Kapitel 20
Der Tag beginnt kühl, mit viel Sonnenschein. Als sich die Trauernden in der Abdankungshalle versammeln, bläst der Westwind die letzten Wolken weg.
Viktoria schwört sich Haltung zu bewahren. Doch weder sie noch Lisa, die mit ihrem hellen Leinenkleid aus der Menge dunkel gekleideter Menschen heraussticht, sind darauf vorbereitet, Iris aufgebahrt vorzufinden. Viktoria bleibt vor dem offenen Sarg stehen. Wie aus Wachs gegossen, geht es ihr durch den Kopf. Sie erträgt es nicht, Iris in ihrer Verletzlichkeit aufgebahrt zu sehen. Sie wendet sich ab und setzt sich neben Lisa zu den anderen Trauergästen. Sie beobachtet, wie Kuno vor dem Sarg verharrt. Eine große, elegante Erscheinung, sein Gesicht tief bekümmert. Sie sieht, wie er eine Träne abwischt. Schließlich verneigt er sich vor dem Sarg und kehrt zu seiner Familie zurück, die ihn wie eine Schar Krähen umgibt.
Der Priester, eskortiert von zwei Weihrauchfässer schwenkenden Ministranten, bleibt vor dem Sarg stehen. Nach der kurzen Andacht wird die Trauergemeinde gebeten, sich in die römisch-katholische Kirche zu begeben. Früher hätten vier Männer aus der Familie den Sarg feierlich zu Grabe getragen. Dort wäre er vor den Augen aller Anwesenden langsam in die Grube gesenkt worden. Der Pfarrer hätte mit einer kleinen Schaufel Erde auf den Sarg geworfen und die Worte ›Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden‹ gesprochen. Vorbei das dramatische Auffallen der Erde auf dem Sarg, vorbei das Aufschluchzen der Trauernden. Heute wird der Sarg von den Friedhofgärtnern in die Gruft gelassen, während sich die Trauergemeinde in der Kirche versammelt.
Nach und nach füllen sich die vorderen Sitzreihen in der Kirche mit Kunos Angehörigen, Freunden und Arbeitskollegen. Immer mehr Leute strömen herein. Die beiden Frauen wählen ebenfalls einen Platz in den vorderen Reihen. Viktoria greift nach einem der kleinen Hefte, die auf den Bänken bereitliegen. Erfreut stellt sie fest, dass auf der Titelseite ein Auszug aus Kaschnitz’ Requiem prangt.
Welchen Weges ging er, Fährfrau? Übers Wasser trockenen Fußes. Welchen Weg ging er, Hirte? Berghinüber leichten Atems. Welchen Weges ging er, Bergmann? In der Erde lag er still. Was stand auf seinem Gesicht geschrieben? Frieden, sagten alle, Frieden.
Die Glocken verstummen, die Trauergäste setzen sich. Ein Chor stimmt Selig sind die Toten aus Brahms Requiem an. Danach liest der Priester die Messe. So wie Kuno aus seinem Leben mit Iris erzählt, ist Viktoria beeindruckt. Er erwähnt, was sie verbunden, was er an ihr geschätzt hat. Nicht salbungsvoll, eher wehmütig. Er spricht von ihrer Liebe, die sie ihm in Form von Fürsorglichkeit zukommen ließ. Auch dass sie manchmal ihre Differenzen hatten, führt er an. Er erzählt von ihren Kochkünsten und ihrer Liebe zur Literatur und der klassischen Musik. Nach seinem Auftritt zweifelt niemand mehr daran, dass er seine Frau geliebt hat.
»Viktoria Jung, die Freundin meiner verstorbenen Frau, möchte vielleicht auch noch ein paar Worte sagen.« Er kehrt mit gesenktem Kopf zu seinem Platz zurück.
Damit hat Viktoria nicht gerechnet. Sie zögert. Als die Menge unruhig wird, steht sie auf und schreitet nach vorn.
Sie atmet tief durch. »Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was Iris und mich verbunden hat.« Sie lässt ihren Blick über die Trauergäste schweifen. »Jetzt, wo Iris von uns gegangen ist, spüre ich, wie leer es in meinem Leben geworden ist. Sie fehlt mir, auch ihr köstlicher Schokoladenkuchen.« Ein Lächeln wogt über die Menge. »Iris’ Liebe zur Natur war so umfassend, dass ich begann, die Natur durch ihre Augen zu sehen. Liebe Trauergäste, haben Sie sich schon einmal den Morgentau durch einen Feldstecher angeschaut? Sie sollten es unbedingt tun. Iris’ Wunsch, die Wunder des Lebens zu ergründen, machte sie zu einer anregenden Gesprächspartnerin. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich mich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte und wie selbstverständlich es für mich war, dass sie meinen Alltag bereicherte. Ich tue mich unendlich schwer mit der Tatsache, dass jetzt nichts mehr so ist, wie es einst war. Ihr gewaltsamer Tod hat wie ein Blitz in mein Leben eingeschlagen.« Sie macht eine kurze Pause. »Ich verdanke Iris viel, und ich wünschte, dass ich es ihr noch hätte sagen können.« Noch einmal hält sie inne, dann endet sie mit den Worten: »Möge Iris ruhen in Frieden.«
Wie sie zu ihrem Platz zurückkehrt, schiebt sich Möller in ihr Blickfeld. Ihr Atem stockt. Sie sehnt sich nach ihm. Sie sehnt sich nach Trost. Doch der Polizist blickt durch sie hindurch, als sei sie nicht vorhanden. Sie schluckt leer und taucht weg. Erst als der Priester das Schlusswort spricht und der Chor das letzte Lied anstimmt, kommt sie wieder zu sich.
Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss. Siehe, meine Tage sind eine Hand breit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir …
In den folgenden Tagen wird sie vergebens diesem flüchtigen Augenblick der Versöhnung nachspüren. Die Glocken läuten. Die Trauergäste verlassen die Kirche. Das Kondolieren beginnt. Sie schaut sich um. Möller ist nirgendwo zu sehen. Neben Kuno entdeckt sie eine zierliche Frau in einem dunkelblauen Kostüm. Ihr langes, pechschwarzes Haar schimmert im Sonnenlicht. Sie sieht, wie sie ihre Hand auf Kunos Arm legt und ihm etwas ins Ohr flüstert, worauf dieser nickt und in der Menge verschwindet. Kurz darauf kommt er mit seiner Mutter im Schlepptau zurück. Die junge Asiatin mit dem makellosen Gesicht wendet sich anmutig der alten Frau zu.
»Kaum ist Iris tot, lässt Kuno sich schon von einer anderen Frau bezirzen«, wendet sich Viktoria an Lisa.
»Das Leben geht weiter, meine Liebe.«
»Ich muss hier weg. Lass uns zum Friedhof gehen. Ich möchte Iris’ Grab sehen.« Das entspannte Lächeln auf Lisas Lippen missfällt ihr. »Bist du denn überhaupt nicht traurig?«
»Doch, aber ich vertraue darauf, dass nichts ohne Grund geschieht, dass Iris’ Tod nicht einfach nur ein schreckliche Tragödie ist. Das stimmt mich versöhnlich.«
Sie wendet sich ab. Was sie von Lisa trennt, die so sehr in sich zu ruhen scheint, ist der Glaube. Der Glaube daran, dass es keine Zufälle gibt, dass alle Ereignisse dem Prinzip der Kausalität folgen. Nein, denkt sie wütend, niemand hat das Recht, ein anderes Leben auszulöschen. Sie will, dass der Täter gefasst und bestraft wird. Jetzt mehr als je zuvor.
»Ruf mich an, wenn du das Bedürfnis hast, über Iris zu sprechen.«
»Ich muss zuerst mit mir ins Reine kommen.«
Lisa nickt verständnisvoll. »Kuno hat wirklich keinen Aufwand gescheut. Der Chor war einfach wunderbar.«
»Das Ganze kam mir vor wie eine Inszenierung«, erwidert sie bitter. »Komm, lass uns gehen, bevor sich die Menge auflöst.«
Lisa hakt sich bei ihr ein. »Jetzt freue ich mich auf ein Glas Wein bei dir. Das wird uns beiden guttun. Ich bin gespannt auf dein Haus. Leider habe ich nicht viel Zeit, weil ich noch ein Seminar vorbereiten muss.«
Beim Friedhofeingang bleibt Viktoria abrupt stehen. »Siehst du ihn?«
»Wen?«, fragt Lisa erschrocken.
»Der mit dem beigen Kaftan.«
»Ach, ist das nicht Bruno?«
»Dieser Typ hat hier nichts zu suchen!« Ihre Wut kehrt in aller Heftigkeit zurück. Sie sieht, wie Edelmann mit einem Strauß Rosen auf Iris’ Grab zuschreitet.
Viktoria verschläft den Rest des Nachmittags. Gegen Abend wacht sie mit heftigen Kopfschmerzen auf. Was für ein verkorkster Tag, denkt sie verzweifelt. Ruhelos tigert sie in der Wohnung umher. Sie fühlt sich von einem gefährlichen, düsteren Taumel erfasst. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie heute noch nichts gegessen hat. Sie rafft sich auf und macht sich in der Küche zu schaffen. Während des Zwiebelhackens schweifen ihre Gedanken zu Möller. Wird sie ihn wohl je wiedersehen, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind? Sphinx miaut. Sie schubst ihn weg. Er bestraft sie mit einem gekränkten Blick. Sowie sie die Kalbsschnitzel aus dem Kühlschrank nimmt, ist er wieder zur Stelle. Den Schwanz artig drapiert, sitzt er da und wartet. Sie macht sich auf in den Garten, um dort ein paar Salbeiblätter zu pflücken. Da erblickt sie Möller, der im Begriff ist, aus seinem Auto zu steigen.
»Haben Sie mein Essen gerochen?«
Möller bleibt abrupt stehen. »Müssen Sie einen immer so erschrecken?«
»Kommen Sie. In 15 Minuten können wir essen.« Sein Mund öffnet sich, doch sie lässt ihn nicht zu Wort kommen. »Ich bin froh, wenn ich nicht allein essen muss.«
Während sie den Tisch deckt, lässt sich Möller auf den Sessel sinken. Sphinx leistet ihm dabei Gesellschaft.
»Nicht einmal bei mir ist er so anhänglich.«
»Alle Katzen mögen mich«, erwidert Möller augenzwinkernd.
»Er ist keine Katze, sondern ein Kater.«
»Nun, dann kann es nur an meiner positiven Ausstrahlung liegen.«
»Bilden Sie sich ja nichts darauf ein. Wahrscheinlich verwechselt er Sie mit meinem verstorbenen Mann.« Ohne seine Antwort abzuwarten, kehrt sie in die Küche zurück, um die Schnitzel vorzubereiten. Als sie kurze Zeit später das Essen servieren will, ist Möller eingenickt. Sie betrachtet sein schlafendes, von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht. Wie schön, wenn er immer hier wäre, denkt sie sehnsüchtig. Er zuckt zusammen, als sie sachte seinen Arm berührt.
»Muss wohl eingeschlafen sein«, murmelt er und reibt sich verlegen die Augen.
»Musik?«
»Lieber nicht.«
Sie serviert ihm das Essen, was er sichtlich genießt.
»Der junge Honegger ist übrigens aus seinem Koma aufgewacht.«
»Endlich eine gute Nachricht. Darauf müssen wir anstoßen.«
»Unterdessen sollten Sie wissen, dass ich im Dienst nicht trinke.«
»Und wie lange dauert Ihr Dienst?«
Möller fixiert sie mit einem bezwingenden Blick. Dabei legt sich seine Stirn in Falten. »Sagen wir, bis 20 Uhr?«
Ein wohliger Schauder erfasst sie.
»Sind sie immer so hartnäckig, Frau Jung?«
»Nein. Meistens lohnt sich Hartnäckigkeit nicht.«
»Ich nehme das als Kompliment.«
Sie schaut ihm geradeaus ins Gesicht und lächelt.
»Trotzdem muss ich heute Abend noch fahren. Für einen Polizisten gehört es sich nicht, angetrunken am Steuer zu sitzen.«
»Sie brauchen doch nur Ihren Ausweis zu zücken oder das Blaulicht zu montieren, und schon ist alles in bester Ordnung.«
»Sie haben vielleicht Vorstellungen. Trunkenheit am Steuer kann mich den Job kosten.«
»Es gibt oben ein hübsches Gästezimmer.«
»Das wird nicht nötig sein. Das Essen schmeckt übrigens ausgezeichnet.«
»Es ist schön, dass Sie mir Gesellschaft leisten.«
Er nickt.
Seine Zurückhaltung verunsichert sie. »Wann ist der Eierkari aufgewacht?«
»Gestern Nacht.«
»Und?«
»Er kann sich wieder erinnern.«
Sie klatscht vor Freude in die Hände. »Wie hat sein Vater auf die gute Nachricht reagiert?«
»Mit großer Erleichterung. Wenn es mit dem jungen Honegger weiterhin bergauf geht, kann er Ende der Woche nach Hause.«
»Wie schön. Wann werden Sie ihn vernehmen?«
»Sobald sein Arzt es erlaubt.«
»Erinnert er sich an den Unfall?«
»Teilweise.«
»Er besitzt ein gutes Zahlengedächtnis. Vielleicht konnte er sich die Autonummer merken?«
»Das wird sich weisen«, erwidert er knapp.
»Ich bin zuversichtlich, dass wir bald wissen werden, wer Iris getötet hat. Dann können Sie den Fall endlich abschließen.«
»Vielleicht werden Sie mein nächster Fall?« Der Schalk lässt seine Augen aufblitzen.
Lust und Furcht durchzucken Viktoria gleichzeitig. Verlegen steht sie auf und trägt das Geschirr zur Spüle. Er folgt ihr mit dem restlichen Geschirr. Sie genießt seine Nähe. »Übrigens bin ich heute auf dem Friedhof Edelmann begegnet. Ich traue diesem Kerl nicht.«
»Misstrauen Sie allen Männern?«
»Den meisten.«
»Mein Dienst ist zu Ende.«
»Na endlich. Dann lassen Sie uns auf Kari anstoßen.« Viktoria kommt auf die Abdankung zu sprechen. »Der Gesang ging mir unter die Haut. Wie ich gehört habe, geizte Kuno auch nicht beim Leichenmahl. Trotzdem kam mir das Ganze etwas übertrieben vor.«
»Glauben Sie immer noch, dass Brunner seine Frau getötet hat?«
»Inzwischen tippe ich eher auf Edelmann. Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Wenn es unbedingt sein muss.«
»Sind Sie verheiratet?«
Er trinkt bedächtig einen weiteren Schluck Wein, bevor er die Frage verneint.
»Waren Sie verheiratet?«
»Ja. Nach 15 Jahre hat mich meine Exfrau für einen anderen verlassen.«
»Haben Sie eine Freundin?«
»Nein. Keine Frau hält es lange mit mir aus.«
Sie schenkt ihm Wein nach. »Na ja, wer will schon einen Kriminalpolizisten.«
»Ich habe das seltsame Gefühl, dass Ihre Fragen zu einem Verhör ausarten. Darf ich wenigstens meine kugelsichere Weste aus dem Auto holen?«
»Die würde Ihnen wenig nützen.«
»Übrigens ein guter Wein.«
»Sage ich doch.«
»Ich befürchte, dass Sie nicht eher Ruhe geben, bis Sie alles aus mir herausgequetscht haben.«
»Ich sehe, wir verstehen uns.«
»Also gut.« Möller holt Anlauf. »55 Jahre alt, 1,85 Meter groß.«
»Und weiter?«
Er schneidet eine Grimasse. »Geschieden, kinderlos, heterosexuell, aufgewachsen in Zürich-Oerlikon, zurzeit wohnhaft im 23. Stock.«
»Ist das alles?«
»Ich finde, dass Ausfragen eine heimtückische Form von Empathie ist.«
»Inwiefern?«
»Weil man sich damit automatisch in die Hände des andern begibt.«
»Sie fragen doch auch laufend Leute aus.«
»In meinem Fall geht es um die Aufklärung eines Verbrechens, nicht um persönliche Neugier.«
»Trotzdem würde ich gern mehr über Sie erfahren.«
»Also gut. Ich mag Jazzmusik, Berge, Vulkane, die Natur ganz allgemein. Ich lese gern, am liebsten Tatsachenberichte und Fachliteratur. Taktlosigkeit und Ignoranz kann ich nicht ausstehen. Was noch? Ach ja, rechthaberische Menschen gehen mir auf die Nerven. Den kulinarischen Genüssen bin ich sehr zugetan, was Ihnen sicher nicht entgangen ist. Ich habe seit zwei Jahren keinen Sex mehr gehabt, was ich sehr bedaure. Und da gibt es eine jüngere Schwester, die sich mütterlich um mich sorgt, und die es sich in den Kopf gesetzt hat, mich zu verkuppeln. Zufrieden?«
»Kompliment, Herr Kriminalpolizist, eine solch aufschlussreiche Zusammenfassung hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Kaum zu glauben, wie schnell der Rioja bei Ihnen wirkt.«