Kapitel 4

Erschöpft lässt Viktoria sich in Luciens Sessel fallen. Sie braucht Trost, doch der Zauber wirkt nicht. Sie sieht nicht, wie der Himmel sich im blauen Licht des Abends zartrosa färbt. Sie ist unfähig zu verstehen, dass Iris tot ist.

Das Klingeln der Hausglocke ertönt. Sie müht sich auf, reibt sich den schmerzenden Nacken. Sie schaltet die Außenbeleuchtung ein und späht durchs Fenster. Draußen steht ein rothaariger, groß gewachsener Mann.

»Einen Moment bitte«, ruft sie. Bevor sie die Türe öffnet, wäscht sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser und bürstet ihr dichtes Haar.

Der späte Besucher zeigt ihr seinen Ausweis. »Möller, Kripo Zürich. Ich führe die Ermittlungen im Fall von Iris Brunner.« Er streckt ihr die Hand entgegen. »Ich habe ein paar Fragen an Sie. Darf ich eintreten?«

Sie bittet ihn mit einer Handbewegung herein. Der Fremde bückt sich, als er über die Schwelle tritt. Schon lange ist sie keinem Mann mehr begegnet, in dessen Anwesenheit sie sich genau richtig proportioniert vorkam. »Bitte nehmen Sie Platz.« Sie weist auf den Stuhl, auf dem kurz zuvor noch Kunz gesessen hat.

»Zuerst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Das mit Ihrer Freundin tut mir sehr leid.«

Wie oft in seinem Leben hat er diesen Satz wohl schon aussprechen müssen, geht es ihr durch den Kopf.

»Sie wohnen hier oben ganz schön abgelegen.«

»Stimmt.«

»Eine gemütliche Wohnung.«

Sie findet, dass seine tiefe Stimme zu seinem Erscheinungsbild gut passt. »Ich verbringe viel Zeit in meinen vier Wänden, deshalb lege ich Wert auf Gemütlichkeit.« Sie mustert den rothaarigen Mann mit den ernsten, braunen Augen, die von einer ausgeprägten Stirnwulst überschattet werden.

»Wenn man das Haus von außen betrachtet, stellt man sich unweigerlich enge, niedrige Räume vor.«

»Ich habe das Erdgeschoss umbauen lassen. Was mich stört, ist, dass man bereits mitten in der Stube steht, wenn man das Haus betritt. Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um sich mit mir über mein Haus zu unterhalten?«

»Sie haben recht. Oh, wen haben wir denn da?«

»Das ist Sphinx.«

Möller streichelt den silbergrauen Kater, der sofort zu schnurren beginnt.

»Er mag Sie. Das hat er nur bei Lucien, meinem verstorbenen Mann, gemacht. Wenn Sie es mit ihm nicht verspielen wollen, so rate ich Ihnen, ihn nicht zu vernehmen.«

Der Beamte schmunzelt. »Mal sehen, was sich tun lässt. Erwarten Sie noch jemanden?« Er zeigt mit seinem sommersprossenübersäten Arm auf die Küche.

»Ich wollte heute Abend für Iris Brunner und mich kochen.«

Er nickt verständnisvoll.

»Sollen wir uns unter die Veranda setzen?«

»Gute Idee.« Möller steht auf und folgt ihr nach draußen. »So eine mit Wildreben überwachsene Pergola habe ich mir auch immer gewünscht.«

»Die habe ich mir nach eigenem Plan anfertigen lassen. Mögen Sie ein Glas Wein?« Sie zeigt auf den Sizilianer.

»Nein, danke.« Auf seiner Stirn bilden sich tiefe Furchen.

»Sie wissen nicht, was Sie verpassen.«

»Möglich.«

Sie reicht ihm eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser, greift selbst nach der Weinflasche. Dann zündet sie die Tischkerzen an. »Warum musste meine Freundin sterben? Sagen Sie es mir!« Fasziniert beobachtet sie die dunklen Schatten, die über Möllers Gesicht huschen und ihm ein geheimnisvolles Aussehen verleihen.

»Selbst wenn ich herausfinde, wer es getan hat, wird es dafür keine endgültige Antwort geben.«

Sie sinnt seinen Worten nach, spürt in ihnen einen Hauch Melancholie. »Wir haben am Morgen noch miteinander telefoniert. Iris schien so glücklich.«

»Dem Tod ist das Glück egal.«

Sie schlägt auf den Tisch. »Ich hasse den Tod!«

Möller schweigt.

Sie beugt sich vor. »Haben Sie mich gehört?«

Er weicht ihrem Blick aus.

»Nein, Sie verstehen das nicht. Sie wären arbeitslos, wenn es den Tod nicht gäbe.« Sie ist wütend auf diesen Polizisten, für den Iris’ Tod bloß ein weiterer Fall ist, den es zu lösen gilt. »Warum starren Sie mich so an? Glauben Sie mir, der Tod verdirbt alles. Die Hoffnung, die Wünsche, das Vertrauen.«

»War Iris Brunner ein glücklicher Mensch?«

»Glücklich. Was heißt das schon. Manchmal war sie zuversichtlich, manchmal verzweifelt. Finden Sie heraus, wer es getan hat.« Sie weiß um den bitteren Ton in ihrer Stimme.

Er schweigt.

Sie folgt seinem Blick Richtung Horizont, wo sich im Mondlicht die schwarzen Silhouetten der Voralpen abheben.

»Schön, die Sterne. Wohnen Sie schon lange hier?«

»Fast sieben Jahre. Zuvor habe ich in Zürich gewohnt.«

»Darf ich fragen, weshalb Sie hierher gezogen sind?«

»Gehören solche Fragen auch zu Ihrer Ermittlung?«

»Manchmal.«

»Nach dem Tod meines Mannes brauchte ich Distanz. Ich habe die eigenen vier Wände nicht mehr ausgehalten. Alles hat mich an Lucien erinnert.«

»Ich verstehe. Wohnen Sie hier draußen allein?«

»Meistens.« Sein Schmunzeln irritiert sie. »Können wir jetzt zur Sache kommen? Ich bin müde, und ich fühle mich total beschissen.«

»Was möchten Sie wissen?«, fragt er geduldig.

»Mir wurde mitgeteilt, dass man Iris im Mondmilchgubel gefunden hat, wurde sie auch dort getötet?«

»Das wird sich zeigen. Wie gut kannten Sie Iris Brunner?«

»Diese Frage habe ich heute Nachmittag schon ausführlich Ihrem Kollegen Kunz beantwortet.«

»Es ist mir bewusst, dass meine Fragen für Sie unangenehm sind. Doch Sie scheinen, mal abgesehen vom Ehemann, die Tote am besten gekannt zu haben. Mit Ihren Antworten helfen Sie mir, dieses Verbrechen aufzuklären.«

»Kann das nicht bis morgen warten?«

»Nein.«

»Also gut. Wir haben uns regelmäßig getroffen. Iris hat mir vieles anvertraut, aber längst nicht alles.« Sie fährt sich mit den Händen durchs Haar. »Ich glaube, dass es unmöglich ist, einen Menschen gut zu kennen.«

»Was könnte Frau Brunner Ihrer Meinung nach dort oben gesucht haben?«

»Sie hat nichts gesucht. Die Natur war ihr Zuhause.«

»War sie oft allein unterwegs?«

»Ja, oft.«

»Gab es Menschen, die sie nicht mochten?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Sie versucht, ihre aufkommende Gereiztheit zu unterdrücken.

»War sie eine gesellige Person?«

»Diese Frage kann ich guten Gewissens mit einem Nein beantworten. Die Naturwesen waren ihr lieber als die Menschen. Ihre Wahrnehmung schwang in Dimensionen, zu denen wenige Menschen Zugang haben.«

»Hat sie sich mit ihrem Mann gut verstanden?«

Sie überlegt. »In welcher Beziehung?«

»In jeder Beziehung.«

»So genau weiß ich das nicht. Ich habe Kuno kaum gekannt. Ich wage jedoch zu bezweifeln, dass sich die beiden viel zu sagen hatten. In meiner Anwesenheit hat Iris nie erwähnt, dass sie ihren Mann liebt. Aber vielleicht hat sich die Beziehung über die Jahre ganz einfach abgenutzt.«

»Glauben Sie, dass Brunner seine Frau geliebt hat?«

»Meiner Meinung nach hat er sie geliebt, wie man ein teures Auto liebt. Iris hat sich seinen Besitzansprüchen nicht widersetzt. Teils vermutlich aus Bequemlichkeit, teils, weil sie Konflikte verabscheute.«

»Verstehe.«

»Vielleicht könnte man es so ausdrücken: Iris war zwar meine Freundin, aber ihr Wesen blieb auch für mich rätselhaft. Ich stelle immer wieder fest, dass solche Frauen auf Männer anziehend wirken.«

»Inwiefern?«

»Eine Frau, die nicht ganz zu haben ist, entfacht den männlichen Eroberungstrieb. Oder etwa nicht?«

Er lässt die Frage offen, was sie ärgert.

»Könnte es sein, dass ihre Verschlossenheit in ihrer Ehe zu Konflikten geführt hat?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht genügte es Kuno, eine hübsche Frau zu haben, die für ihn den Haushalt besorgte, und die er nach Lust und Laune begatten konnte.«

»Sie scheinen kein besonders gutes Bild von Brunner zu haben?«

»Stimmt. Ich mag ihn nicht.«

»Warum?«

»Dürfen Polizisten so neugierig sein?«

»Ja.«

»Kurz nachdem ich Iris kennengelernt hatte, habe ich sie und ihren Mann zum Essen eingeladen. Er hat mich vom ersten Augenblick an abgelehnt. Ich mag Menschen nicht, die mir keine Chance geben.«

»Glauben Sie, dass er auf Sie eifersüchtig war?«

»Ja. Was für Iris sicher nicht immer einfach war.«

»Gab es einen triftigen Grund für seine Eifersucht?«

»Wir waren kein Liebespaar, wenn Sie das meinen. Wir haben uns zwar regelmäßig getroffen, aber nicht so, dass ihre Ehe darunter gelitten hätte. Kuno verbrachte jede freie Minute im Fitnessclub oder bei seinen Fußballkumpeln. Trotzdem erwartete er von Iris, dass sie zu Hause war, wenn er heimkehrte.«

»Wünscht sich das nicht jeder Mann?«

»Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Iris wollte immer vor Mitternacht zu Hause zu sein, was manchmal ganz schön stressig war. Vor allem dann, wenn wir in Zürich zusammen ein Konzert besuchten.«

»Hat sich Iris Brunner manchmal über ihren Mann beschwert?«

»Es entsprach nicht ihrer Art, sich zu beschweren.«

»Keine Wutausbrüche oder physische Gewalt, die sie Ihnen vielleicht anvertraut hat?«

»Nichts dergleichen. Ich bin aber nicht sicher, ob sie es mir gesagt hätte, wäre es so gewesen. Glauben Sie, dass ihr Mann sie umgebracht hat?«

»Ich ziehe keine voreiligen Schlüsse. Die meisten Gewaltverbrechen werden jedoch im persönlichen Umfeld begangen. Allzu oft sind Täter und Opfer emotional miteinander verstrickt.«

Sie wundert sich darüber, dass Möller, im Gegensatz zu Kunz, keine Notizen macht.

»Was genau wissen Sie über diesen Mann, der Iris Brunner belästigt hat?«

»Leider nicht viel. Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen. Da habe ich ihm mit der Polizei gedroht, falls er Iris nicht in Ruhe lassen würde.«

»Und, wie hat er reagiert?«

»Er versprach, sie nicht mehr zu behelligen.«

»Und, wie ging es weiter?«

»Eine Zeit lang ließ er sie tatsächlich in Ruhe. Dann fing das ganze Theater wieder von vorn an. Der Typ war total fixiert auf sie. Haben Sie ihn schon vernommen?«

»Nein. Hat Iris Brunner seine Gefühle erwidert?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Woher kennen sich die beiden?«

»Aus einem Take Away in Rüti. Iris hatte eine Schwäche für thailändisches Essen. Er hat sie dort angesprochen, und sie haben sich wohl eine Weile unterhalten. Beim ersten Treffen schien er ganz normal. Das zweite Mal sind sie sich zufälligerweise unten im Dorf begegnet.«

»Und wie ging es weiter?«

»Iris wollte den Kontakt mit ihm sofort abbrechen. Das hat ihm wahrscheinlich erst recht den Kick gegeben. Er folgte ihr auf der Straße oder lauerte ihr zu Hause auf.«

»Ist er ihr auch gefolgt, wenn sie wandern ging?«

»Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass er ihr am vergangenen Montag gefolgt ist. Er hat Iris in der Nähe der Wolfsgrueb aufgelauert und versucht, sie anzufassen. Ich glaube, da hat Iris zum ersten Mal Angst bekommen. Er ließ erst von ihr ab, als sie ihm versprach, ihn wiederzusehen. Danach wollte sie die Polizei informieren. Offensichtlich ist es nicht mehr dazu gekommen.«

Möller schubst den Kater sanft von seinem Schoß und steht auf. »Ich muss jetzt zurück nach Zürich. Es war ein langer Tag heute. Können wir uns morgen noch einmal unterhalten?«

»Wenn es unbedingt sein muss.«

»Passt Ihnen acht Uhr?«

»Ja. Aber ich möchte, dass wir uns im Mondmilchgubel treffen. Ich muss wissen, wo genau meine Freundin gestorben ist.«

»Meinetwegen. Also dann, gute Nacht. Soll ich Sie abholen?«

»Nein, das ist nicht nötig.«

»Wie Sie wollen.«

Sie folgt ihm. »Eine Frage noch.«

Er bleibt stehen.

»Hat man den Eierkari freigelassen?«

»Nein, er sitzt in Polizeihaft.«

»Bringen Sie ihn zurück zu seinem Vater. Ich verzichte nicht auf meine Frühstückseier. Er hat meine Freundin nicht umgebracht.«

Er lässt sich nicht darauf ein. Vor der Haustüre verabschiedet er sich. »Schade für den guten Wein.« Er zeigt auf die Flasche in ihrer Hand.

Sie schaut ihm nach, wie er in seinen weißen Renault steigt. Ein Mann, der sich nicht in die Karten schauen lässt, geht es ihr durch den Kopf. Sicher einer, der gründlich arbeitet und geduldig den richtigen Augenblick abwartet, bevor er zuschlägt.

 

Am nächsten Morgen wacht Viktoria mit stechenden Kopfschmerzen und verquollenen Augen auf. Hässliche Falten machen sich auf ihrem Gesicht bemerkbar. Zu viel Rotwein auf nüchternen Magen, zu viele Tränen. Der alte Schmerz über Luciens Tod ist erneut aufgebrochen. Als er noch lebte, glaubte sie an ihre Unverwundbarkeit. Wie sehr hat sie sich getäuscht. Es ist möglich, mit dem Verlust zu leben, aber unmöglich, sich an ihn zu gewöhnen. Und jetzt Iris. Die Trauer erfasst sie wie ein Strudel und zieht sie in die Tiefe. Weder von Lucien noch von Iris hat sie sich verabschieden können. Beide haben sie letztendlich im Stich gelassen. Sie fürchtet sich davor, einmal mehr ins Bodenlose zu fallen. Es ist nicht der Aufprall, der ihr am meisten Angst macht, sondern das Fehlen eines handfesten Trostes.

Dusche, Aspirin, Espresso. Nichts hilft. Sie ist spät dran. Wenn sie die Verabredung mit Möller einhalten will, muss sie sich beeilen. In der Wolfsgrueb stellt sie ihren Toyota auf den Parkplatz. Der Himmel ist klar. Die Sicht beeindruckend. Doch heute ist ihr die Idylle dieses Ausflugsorts zuwider. Sie wählt den oberen Weg Richtung Mondmilchgubel. Stellenweise ist er matschig, sodass sie um ihre festen Schuhe froh ist. In dieser Gegend gibt es unzählige Wasserfälle, und so bleibt der Boden auch nach langen Trockenperioden feucht. Die Vögel tschilpen frech, als gingen sie die menschlichen Tragödien nichts an. Beim liegenden Ahorn biegt sie rechts ab, folgt dem schmalen Pfad zum Mondmilchgubel. Sie denkt an Iris, die gestern denselben Weg gegangen ist. Jetzt bloß nicht wieder losheulen. Sie will diesem Ermittler nicht mit verweinten Augen gegenübertreten.

Iris verdankt sie es, dass sie heute mehrere Stunden am Stück wandern kann, ohne zu ermüden. Anfänglich hat sich ihr Körper gegen jegliche Art von körperlicher Ertüchtigung gewehrt. Es begann mit Kreuzschmerzen, gefolgt von Kniebeschwerden. Später kamen die Schmerzen im Fußgelenk hinzu. Inzwischen besitzt sie einen Hometrainer. Eine Viertelstunde strampeln gehört nun zu ihrem Morgenritual. Während sie früher nur mit Stöckelschuhen unterwegs war, trägt sie jetzt vorwiegend bequeme Schuhe.