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Frank Wood stellte fest, dass Willis Linsay, was die wechselwärtige Geographie des Langen Mars anging, offenbar recht behielt.

Aus den hoch oben in der dünnen Luft kurvenden Gleitern sahen die meisten Wechselmarse auf den ersten Blick einer wie der andere aus. Die Piloten hielten die mit Staub bepuderten Vögel über ihrem Landegebiet von Mangala Vallis, einer riesigen trockenen Landschaft, in der sich von einer zur anderen Welt im Allgemeinen so gut wie überhaupt nichts veränderte. Wie Willis vorausgesagt hatte, bestand beim Mars die einzige Abwechslung in den wenigen Jokern, Welten, in denen es aus irgendeinem Grund Wärme und Feuchtigkeit gab und damit eine geringe Chance, dass sich irgendwo ein bisschen zähes Leben entwickeln konnte.

Doch diese willkommenen Ausnahmen schienen alle auch zeitlich sehr begrenzt zu sein. Es konnte Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende, sogar Zehntausende von Jahren dauern, aber letztendlich ließen die Eruptionen irgendwann nach, die vulkanischen Gase verzogen sich, die Kraterseen froren zu, und der Mars kehrte zu seinem üblichen Erscheinungsbild der tödlichen Erstarrung zurück. Viel öfter als auf intakte Biosphären – wie etwa die Welt mit den riesigen Sandwalen, die sie zufällig gleich am Anfang ihrer Reise entdeckt hatten – trafen die Reisenden auf Spuren erst kürzlich ausgelöschten Lebens. Abgesehen von Sandstürmen passierte nicht viel auf dem Mars; die Erosion ging nur langsam vonstatten, weshalb sich solche Lebensspuren lange hielten.

So waren die Gleiter bei ungefähr hunderttausend Schritten über etwas hinweggeflogen, was wie die Reste eines gewaltigen Ozeans aussah, der, wenn auch nur kurzzeitig, die Ebenen der nördlichen Hemisphäre bedeckt haben musste. Ganze Landstriche wie Mangala zeigten Anzeichen dafür, dass sie Meeresküsten gewesen waren, und Willis deutete auf Sandstrände, auf etwas ein Stück weiter im Inland, das wie versteinerte Wälder aussah, und auf Salzflächen auf dem ausgetrockneten Meeresboden.

Als sie tiefer hinabgingen, um sich alles genauer anzusehen, machten sie auf dem Meeresboden konische Erdhaufen aus, so groß wie Pyramiden, die von irgendeiner riesigen Schlange geschaffen worden waren – vielleicht einer entfernten Verwandten der Sandwale –, sowie überall verstreute Rückenplatten, wie abgeworfene Panzer räuberischer Krustentiere. Auf einem trockenen Meeresboden lagen sogar Knochen, die an den riesigen Brustkorb eines Wals erinnerten.

Am zwölften Tag und über eine halbe Million Schritte von ihrem Ausgangspunkt entfernt, trafen sie endlich auf Spuren vernunftbegabter Wesen. Sie entdeckten eine Stadt.

Südlich von Mangala waren unter dem Staub des Hochlands noch immer gerade Straßenzüge zu erkennen, über denen hohe, knochenweiße Türme aufragten. Aber es gab keinerlei Anzeichen für noch vorhandenes Leben.

Die drei Reisenden hatten es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, die Besatzung und die Flugverantwortlichkeit immer wieder zu tauschen, damit alle wach und in Übung blieben und die Piloten mit den Eigenheiten von beiden Maschinen vertraut waren. An dem Tag, an dem sie die Stadt entdeckten, flog Frank mit Sally, die Thor steuerte, während Willis allein Woden flog. Deshalb konnte sich Frank ausgiebig umsehen, während Sally den Vogel sinken ließ und dann auf die Stadt zuhielt.

In der dünnen Luft brauchten die Gleiter stets mehr Geschwindigkeit, um oben zu bleiben, was in größeren Höhen nicht so auffiel, aber dicht über dem Boden schoss man dahin wie eine Schwalbe, die eine Fliege jagte. Die Stadt tauchte wie aus dem Nichts auf, und plötzlich sauste Frank über breite Straßen mit zerbrochenen Steinplatten und zwischen unmöglich hohen, rissigen und zerbröselten Elfenbeintürmen dahin. Er konnte es sich nicht verkneifen, einen wilden Schrei auszustoßen.

»Ich versuche mich zu konzentrieren«, brummte Sally.

»Entschuldige.«

»Was sagen die Daten?«

Frank warf einen Blick auf ein Display neben seinem Sitz, auf dem Megabytes an Daten grafisch angezeigt wurden, Sonar- und Radarmessungen sowie Stichproben der Atmosphäre, die in den Kompaktspeicher des Gleiters eingespeist wurden. Die Gleiter verfügten sogar über Funkempfänger, die auf irgendwelche Signale lauschten. Die Ionosphäre des Mars war nur sehr dürftig und gab einen schlechten Reflektor für Funkwellen ab, aber man konnte nie wissen; außerdem wäre es ihnen fahrlässig vorgekommen, diese Option auszulassen. »Alles in Butter«, sagte Frank. »Das ist echt ’n Ding, was? Aus der Luft sah die Stadt wie … ich weiß auch nicht … wie ein Schachbrett aus. Hier unten wirkt alles schäbiger und kaputter, und diese Türme kommen einem eher wie abgebrochene Zähne vor. Aber sie sind höher als alles, was man auf der Erde hochziehen könnte.«

»Das liegt an der geringen Schwerkraft«, meldete sich Willis zu Wort.

»Aber auch die Türme haben sie nicht gerettet, als die letzten Kriege begannen«, sagte Sally. »Seht mal nach unten.«

Jetzt machte Frank zwischen den auf den Fahrbahnen liegenden Trümmern und sogar in einigen der zerstörten Gebäude merkwürdige Überreste aus: Bruchstücke von Panzerungen, deutlich unterteilte Gliedmaßen, wie aus den Körpern gigantischer Spinnen gerissen. Sie waren aus einer Art Metall gefertigt, vielleicht auch aus Keramik. Diese Fragmente waren zerbrochen, zermalmt, aufgerissen, die Oberflächen der Straßen und die Mauern von Bombenkratern übersät. Die gesamte Szenerie überzog ein feiner, rostrot glänzender und vom Wind verwirbelter Staub.

»Warum hast du ›letzte Kriege‹ gesagt?«, wollte Frank wissen.

»Weil offensichtlich niemand übrig geblieben ist, um am Ende wieder alles aufzuräumen«, antwortete Sally. »Viele dieser Joker-Inseln im Zeitmeer haben sich anscheinend mit einem Krieg den endgültigen Garaus gemacht. Nach dem Klimakollaps haben die Überlebenden um die letzten Wasservorräte gekämpft, um die letzten Bäume, die sie verbrennen konnten, und vielleicht haben sie auch Opfer gebracht, um ihre Götter zu besänftigen. Solche Muster finden sich in der Geschichte der Datum-Erde zuhauf, und genau so hätten wir es auch gemacht. Dummheit ist allem Anschein nach eine Universalie.«

In dieser Stadt, die wie ein gewaltiger Friedhof aussah, ließ diese Bemerkung Frank zusammenzucken.

»Ich glaube nicht, dass wir hier noch etwas tun können«, sagte Willis. »Ich gehe runter und sammle ein paar Proben ein. Wenn ihr wollt, könnt ihr ja mitkommen.«

Frank sah, wie Woden nach unten zog und auf eine weite Ebene außerhalb der Stadt zuflog. »Was meinst du?«, fragte er Sally. »Willst du dir mal die Beine vertreten?«

»Nicht nötig. Du?«

»Muss nicht sein. Ich mache hier gerade ein bisschen Couch-Yoga, während wir uns unterhalten.« Um den Methan-Treibstoff, den sie für einen Start benötigten, zu sparen, versuchten sie, so selten wie möglich zu landen.

Sally zog an ihrem Joystick, Thors Nase hob sich, und der Gleiter schraubte sich in die Luft. Kurz darauf war die Stadt wieder auf ein spielzeuggroßes Diorama geschrumpft, von Bombenexplosionen oder insektenhaften Kriegsmaschinen war nichts mehr zu erkennen.

Frank wechselte auf die Bordanlage, sodass Willis nicht mithören konnte. »Also, Sally.«

»Was denn?«

»›Dummheit ist eine Universalie.‹ So was in der Art habe ich schon mehrfach von dir gehört. Meinst du das ernst?«

»Was geht dich das an?«

»Ich frage ja nur.«

»Hör mal, ich habe die Menschen nicht von klein auf verachtet, das musste ich erst nach und nach lernen. Du weißt, woher ich komme …«

Er kannte ihren Lebenslauf in groben Zügen. Das meiste hatte er von Monica Jansson erfahren, der Sally in ihren letzten Jahren nahegestanden hatte, jedenfalls für Sallys Verhältnisse. Trickreich hatten die beiden gemeinsam ein paar Trolle aus GapSpace befreit. Dann waren sich Monica und Frank nähergekommen, nur leider viel zu kurz, bis er sie schließlich verlor.

Sally Linsay war als natürliche Wechslerin aufgewachsen, aber nicht beide Elternteile waren wie sie. Ihr Vater Willis besaß diese Fähigkeit nicht. Vor dem Wechseltag hatte ihre Familie mütterlicherseits dieses besondere Können verständlicherweise für sich behalten, so wie anscheinend viele Dynastien von Naturtalenten, aber sie hatten es ganz nach Belieben für sich eingesetzt.

»Ich bin schon als kleines Kind gewechselt«, sagte Sally. »Meine Onkel sind in den Nahen Erden mit Armbrüsten und dergleichen jagen gegangen; sie wussten genau, wie man sich vor Grizzlys in Acht nimmt. Vater war schon immer eher ein Bastler als ein Jäger, er hat sich eine Wechsel-Werkstatt eingerichtet und dort auch einen Garten angelegt. Ich habe ihn mit rübergenommen und ihm geholfen, und er hat sich Geschichten ausgedacht und mit mir Spiele gespielt. Die Lange Erde war mein Narnia. Kennst du Narnia?«

»Das ist das mit den Hobbits, oder?«

Sie schnaubte verächtlich. »Für mich war das Wechseln die reine Freude. Außerdem war es eine nützliche Erfahrung, weil ich von klugen Leuten umgeben war, die wussten, was sie taten, Leute, die diese Gabe klug einsetzten und sich immer vorsahen.«

Nach einer kurzen Pause redete sie weiter: »Dann kam der Wechseltag, und plötzlich konnte jeder Depp mit einer Wechsel-Box in die Lange Erde aufbrechen. Und was dann? Dreimal darfst du raten! Im nächsten Moment sind alle dabei zu ertrinken, zu erfrieren oder zu verhungern oder sich von Berglöwen auffressen zu lassen, weil die kleinen Kätzchen sooo niedlich sind. Das Schlimmste war jedoch, dass diese Idioten nicht nur ihre Blödheit in die Lange Erde mitnahmen, sondern auch ihre Fehler und Charakterschwächen. Ihre Grausamkeit. Vor allen Dingen ihre Grausamkeit.«

»Damit meinst du wohl besonders die Grausamkeit gegenüber den Trollen. Daran kann ich mich noch bei dir erinnern, als du damals in der Lücke aufgetaucht bist.«

Frank sah, wie sich ihr Rücken vor ihm im Pilotensitz versteifte. Sofort wusste er, dass sie jetzt giftig wurde. »Wenn du schon alles über mich weißt, warum fragst du dann?«

»Ich weiß doch nicht alles. Nur das, was ich gehört habe, zum Beispiel von Monica. Du bist so was wie eine Vagabundin geworden, eine Einzelgängerin. Ein Engel der Barmherzigkeit, der half, diese ›Deppen‹ vor sich selbst zu schützen. Aber du bist auch …« Er suchte nach einem nicht so feindlich klingenden Begriff. »Du bist auch zum Gewissen der Langen Erde geworden. Jedenfalls siehst du dich selbst so.«

Sie lachte. »Man hat mich schon vieles genannt, aber das noch nicht. Hör mal, der Großteil der kolonisierten Langen Erde hat mit Zivilisation nicht allzu viel zu tun. Wenn ich sehe, dass irgendwo ein Unrecht begangen wird …«

»Das, was du für Unrecht hältst.«

»Dann sorge ich dafür, dass die Übeltäter das auch mitkriegen.«

»Du handelst als selbsternannte Anklägerin, Richterin –auch als Henkerin?«

»Ich bemühe mich, niemanden zu töten«, antwortete sie ein wenig kryptisch. »Bestrafen? Ja. Manchmal, wenn es möglich ist, übergebe ich die Verbrecher der Justiz. Toten kann man keine Vernunft mehr einbläuen. Aber es hängt immer von der Situation ab.«

»Na schön. Trotzdem dürfte nicht jeder mit deinen Wertmaßstäben einverstanden sein. Oder wie du dir das Recht nimmst, nach diesen Maßstäben zu richten. Es gibt Leute, die das, was du tust, als Selbstjustiz bezeichnen würden.«

»Das ist nur ein Wort.«

»Versteh mich nicht falsch, Sally, ich will dir doch nur eins sagen: Dein Vater war derjenige, der das alles ausgelöst hat, der den Wechseltag möglich gemacht hat. Und jetzt verschmutzen all diese ›Deppen‹ deine Lange Erde, so siehst du es. Sie töten die Löwen in deinem Narnia. Hab ich recht? Ist nicht das dein eigentliches Problem? Die Tatsache, dass dein eigener Vater diese Welten zugänglich gemacht …«

»Was soll das? Spielst du jetzt den Analytiker?«, fauchte sie wütend.

»Nein. Aber nach meinem Militärdienst habe ich selbst ein paar Analytiker aufgesucht, deshalb weiß ich, welche Fragen ich stellen muss. Wenn du willst, halte ich die Klappe. Deine Angelegenheiten sind deine Angelegenheiten. Ich will nur, dass du auf dich aufpasst, Sally. Pass auf, was du tust, ja? Halte deinen Zorn in Zaum. Denk daran, wo er herkommt. Wir sind alle sehr weit von zu Hause entfernt, und wir sind aufeinander angewiesen, wir müssen uns beherrschen. Mehr will ich gar nicht sagen.«

Sie gab ihm keine Antwort, sondern ließ den Gleiter immer weiter große, überaus präzise Schleifen über der Ebene ziehen, bis Willis seine Arbeit beendet hatte und wieder zu ihnen aufstieg.

Nach einem raschen Abgleich ihrer Datenspeicher wechselten sie weiter, und die Schachbrettstadt unter ihnen verschwand von einem Moment zum anderen.