45

Einen Monat, nachdem die Armstrong und die Cernan aus Happy Landings zurückgekehrt waren, kündigte Lobsang an, er wolle den Ort selbst noch einmal aufsuchen.

Agnes begleitete ihn.

Sie hatte nur gelegentlich, meist über Joshua, etwas davon mitbekommen, was an diesem Ort vor sich gegangen war. Irgendeine große Sache mit den Militär-Twains, allen möglichen Waffen und mit den Kindern, die inzwischen die Next genannt wurden. Ihrer Meinung nach war die Hauptsache, dass letztendlich doch niemand irgendwelche Bomben auf irgendjemand anderen geworfen hatte und dass Paul Spencer Wagoner, ein ehemaliges Kind aus ihrem Heim, in Sicherheit war – obwohl niemand zu wissen schien, wo er sich eigentlich aufhielt.

Trotzdem war sie sehr neugierig darauf, diesen geheimnisvollen Ort mit eigenen Augen zu sehen. Warum auch nicht?

So machten sich Lobsang und Agnes, nur sie beide, in einem kleinen, sehr komfortablem Privat-Twain auf die Reise.

Als sie über Happy Landings angekommen waren, wachte Agnes wie üblich bei Tagesanbruch auf. Im winzigen Küchenbereich bereitete sie rasch ein Frühstück aus Rühreiern und Kaffee und brachte es auf einem Tablett zu Lobsang in den Salon. Er behauptete immer, Eier seien für sie beide sehr gut, weil ihre künstlichen Körper Proteine bräuchten.

Als sie eintrat, stand er am großen Panoramafenster und blickte auf die Stadt hinab. Von so hoch oben überblickte Agnes die Anlage der Stadt, die sie sich schon vorher auf einem Plan angesehen hatte: der Fluss, das Rathaus, die großen Plätze, die Wege, die in den Wald führten. Nirgendwo ein Anzeichen dafür, dass die Militärschiffe hier gewesen waren. Alles sah für eine Siedlung in den Hohen Megas ganz normal aus.

Bis auf die Tatsache, dass sich nichts rührte. Kein Verkehr auf den Feldwegen, kein Rauch stieg von den Gebäuden auf. Keine Trollgruppen, die am Fluss gemeinsam sangen.

»Leer«, sagte sie.

»Sie sind weg. Die Next. Mitsamt ihren Familien. Sogar die Nachbargemeinden sind wie leergefegt. Wir blicken auf einen leeren Kontinent, Agnes. Und – oha.« Lobsang zuckte zusammen und erstarrte. Alles Leben schien von ihm zu weichen.

»Lobsang? Alles in Ordnung?« Sie stellte das Tablett ab und rüttelte ihn an der Schulter. »Lobsang!«

Er kam wieder zu sich, seine Züge belebten sich wieder. Dann setzte er sich und sank regelrecht in sich zusammen, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt.

»Was ist mit Ihnen, Lobsang? Was ist passiert?«

»Ich habe gerade eine Botschaft erhalten.«

»Was für eine Botschaft? Von wem?«

»Von den Next«, sagte er ein wenig gereizt. »Von wem sonst? Eine Nachricht, die irgendwie durch unsere Ankunft ausgelöst wurde. Sie ist in Funkfrequenzen hineinkopiert – und nicht besonders dezent gehalten.«

»Was spielt das für eine Rolle? Eine Botschaft an Sie?«

»Nicht direkt. Eine Botschaft an die ganze Menschheit.« Er lachte dumpf. »Wäre schön, wenn sie nur an mich gerichtet wäre. Sie wissen, dass ich davon geträumt habe, mit den Next auf Augenhöhe zu verkehren. Wir hätten bestimmt ein paar gemeinsame Interessen gehabt. Allein schon deshalb, weil ich sie durch meine sorgsamen Beobachtungen und meine Aktionen durch Nelson und Joshua und Roberta Golding und Maggie Kauffman gerettet habe, Aktionen, die sie aus dem Gefängnis auf Hawaii geholt und vor der atomaren Vernichtung bewahrt haben … Wahrscheinlich hatte ich erwartet, als einer der Ihren akzeptiert zu werden. Aber so sehen sie mich allem Anschein nach nicht.«

»Wie sehen sie Sie denn?«

»Als Mittelsmann, glaube ich. Bestenfalls als Abgesandten, schlimmstenfalls als Boten.«

»Als Boten?«

»Aber nicht mal diese Botschaft war allein für mich bestimmt … Sie sind weg, Agnes. Sie sagen, dass sie irgendwohin gegangen sind, wohin ich ihnen nicht folgen kann. Sie haben sich außer Reichweite gebracht. Tja, wer hätte das nicht getan angesichts dessen, was die Menschheit ihnen bereits angetan hat. Und was sie sonst noch erwogen hat, mit ihnen anzustellen.« Er seufzte. »Ich muss darüber nachdenken, wie ich damit umgehe. Aber erst lande ich das Schiff.«

»Zuallererst wird gefrühstückt«, sagte Agnes und holte das Tablett.

Das Twain senkte sich über die grasbewachsene Fläche am Fluss.

Die beiden Passagiere gingen die Rampe hinab und betraten einen mit Herbstblättern bedeckten Boden. Nirgendwo war das geschäftige Treiben von Menschen und Trollen zu sehen, das Agnes erwartet hatte. Die fallenden Ahornblätter waren das Einzige, was sich bewegte. Als sie eins davon aufhob, stellte sie fest, dass es leicht duftete. Einige Blätter waren in den Fluss gefallen und trieben wie eine kleine Regatta auf dem Wasser – ein Anblick, der Agnes durch die Abwesenheit von Menschen verstörender vorkam, als er eigentlich war.

Plötzlich vernahm sie ein leises Knirschen. Schritte auf den Blättern? Sie drehte sich um.

»Dieser Ort dient keinem Zweck mehr«, sagte Lobsang, »und er ist inzwischen viel zu bekannt, als dass sich die Next hier je wieder hätten wohlfühlen können. Leider ist damit eine einzigartige Gemeinschaft verlorengegangen, ein Stück von der Vielfalt der menschlichen Erfahrung. Wir sind also allein, Agnes …«

»Nicht ganz.« Sie deutete hinter ihn.

Vom Rathaus her kamen zwei Gestalten: ein junger Mann und ein Kind, beide in, wie es aussah, gebrauchte Pionierklamotten gekleidet.

»Hallo, Lobsang«, sagte der Mann mit breitem New Yorker Akzent und grinste. In der Hand hielt er fast zärtlich einen Rechen, als hätte er gerade Blätter geharkt.

Der Junge, der asiatisch, vielleicht japanisch aussah, sagte nichts.

Beide musterten erst Schwester Agnes in ihrer Tracht, dann Lobsang in seiner üblichen orangefarbenen Robe und mit dem rasierten Schädel.

Sie nahmen die beiden mit an Bord, ließen sie duschen, gaben ihnen zu essen und passendere Kleidung als die abgelegten Sachen, die sie in den leeren Hütten von Happy Landings gefunden hatten. Dann versprachen sie ihnen, sie mitzunehmen und an jedem Ort ihrer Wahl abzusetzen, und ließen sie erzählen.

Der junge Mann hieß Rich. Er war hierhergefallen, denn das schien der richtige Ausdruck dafür zu sein, wie Happy Landings funktionierte: Man »fiel«, hilflos und unabsichtlich, durch ein Netzwerk weicher Stellen, bis man an diesem eigenartigen Ort landete. Rich war von Dublin aus gefallen, wobei Dublin nicht mal seine Heimatstadt war. Er war ein amerikanischer Austauschstudent, der irische Mythologie studierte. »Zuerst dachte ich, das Guinness hätte etwas damit zu tun«, gab er reumütig zu. »Oder vielleicht die Kobolde, von denen ich gelesen hatte.«

Der japanisch aussehende Junge nannte sich unpassenderweise George. Seine Mutter war Engländerin. Er ging noch zur Schule und war irgendwo beim Wandern gewesen, als er ebenfalls bis hierher fiel.

Beide hatten den Ort bereits verlassen vorgefunden. Allem Anschein nach funktionierte der unheimliche Sammelmechanismus, der Happy Landings stets mit Neuankömmlingen versorgte, noch immer, obwohl die ursprünglichen Bewohner das Weite gesucht hatten. Zum Glück, dachte Agnes, war zuerst Rich hier gelandet und hatte dem zwölfjährigen George helfen können, als der auftauchte. Trotzdem waren die beiden schon seit einigen Wochen ganz auf sich allein gestellt.

Rich schien von seinem Abenteuer nicht sonderlich beeindruckt zu sein, auch wenn beide sehr froh darüber waren, dass jemand sie gefunden hatte. Keiner von beiden wusste, wie er überhaupt hier gelandet war, und erst recht nicht, wohin er sich wenden sollte, um wieder nach Hause zu gelangen. Und während sie redeten, taute auch George allmählich auf. Agnes hatte den Eindruck, dass er dabei nicht nur an Selbstvertrauen, sondern auch an Autorität gewann. Er mochte zwar jünger sein als Rich, aber er war deutlich intelligenter. Vielleicht hätte er eines der superschlauen Kinder von Happy Landings werden können, dachte sie, vielleicht trug er die Gene eines Spencer oder Montecute in sich. Sie fragte sich, was jetzt aus ihm werden sollte.

Der Umgang mit den beiden Jungen tat Agnes ausgesprochen gut.

Sie war eigentlich keine Freundin solcher Urlaubsreisen, selbst dann nicht, wenn sie zu ihrer Entschuldigung vorbringen konnte, dass ihre Arbeit inzwischen darin bestand, für Lobsang zu sorgen. Manchmal fragte sich Agnes, ob sie das Spielzeug eines reichen Mannes geworden war. Was für ein grässliches Schicksal! Ein Schicksal, vor dem Schwester Concepta damals, als Agnes noch zur Klosterschule ging, die großen Mädchen immer gewarnt hatte. Sie hatte mit Strafen wie dem Höllenfeuer gedroht, was die Aussicht auf eine perverse Weise noch verlockender gemacht hatte. Agnes und ihre Freundinnen wie Guinevere Perch hatten hinter vorgehaltener Hand gekichert. Na, bei Guinevere hatte die Botschaft jedenfalls nicht sehr gefruchtet, denn auf dem Höhepunkt ihrer Karriere besaß sie jede Menge Immobilien in Marbella und auf den Seychellen, außerdem ein sehr teures Haus mitten in London, in nächster Nähe zum Unterhaus … Als Agnes einmal in London zu Besuch gewesen war, hatte Guinevere ihr einige der Geheimnisse ihres gut ausgestatteten Kellers vorgeführt. Die geschmacklosen Fesseln, die lächerlichen Objekte der Lust, der Kontrolle und der Grausamkeit, deren Verwendung Guinevere penibel in ihrem kleinen Notizbuch festhielt – Agnes hatte laut lachen müssen, sehr zur Verwunderung ihrer Freundin, die wohl eher eine Moralpredigt erwartet hatte.

Bei einem Drink hatte Agnes ihr anschließend erzählt, dass sie in kleinen anonymen Wohnungen in Madison, Wisconsin, schlimmere Sünden und seelische Abgründe gesehen habe, als man sich in diesem Londoner Keller je vorstellen konnte. Schlimmere Sünden und viel mehr Hölle, ganz zweifellos. Sie hatte versucht, solche Eindrücke nie ganz an sich herankommen zu lassen, aber selbst jetzt fiel es ihr nicht leicht. Manchmal musste Agnes Lobsang bei seinen schlimmsten Tiraden über die Unzulänglichkeiten der Menschheit zustimmen, und manchmal fiel es ihr schwer, sich daran zu erinnern, dass sie selbst einmal unschuldig gewesen war.

Aber in ihrem Herzen hatte sie sich nicht verändert. Sie wurde noch immer von denselben Impulsen angetrieben, die ihr Leben stets bestimmt hatten. Sie wollte sich um verängstigte Kinder kümmern, so einfach war das. Sie wollte die Besorgten und Bekümmerten trösten, den Hungrigen zu essen geben. Das war schließlich ihr Leben gewesen, der größte Teil davon, der andere hatte darin bestanden, in den Hallen der Mächtigen herumzustänkern … Wie sehr sie die Krankenstationen und Kindergärten, die Küchen und Hospize vermisste! Demnächst musste sie Lobsang wohl um eine Auszeit bitten, um irgendeinen gottverlassenen, trostlosen Winkel der Langen Erde aufzusuchen, vielleicht auch einen Ort auf der schon so lange leidenden Datum, wo sie etwas bewirken konnte.

Besser wäre es, sie würden beide etwas finden, woran sie gemeinsam arbeiten konnten. Sie spürte, dass auch Lobsang sich zusehends veränderte. Er war einsichtiger geworden, nachdenklicher. Er hatte Agnes sogar darum gebeten, seine Trainingseinheiten herunterzufahren. Sie hatte die freiwilligen Trainer in aller Höflichkeit entlassen; Cho-je leitete inzwischen wohl eine Boxschule für Yellowstone-Waisen in einer der Nahen Erden. Ja, vielleicht war es an der Zeit, dass sie und Lobsang sich ein gemeinsames Projekt suchten. Etwas Positives, Würdiges, um die Schuld zu lindern, die an ihr nagte.

Gleichzeitig spürte sie, wie ihre zynische Seite sie wegen dieses hinterhältigen Schuldgefühls tadelte. Das war natürlich das dunkle Geheimnis des Katholizismus, das immerzu in einem fortwirkte, ganz egal, für wie raffiniert und durchtrieben man sich hielt. Man schleppte stets seinen eigenen Inquisitor mit sich herum.

In Agnes’ Fall sogar bis über das Grab hinaus.

An jenem Abend, als die beiden Jungen in dem kleinen Lagerraum im hinteren Teil der Gondel in improvisierten Betten schliefen, fand Agnes Lobsang, der in anderen Manifestationen in diesem Augenblick zweifellos in den tiefsten Gräben der Ozeane oder auf der Rückseite des Mondes umherwandelte, im kleinen Aussichtsdeck am Tisch sitzend vor. Er trimmte behutsam einen großen Bonsai-Baum in einer Glaskugel, wobei er sich so aufmerksam wie eine Mutter um ihr Neugeborenes um die Ausrichtung jeder Wurzel, jeden Astes und jeden Zweiges kümmerte. Außerdem behängte er die Miniaturäste mit winzigen, handgefertigten Gaben, wie man es in den Gärten buddhistischer Klöster machte.

»Wie schön«, sagte Agnes. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Lobsang stand auf, als sie den kleinen Raum betrat. Er stand immer auf, wenn sie ein Zimmer betrat, und das berührte sie sehr. »Ich dachte, es ist an der Zeit, dass ich ihm ein wenig Aufmerksamkeit schenke. Kaum zu glauben, aber er ist ein Geschenk von Sally Linsay. Dieser Baum ist ursprünglich im All gewachsen, sie hat ihn vom Langen Mars mitgebracht. Dabei ist Sally nicht der Typ, der Souvenirs mitbringt, schon gar keine Geschenke für mich. Aber sie sagte, er hätte sie an mich erinnert – weil er von der Erde sei und zugleich doch nicht von ihr. Er scheint mit der Schwerkraft ziemlich gut zurechtzukommen …«

In geselligem Schweigen saßen sie beieinander, und während er seine Arbeit wiederaufnahm, überdachte sie nicht zum ersten Mal ihre Gefühle für dieses Wesen, diesen Doktor Frankenstein, dessen wiederbelebtes Ungeheuer sie war. Für diesen Mann. Unaufhörlich manipulierte Lobsang Menschen und Umstände und mischte sich heimlich und unauffällig ein, was ihm viele Feinde eingebracht hatte. Aber wenn sie es richtig sah, geschah es immer aus einer fürsorglichen Zuneigung für die Menschen, wie sehr er über ihre Mängel auch lästern mochte. Soweit sie wusste, war aufgrund von Lobsangs Einmischung noch kein Menschenleben zu Schaden gekommen, wohingegen schon viele durch das verborgene Eingreifen seiner hilfreichen Hand gerettet worden waren – nicht zuletzt eben jene Next durch Joshua, Sally und Nelson, dank seiner Machenschaften hinter den Kulissen. Ganz zu schweigen davon, was er in der Vergangenheit für die Trolle getan hatte …

Was genau empfand sie eigentlich für Lobsang? Sicherlich keine Liebe, das ganz bestimmt nicht. Sie war nur im übertragenen Sinne seine Frau. Abgesehen davon war Lobsang kein Wesen, das man auf menschliche Weise lieben konnte. Vielmehr kam sie sich manchmal vor, als befände sie sich in der Gegenwart eines Engels. »Hab ich noch nie zuvor gesehen«, murmelte sie. »Und wahrscheinlich ist es auch das letzte Mal.«

»Wie bitte, Agnes?«

»Stehen Sie bitte mal kurz auf, Lobsang, ja?«

Lobsang sah sie verdutzt an, erhob sich und kam auf Agnes zu, die ebenfalls aufstand, ihn an den Schultern nahm, auf die Wange küsste und dann fest an sich drückte, mit dem Kopf an der Brust seiner mobilen Einheit. Und während er sie so festhielt, hätte sie beinahe schwören können, dass die leise surrenden Motoren des Twains einen Herzschlag lang aussetzten. Aber das hatte sie sich wahrscheinlich nur eingebildet.

An diesem Abend ging Agnes nicht wie sonst in ihre Kabine, um sich ins Bett zu legen, sondern zog ihre wärmsten Sachen an, durchquerte den Salon und klopfte an die Tür des Ruderhauses. Ein ziemlich verdutzt aussehender Lobsang öffnete ihr. Das Licht war gedimmt, der winzige Kontrollraum von hellem Mondlicht geflutet.

Agnes stellte sich neben ihn. »Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie, wenn Sie mit einem Twain unterwegs sind, nachts gerne aufbleiben und sich den Mond ansehen beziehungsweise die Monde, beim Wechseln. Wollen wir uns den Mond heute Nacht gemeinsam ansehen?«

Sein Lächeln war absolut echt. »Es wäre mir eine Ehre und eine ganz besondere Freude.«

»Jetzt werden Sie nicht gleich rührselig«, brummte sie. »Wo haben Sie eigentlich den Baileys versteckt?«

Kurz darauf saß Lobsang neben ihr im wohlig warmen Ruderhaus. Sie hatte eine Decke auf dem Schoß und war, umfangen von dem beruhigenden mechanischen Summen, trotz allem alsbald eingeschlafen.

Als sie erwachte, war es schon Morgen.

Lobsang stand immer noch am Fenster und blickte finster auf Happy Landings hinab.

»Lobsang?«

»Wir müssen hier saubermachen«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

»Saubermachen? Wie denn?«

»Es muss alles weg. Die Gebäude, die Feldbegrenzungen, sogar die Straßen. Restlos. Wenigstens das kann ich zum Wohle der Next und der Menschheit tun, ob ich nun darum gebeten werde oder nicht.«

Sie unterdrückte einen Seufzer. Ehe sie sich mit Lobsang und seinen Lobsang-Ideen abgeben konnte, brauchte sie erst einmal eine Tasse Kaffee. »Was reden Sie da? Warum sollten Sie so etwas tun?«

»Agnes, bitte sehen Sie mich nicht an, als wäre ich verrückt geworden. Denken Sie logisch. Die kommende Rasse hat uns zu verstehen gegeben, dass sie weg ist, so weit wie möglich weg von uns.«

»Was glauben Sie, wo sie hin sind?«

»Die Botschaft, die ich gehört habe, besagte, sie hätten irgendwo so etwas wie ein Reservat abgesteckt, einen Bereich in der Langen Erde, der zuvor unbewohnt war und den sie jetzt als den ihren beanspruchen. Sie nennen ihn die Farm. Wie ausgedehnt dieser Bereich auch sein mag – eine Welt oder eine Million Welten – oder wo er liegt, nach Osten oder Westen, und wie weit entfernt, das weiß ich nicht. Er muss nicht einmal zusammenhängen, also nicht alle Welten hintereinander aufgereiht. Der Rest der Langen Erde gehöre uns, sagen sie. Großzügig von ihnen, oder nicht?«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ehrlich gesagt, nachdem die Next sich jetzt selbst für eine Trennung von uns entschieden haben … also ich finde, es hätte wesentlich schlimmer kommen können. Für uns, meine ich. Schließlich haben wir bereits damit gedroht, sie auszulöschen. Momentan sieht es ganz so aus, als wollten sie in erster Linie überleben, zumindest solange sie nur so wenige sind. Ich glaube einfach nicht, dass sie uns etwas antun wollen, wenn wir sie in Ruhe lassen. Falls wir sie jedoch weiterhin belästigen …«

»Sie wollen also verhindern, dass wir ihnen folgen können.«

»Genau.«

»Deshalb wollen Sie diesen Ort hier vernichten. Und damit jeden möglichen Hinweis auf den Verbleib der Next.«

»Mehr kann ich nicht tun, Agnes.«

Trotzdem wusste Agnes im Grunde ihres Herzens, dass Lobsang am liebsten sehr viel mehr getan hätte. Er hätte gerne mehr gewusst. Er wäre am liebsten selbst bei den Next gewesen. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als den Hausmeister zu spielen und hinter ihnen aufzuräumen, so wie er in seinem Trollpark in Wechsel-Madison die Blätter zusammengefegt hatte.

»Ich überlege noch, wie es sich am besten machen lässt«, sagte er. »Ich könnte alle Trolle, die ich auftreiben kann, herholen und alles kurz und klein schlagen lassen. Sämtliche Spuren dessen, was einmal Happy Landings war, beseitigen. Die Alternative wäre, einen kleinen Asteroiden abstürzen zu lassen, direkt aufs Rathaus. Wäre kein großes Problem für mich, in Anbetracht der Basis, von der aus ich arbeite.«

»Ehrlich? Welche Basis? Wenn Sie Asteroiden erwähnen, reden Sie wahrscheinlich vom Weltraum. Natürlich halten Sie sich dieser Tage irgendwo in der Oortschen Wolke auf, wie Sie es ausdrücken.«

Sein Grinsen konnte erstaunlich spitzbübisch aussehen. »Meine besten Witze sind wie guter Wein. Sie werden mit zunehmendem Alter immer besser. Aber um das hier zu bewerkstelligen, müsste ich nicht von der Oortschen Wolke aus operieren. Ein kleiner, erdnaher Asteroid könnte innerhalb weniger Tage abgelenkt und zum Aufprall gebracht werden. Vielleicht sogar innerhalb von Stunden, wenn er nah genug ist. Selbstverständlich müssten wir dafür sorgen, dass sich hier niemand mehr aufhält, und alle Pioniere, die zur Verwertung der Hinterlassenschaften hier herumschnüffeln, rechtzeitig warnen. Wir müssten auch irgendein System einrichten, das allen, die wie Rich und George auf mysteriöse Weise durch die weichen Stellen hierherfallen, weiterhilft …«

Sie hakte sich bei ihm ein. »Aber nicht gleich heute. Kommen Sie. Erst machen wir Frühstück, und dann bringen wir unsere Jungs nach Hause.«

Er rührte sich nicht von der Stelle, sondern musterte das, was auf den Bildschirmen vor ihm erschien. »Die Jungs sind wohlbehalten an Bord, oder?«

»Ja. Sie schlafen noch. Warum fragen Sie?« Etwas hinter dem Fenster lenkte sie ab. »Lobsang?«

»Ja?«

»Was ist das für ein Licht am Himmel?«

»Ich bin nicht ganz ehrlich mit Ihnen gewesen, Agnes. Gleich, nachdem ich die Nachricht von den Next empfangen habe, habe ich mit meinen Vorbereitungen angefangen. Ich hätte den Steinbrocken leicht wieder ablenken können, wenn es mir ratsam erschienen wäre.«

»Das Licht, das da vom Himmel fällt … Sie haben die ganze Nacht durchgearbeitet, was? Dabei soll ich doch Ihr Gewissen sein. Was haben Sie getan, Lobsang? Was haben Sie getan?«

Um die Auswirkungen zu überwachen, hatte Lobsang Ballons, Drohnen und sogar ein paar Nanosats vom Twain aufsteigen lassen. So konnte Agnes alles mitansehen.

In den letzten Augenblicken seiner Existenz kam der Asteroid schräg über Nordamerika herein. Innerhalb von Sekundenbruchteilen bohrte er sich durch die Erdatmosphäre, verdrängte die Luft und zog einen Vakuumtunnel hinter sich her.

Dann schlug ein Brocken aus Eis und Staub von der Größe eines kleinen Hauses in den Erdboden ein.

Der Asteroid selbst wurde komplett zerstört. Die Landschaft rings um den Einschlag wurde von einer Explosion aus geschmolzenem Gestein und extrem heißem Dampf hinweggefegt, von Druckwellen und umherfliegendem Geröll, und dann von gewaltigen Stößen erschüttert, die sich durch den gewachsenen Fels fortpflanzten.

Es war ein vergleichsweise kleiner Asteroideneinschlag. Der flache Krater würde schon bald auskühlen, es gab keinerlei verbleibende Strahlung. Niemand kam dabei zu Schaden. Niemand würde dadurch je zu Schaden kommen.

Aber Happy Landings gab es nicht mehr.