschen besser geworden, aber jetzt erkenne ich wenigstens, dass es Witze sein sollen.«

»Das nehme ich als Kompliment.«

»Wenn ich dann noch daran denke, dass dieser Zwischenfall mit Cho-je sich gerade in dem Moment ereignet hat, als du mir einen Vortrag über den ›gesunden Menschenverstand‹ gehalten hast …«

»Das können wir morgen früh noch besprechen. Das Twain ist relativ spartanisch, aber doch recht komfortabel eingerichtet.«

»Hast du gute Filme dabei?«

»Selbstverständlich. Du darfst dir einen aussuchen. Aber wenn’s geht, bitte nichts mit singenden Nonnen …«