Kapitel 23

Wie immer kommt Möller gleich zur Sache. Er wendet sich an seinen Kollegen Kunz. »Frau Jung kommt soeben aus dem Spital. Der junge Honegger wurde von einem Mann bedroht.« Er fordert Viktoria auf, zu erzählen.

Kunz macht ein besorgtes Gesicht. »Das gefällt mir ehrlich gesagt ganz und gar nicht.«

»Ich habe dafür gesorgt, dass Honegger rund um die Uhr bewacht wird. Das Pflegepersonal ist informiert.«

»Gut.«

»Obwohl Edelmann gestanden hat, werde ich das unangenehme Gefühl nicht los, dass ich etwas Wichtiges übersehe«, sagt Möller nachdenklich.

»Edelmann hat ein Geständnis abgelegt?«, ruft Viktoria überrascht.

Möller erzählt ihr kurz, was geschehen ist. »Er behauptet, sie getötet zu haben, um sie von ihrem Mann zu befreien.«

»Der Mann ist ein Psychopath«, ruft sie entsetzt.

»Vergessen Sie nicht, dass er manipuliert wird«, gibt Möller zu bedenken. »Ein Meister lockt seine Schäfchen gewöhnlich mit dem Versprechen nach Erleuchtung an. Kein Wunder, dass Menschen wie Edelmann unbedingt zu den Auserwählten gehören wollen.«

»Du traust Edelmanns Aussage nicht?«, mischt Kunz sich in das Gespräch ein.

Möller zögert. »Wir haben ihn zur Wolfsgrueb gefahren. Ich wollte, dass er uns zum Mondmilchgubel führt und uns zeigt, wie er den Mord begangen hat. Zugegeben, das meiste, was er sagte, stimmt mit meiner Theorie überein. Und trotzdem ist da eine Unstimmigkeit, die ich mir im Moment noch nicht erklären kann.« Zu Kunz gewandt: »Du hättest sehen sollen, wie der Mann sich in Szene gesetzt hat.«

»Darf ich fragen, welchen Weg Edelmann gewählt hat?«, erkundigt sich Viktoria.

»Den oberen«, antwortet Möller.

»Alles spricht dafür, dass er der Täter ist. Warum um Himmels willen sollte er zu seinen Ungunsten ein Geständnis abgelegen?«, fragt sie in ärgerlichem Ton.

Möller antwortet mit einem Achselzucken.

»Für seine Schuld spricht auch, dass dieser Trinkler ihn eindeutig identifizieren konnte«, pflichtet Kunz ihr bei.

Möller schaut auf seine Armbanduhr. »Eisenmann wird Edelmann noch einmal gründlich auf den Zahn fühlen müssen.«

Sie überlegt fieberhaft. »Und was wusste Edelmann über die Kette zu berichten?«

»Er konnte sowohl die Kette als auch die Kleider der Toten beschreiben«, entgegnet Möller. »Allerdings scheint er nicht zu wissen, was mit der Kette geschehen ist.«

Kunz übernimmt das Wort. »Hoffen wir, dass der junge Honegger baldmöglichst aussagt. Dann wissen wir endlich die Wahrheit.«

»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Selbst die, dass irgendein Verrückter der Täter ist«, erwidert Möller streng.

Sie starrt ihn fassungslos an. »Und was ist mit dem Unfall und dem Mann, der Kari im Krankenhaus besucht hat?«

»Es könnte ein ganz gewöhnlicher Unfall gewesen sein.«

»Es könnte auch sein, dass der Honegger Kari erpresst wird«, erwägt Kunz. »Vielleicht hat jemand gesehen, wie er Iris Brunner im Mondmilchgubel getötet hat.«

»Der Eierkari ist kein Mörder. Warum glaubt mir niemand?«

»Beruhigen Sie sich, Frau Jung, und überlassen Sie die Arbeit uns«, tadelt Kunz sie.

Idiot, denkt sie.

»Ich verlasse mich nicht auf Spekulationen«, erwidert Möller scharf. »Da sind noch zu viele Ungereimtheiten. Wir werden so lange ermitteln, bis die Fakten und Indizien mit meinem Gefühl übereinstimmen.«

Sie nimmt erneut Anlauf. »Wahrscheinlich hat nicht Edelmann, sondern der Eierkari die Kette im Gestell versteckt. Außer seiner Familie kennt niemand den Doppelboden dieser Vorrichtung. Zeit genug hätte er auf jeden Fall gehabt.«

»Und warum sollte er so etwas tun?«, wollte Möller wissen.

»Er tickt eben anders als andere Menschen. Er reagiert emotional, nicht vernunftmäßig. Wir dürfen nicht vergessen, dass er einen heftigen Schock erlitten hat, als er Iris’ Leiche entdeckte. Vielleicht hat Iris ihm anvertraut, dass die Kette ihr viel bedeutet?«

Möller schüttelt den Kopf. »Höchst unwahrscheinlich.«

»Finde ich auch«, doppelt Kunz nach.

»Wenn man bedenkt, wie sehr der Eierkari an Iris gehangen hat, ist eine solche Erklärung überhaupt nicht abwegig«, protestiert sie.

Möller springt auf, reibt sich das Kreuz. »Man hat auf der Kette keine Fingerabdrücke von Honegger gefunden. So, ich muss los. Es gibt eine Menge zu tun.«

»Bloß noch eine Frage. Wann genau wurde Edelmann festgenommen?«

»Kurz vor elf.«

»Das könnte hinhauen. Der Mann, der dem Eierkari gedroht hat, ist kurz vor acht im Krankenhaus aufgetaucht. Das hat mir eine Pflegerin bestätigt. Allerdings wurde der Mann von allen als groß beschrieben, Edelmann ist höchstens von mittlerer Statur.«

»Der Täter könnte einen Drogenabhängigen oder einen Obdachlosen angeheuert haben. Die machen für Geld alles«, schlägt Kunz vor.

Sie enthält sich eines Kommentars, obwohl es dazu eine Menge zu sagen gäbe. Schwerfällig steht sie auf. Dieses verdammte Knie, denkt sie wütend. Es ärgert sie, dass Möller ihre körperliche Schwäche mit einem Schmunzeln quittiert.

»Das würde auch die eigenartige Erscheinung erklären«, fährt Kunz fort.

»Ich fahre jetzt ins Spital. Vielleicht bringe ich den jungen Honegger dazu, auszusagen.«

»Bitte verängstigen Sie ihn nicht noch mehr. Sein psychischer Zustand ist sehr labil. Wir dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er sich wieder in sich zurückzieht, wenn sein Stress zu groß wird. Ich glaube nicht, dass er dann noch einmal zurückkehrt.«

»Seien Sie unbesorgt, Frau Jung, ich weiß, was ich tue«, erwidert Möller kühl.

»Das will ich hoffen«, entgegnet sie ebenso kühl und verlässt den Raum, ohne sich zu verabschieden.

 

Sie steigt in ihr Auto und fährt zu ihrem Vater nach Zürich.

»Du siehst besser aus«, begrüßt sie ihn mit einem Kuss auf die Wange.

»Ich fühle mich hervorragend. Der Husten plagt mich nur noch nachts.«

Sie freut sich über seine gute Laune. »Ein hübscher Schal.« Sie zeigt auf seinen Hals.

»Es wäre mir lieber, im Sommer keinen Schal tragen zu müssen. Außerdem finde ich das Rot zu auffällig. Ich trage ihn nur Schwester Natalia zuliebe.«

»So, so, ihr zuliebe …«

»Was ist daran so komisch? Meinst du, alte Männer sind immun gegen hübsche Frauen? Hä?«

»Die Rothaarige?«

»Ja, die Rothaarige«, erwidert er unwillig.

»Vater, die Zeiten, wo man das Pflegepersonal Schwestern nannte, sind vorbei. Diese Frauen wollen bei ihrem Namen genannt werden.«

»Ach was, sie mag es, wenn ich sie Schwester Natalia nenne. Und dass du es weißt, sie mag es auch, wenn ich ihr Komplimente mache.«

»Ehrlich gesagt, hätte ich dir das nicht mehr zugetraut.«

»Du siehst übrigens heute auch nicht schlecht aus.« Seine Augen mustern sie. »Könnte es sein, dass du dich verliebt hast?«

»Verliebt?«

»Ja, verliebt. Schau mich nicht so dämlich an.«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Dann finde es heraus. Wenn ich du wäre, würde ich keine Zeit verlieren. Du bist auch nicht mehr die Jüngste.«

Sie schaut ihn empört an.

»Ich hoffe bloß, dass er deinem Mundwerk gewachsen ist.«

»Keine Sorge. In dieser Hinsicht ist er mir ebenbürtig.«

»Vicki, es ist noch nicht zu spät, dich mit einem Mann zusammenzutun.«

»Zu spät ist es nie. Du hast dich ja auch wieder verliebt.«

»Ach was, ich bin ein alter, törichter Mann, der sich damit begnügt, an einer duftenden Rose zu riechen.«

»Auf jeden Fall tut sie dir gut. Ich habe dich schon lange nicht mehr so fröhlich erlebt.«

Er klopft mit dem Stock auf den Boden. Sein Blick ruht auf dem Teich. »Die Schwäne sind wieder da.«

»Das freut mich.«

»Um Lucien hast du genug getrauert. Eine Frau sollte nicht zu lange allein sein.«

»Und warum nicht?«

»Frauen brauchen einen Mann, sonst werden sie unausstehlich.«

»Du hast vielleicht komische Vorstellungen, Vater. Wir Frauen kommen ohne Männer gut zurecht.«

»Glaube mir Vicki, eine Frau braucht einen Mann, sonst verkümmern ihre Gaben.«

»Und was ist mit euch Männern?«

»Ach, wir Männer. Wir sind hoffnungslose Egoisten. Ohne Frau verlieren wir die Lust auf Bindung.«

»Du bist heute ja richtig gesprächig. Natalia scheint deiner Psyche gut zu bekommen.«

»Schau, jetzt kommt die Schwanenfrau. Wo sie wohl so lange geblieben ist?«

»Bist du sicher, dass es sich dabei um ein weibliches Tier handelt?«

»Natürlich bin ich sicher.«

»Gestern war übrigens Iris’ Beerdigung.«

Er bittet sie, ihm davon zu erzählen.

»So, so, eine Erdbestattung. Heutzutage eher unüblich.« Klopf, klopf, klopf. »Komm ja nicht auf den Gedanken, mich in einen Sarg zu legen. Ich möchte verbrannt werden.«

»Ich weiß, Vater.«

»Ein Chor würde mir auch gefallen.« Sein Gesicht hellt sich auf. »Allerdings würde ich das Verdi-Requiem vorziehen. Wusstest du, dass Verdi dieses Requiem geschrieben hat, um den Tod seines Freundes Tomasi di Lampedusa zu verarbeiten?«

»Nein, das wusste ich nicht. Mal sehen, was sich machen lässt. Am besten schreibst du auf, wie du es am liebsten haben möchtest.«

Er schüttelt energisch den Kopf. »Was kümmert es einen Toten noch, wie oder wo er liegt. Mach mit meinen armseligen Überresten, was du willst.«

»Du kannst es einem wirklich schwer machen, Vater.«

»Wo steht geschrieben, dass ein Vater es seiner Tochter leicht machen soll?« Er tätschelt ihr Knie. »Keine Sorge, du wirst schon das Richtige tun.«

»Möchtest du nicht, dass deine Asche neben Mamas Asche ausgestreut wird?«

»Würdest du die Buche auf dem Uetliberg wiedererkennen?«

»Selbstverständlich.« Sie sieht, wie ihn das freut.

»Weiß man inzwischen, wer der Täter ist?«

Sie fasst das Geschehene kurz zusammen.

»Eigenartig, dass dieser Polizist dir Einsicht in seine Ermittlungen gewährt. Ich hoffe bloß, dass du ihm die Arbeit nicht noch zusätzlich erschwerst.«

»Ganz im Gegenteil.«

»Ah, da kommt sie.« Sein Gesicht leuchtet auf.

Sie sieht eine rothaarige Frau mit Zapfenlocken auf sie zukommen, die auf eine robuste, natürliche Weise hübsch ist. Der energische Schritt und die aufrechte Körperhaltung lassen auf eine Person schließen, die es gewohnt ist, zuzupacken.

»Herr Jung, ich glaube, es ist Zeit für ein Mittagsschläfchen.« Ihre Stimme klingt heiser. »Wir wollen doch nicht, dass Sie sich erneut erkälten.« Sie reicht ihm die Hand.

»Wie du siehst, bin ich bei Schwester Natalia in besten Händen. Du brauchst dir wegen mir keine Sorgen zu machen.« Er strahlt die Frau an, und sie strahlt zurück.

»Auf Wiedersehen, Vicki, und grüß deinen Kommissar von mir.«