Kapitel 12

Beim Morgengrauen wacht Viktoria schweißgebadet auf. Vorsichtig schiebt sie Rauls warme Hand von ihrem Bauch weg und quält sich aus dem Bett. Kaum war Manuel kurz nach Mitternacht gegangen, kam Raul und verschlang das Essen, das Manuel nicht angerührt hatte. Einen Augenblick lang betrachtet sie den jungen Mann, der zusammengerollt und entspannt atmet. In seinem Leben gibt es keine Tragödien. Manchmal verachtet sie ihn dafür.

Wie gern wäre sie jetzt allein. Jäh wird ihr bewusst, dass sich durch Iris’ Tod auch ihr Verhältnis zu Raul verändert hat. Die Trauer vereinnahmt sie so sehr, dass für ihn nichts übrig bleibt. Trotzdem haben sie sich in der Nacht kurz, aber heftig geliebt. Sie hat sich beweisen müssen, dass sie noch lebt, dass sie noch leben will. Sie schleicht sich aus dem Zimmer nach unten in die Küche. Wie jeden Morgen streicht ihr Sphinx mit erhobenem Schwanz um die Beine. Wie jeden Morgen will er sein Frühstück, und wie jeden Morgen bekommt sie Brechreiz vom Geruch des Katzenfutters.

Raul war sofort einverstanden, als sie ihn aus einem Impuls heraus gebeten hatte, sie zum Mondmilchgubel zu begleiten. Er brennt darauf, den Tatort zu sehen. Allein der Name macht ihn neugierig. Er schreibt eine regelmäßig erscheinende Kolumne in einer Wochenzeitung. Trotz des Renommees, das er sich inzwischen erworben hat, verdient er sein Geld hauptsächlich als freier Journalist. Wie alle Freischaffenden ist er immer auf der Suche nach interessanten Themen.

Sie öffnet die Haustüre, um die kühle Morgenluft hereinzulassen. Mit einem Cappuccino setzt sie sich in den verbeulten Ledersessel, während Sphinx aufs Sofa springt und sich unbekümmert zu lecken beginnt. Wieder bestürmen sie Gedanken. Was hat Iris ihr wohl sonst noch alles verheimlicht?

Sie steckte mitten in ihrer Trauer um Lucien, als sie Iris kurz nach ihrem Umzug nach Wald bei einer Lesung zum ersten Mal begegnete. Iris war scheu und zurückhaltend gewesen, so ganz anders als ihre Freundinnen in Zürich. Sie hatte sich spontan zu ihr hingezogen gefühlt. Sie versucht, sich an den Inhalt des Buches zu erinnern, aus dem der Autor vorgelesen hatte. Irgendetwas mit halluzinogenen Pilzen. Danach trafen sie sich regelmäßig. Dass Iris nicht in ihrem alten Leben herumstocherte, rechnete sie ihr hoch an. Häufig unternahmen sie ausgedehnte Waldspaziergänge, und so lernte sie die Gegend kennen. Iris kannte die Namen sämtlicher Pflanzen und Bäume, während sie damals eine Buche nicht von einer Eiche unterscheiden konnte, geschweige denn wusste, wie eine Wegwarte oder eine Kornblume aussieht. Ein Lächeln huscht über ihr müdes Gesicht. Ja, am zugänglichsten war Iris immer beim Wandern gewesen.

Das Knarren des Fußbodens lässt sie zusammenfahren. Sie flucht leise, müht sich auf und geht nach draußen. Durchsichtig und weit glänzt der Himmel. Ein heißer Tag kündigt sich an. Die Amsel auf dem Apfelbaum trillert wie jeden Morgen ihr Lied, doch heute stimmt ihr Ruf sie melancholisch. Als Raul sie von hinten umarmt und ihr an die Brüste greift, stößt sie ihn weg.

»Zieh dich an«, faucht sie ihn an.

»Nanu, bis jetzt hat dich meine Nacktheit noch nie gestört«, schmollt er.

Zum Glück verschwindet er im Haus. Als Morgenmuffel widerstrebt es ihr, zu solch früher Stunde Erklärungen abgeben zu müssen. Gewöhnlich braucht sie mehrere Tassen Kaffee, bevor sie ansprechbar ist. Vor allem, wenn sie am Abend zuvor zu viel Wein getrunken hat. Heute jedoch wird der Kaffee allein nicht ausreichen, um den Tag zu überstehen.

Raul macht sich pfeifend in der Küche zu schaffen. Sie drängt ihn, sich endlich etwas überzuziehen. Er zuckt lässig die Schultern und verschwindet nach oben. Wenigstens hört er auf zu pfeifen. Während er wenig später eine Brotschnitte nach der andern in sich hineinschiebt, kaut sie lustlos an einem Stück Toast herum.

 

»Diese wilde Gegend hier kommt mir irgendwie unheimlich vor«, bemerkt Raul auf dem Weg zum Mondmilchgubel. »Hier möchte ich von keinem Gewitter überrascht werden.«

Er geht so schnell, dass sie ihm kaum folgen kann. Soll er doch, denkt sie, und verlangsamt ihren Schritt.

»Hier wimmelt es ja nur so von Gießen.« Er zeigt nach oben. »Schau, da sind sogar mehrere Wasserfälle übereinander. Eigentlich erstaunlich, dass es bei uns kein Waterfall Trekking gibt, findest du nicht? Da könnte sich mancher Bergbauer etwas dazuverdienen.«

»Möglich«, antwortet sie missmutig. »Zumindest ließen sich viele Dichter und Denker von Wasserfällen inspirieren.«

Beim liegenden Ahorn verlassen sie den Wanderweg. Schweren Herzens folgt sie ihm in die Höhle. Niemals mehr wird sie diesen Ort betreten können, ohne dabei an den Tod zu denken.

Raul macht ein paar Aufnahmen. »Richtig wohnlich hier.« Er deutet auf das aufgeschichtete Stroh. »Sollen wir heute da übernachten? Zu zweit nehmen wir es locker mit den hiesigen Geistern auf.«

»Meine Freundin wurde hier zu Tode gewürgt. Wie kannst du es wagen!«

Er hebt abwehrend seine Hände. »Sorry. Was ist mit der Sage, die man sich von diesem Ort erzählt?«

»Die kannst du im Sagenbuch nachlesen.« Sie öffnet ihren Rucksack. »Hier, nimm.«

»Du hast versprochen, sie mir vorzulesen«, murrt Raul. »Erinnerst du dich?«

»Das war gestern. Heute gilt das Versprechen nicht mehr.«

»Okay, ich hab’s kapiert.«

Plötzlich tut er ihr leid. »Also gut.«

 

Zu Vater Oberholzer in der Sonnwies im Oberholz kam einmal bei eintretender Nacht ein Venedigermannli und sagte, es habe in seinem Zauberbuch gelesen, dass es hinten an der Töss einen Felsen gebe, der mit einer eisernen Tür verschlossen sei. Hinter dieser Türe liege ein Schatz vergraben. Oberholzer schaute sich das Männchen eine Weile an und antwortete ihm, er kenne den Felsen wohl, das sei der Mondmilchgubel. Der Schatzgräber bat daraufhin den Sonnenwiesler, er möge ihm den Weg dorthin zeigen, es solle sein Schaden nicht sein. Nachts um zwölf solle er dort sein. Oberholzer bedachte sich nicht lange, denn er litt an Schätzen keinen Überfluss.

Auf den Schlag der Mitternachtsstunde standen die beiden vor der eisernen Türe.

 

»Siehst du eine eiserne Türe?«, wird sie von Raul unterbrochen.

Sie ignoriert seine Frage und liest lustlos weiter.

 

Der Venediger befahl dem Begleiter, von jetzt an den Mund zu halten, was auch immer geschehen möge. Dann klopfte er dreimal an die Pforte, die leise ächzend aufging. Eine wunderschöne, weiß gekleidete Frau stand im Eingang. Sie winkte den beiden, ihr zu folgen. Bei einer schwarzen Eisentruhe hielt sie an. Auf dem Deckel hockte ein scheußlicher schwarzer Pudel.

 

»Der geifert.«

Sie legt das Buch weg, und taktiert ihn mit einem finsteren Blick.

»Warum liest du nicht weiter?«

»Weil du mich dauernd unterbrichst.«

»Okay, ich werde von nun an den Mund halten. Ehrenwort.«

 

Den jagte die Weiße Frau weg, und der Deckel sprang von selbst auf. Und was sahen die beiden? Eine ganze Truhe voller Goldstücke!

In großer Eile füllte der Venediger seinen Sack; kaum hatte er ihn vollgestopft, schnappte der Deckel wieder zu und der Hund setzte sich wieder darauf. Während dieser Zeit sah der Bauer immer nur die schöne Frau an, ihr liebliches Angesicht rührte ihn so, dass er kein Auge abwenden konnte. Als der Venediger seine Sachen beisammen hatte, führte die Weiße Frau ihren Besuch zur Türe; plötzlich standen die beiden wieder im Freien und die Türe schnappte zu: Der Venediger hatte einen Sack voll Gold und der Sonnwiesler konnte am leeren Daumen saugen.

 

»Aber ziehe daraus bloß keine voreiligen Schlüsse. Es gibt hier in der Gegend nicht mehr Dummköpfe als anderswo.«

»Tja, schöne Frauen haben es nun einmal in sich.«

»Komm, lass uns gehen.« Sie zeigt zum Fuß des Wasserfalls. Es graut ihr vor dem Hang, aber sie will sich keine Blöße geben. Während Raul gewandt nach unten steigt, verlieren ihre Füße immer wieder den Halt. Sie verwünscht diesen Ort, schwört sich, nie mehr hierher zurückzukehren.

»Du wärst wohl besser oben geblieben.« Er wischt ihr einen Lehmspritzer aus dem Gesicht.

»Machst du dich über mich lustig?«

»Richtig süß siehst du aus, wenn du so verschwitzt bist.«

Sie verdreht die Augen. »Bitte, Raul, lass uns an die Arbeit gehen. Ich bin nicht zu meinem Vergnügen hier.«

»Dann nichts wie los«, erwidert er gut gelaunt.

Sie beschreibt ihm die Kette, die Iris getragen hat, als sie hier unten zu Tode kam. »Da die Polizei diesen Ort bereits sorgfältig nach der Kette abgesucht hat, können wir davon ausgehen, dass sie an einer unzugänglichen Stelle liegt, falls sie der Täter fortgeworfen hat.«

Er nickt.

»Mal angenommen, du wärst der Mörder, was würdest du mit der Kette tun, nachdem du sie der Frau vom Hals gerissen hast?«

»Ich würde sie wahrscheinlich wegschmeißen.«

Sie zieht mehrere Ketten aus ihrem Rucksack. »Stell dich hierher.« Sie gibt ihm eine von den Ketten. »Jetzt schmeiß sie weg, aber mit viel Schwung.«

Er zögert.

»Mach schon, sie ist wertlos.«

Die Kette fliegt durch die Luft, dem gleißenden Sonnenlicht entgegen. Sie wiederholen das Spiel in verschiedenen Positionen.

»Na also, das Ding könnte problemlos da unten liegen.« Sie deutet auf den Abgrund. »Aber Achtung, du hast ja gesehen, wie steil und rutschig das Gelände hier ist.«

»He, ich bin ein erfahrener Kletterer. Schon vergessen?« Er zeigt auf seinen Rucksack.

Sie nickt und macht sich auf den Rückweg. Als sie nach mehreren Pausen endlich oben in der Höhle ankommt, ist sie erleichtert. Sie setzt sich auf die Holzbank mit Blick zur Quelle. Zum Glück hat sie ein paar Sandwiches mitgenommen. Einmal hat Iris ihr von der Quellnymphe erzählt. Von ihrer Aufgabe, das Wasser, das tief im Erdbauch entspringt und heranreift, zu empfangen und es willkommen zu heißen, wie eine Hebamme, die dem Kind die Geburt erleichtert. Iris hat ihr erklärt, dass Quellen heilige Orte sind, an denen nicht nur Erholung möglich ist, sondern auch Heilung. Sie versucht, sich zu entspannen, doch sie sieht nur den grauen Lehmboden, die rußverschmutzten Felswände und den zerkratzten Tisch.

Einmal ist sie mit Iris hierhergekommen, und sie haben zusammen ein Ritual gefeiert. Jede hat drei farbige Bänder in das Quellbecken getaucht und sie am Ast eines Baumes befestigt. Während des Aufhängens hat sie an drei Wünsche denken müssen. Tatsächlich ist ihr lästiges Ohrenpfeifen kurz danach verschwunden, was sie jedoch mehr dem Zufall als der magischen Wirkung des Rituals zuschrieb. Warum musste ihre Freundin ausgerechnet an diesem Ort sterben? Wenn es diese Quellnymphe wirklich gibt, warum hat sie Iris dann nicht beschützt? Auch die Weiße Frau hat nichts auszurichten vermocht, obwohl Iris das Zauberwort wusste.

Sie schraubt sich schwerfällig hoch, reibt sich die schmerzenden Glieder. Ob Möller inzwischen wohl herausgefunden hat, wer der Mörder ist? Wie sie sich über das Holzgeländer beugt, winkt ihr Raul zu.

»Leider nichts!«

Sie sieht, wie er sich die Kleider vom Leib reißt und sich unter die Gieße stellt. Seine Gesten lassen auf eine Unbekümmertheit schließen, die sie schmerzt.

»Vielleicht sollten wir die Aktion abbrechen«, schlägt sie vor, als er neben ihr auftaucht.

»Nein, lass mich weitersuchen. Ich war vorher in der Höhle da unten. Brr, da könnte man problemlos eine Leiche verstecken.«

Er greift nach einem Sandwich. Kaum hat er es verdrückt, ist er schon wieder unten. Er strotzt vor Energie, während sie sich ausgepumpt fühlt. Zeit vergeht. Das Warten verdrießt sie. Sie kann Raul nirgendwo entdecken, und er reagiert auch nicht auf ihr Rufen. Hoffentlich ist er nicht abgestürzt? Sie hätte ihn nicht in diese Sache hineinziehen dürfen. Sicher hat der Täter die Kette mitgenommen. Nur ein Schwachsinniger lässt ein Beweisstück liegen. Gerade als sie mit dem Gedanken spielt, noch einmal nach unten zu klettern, taucht Raul auf und bringt die Ketten zurück. Alle, außer die eine.