Prolog
Die zierliche Frau bückt sich, benetzt ihre Stirn mit dem Wasser, das aus dem Innern der Höhle aus einer Felsspalte hervorquillt und von einem Becken aufgefangen wird. Wie lebendig es sich anfühlt, so ganz anders als das Wasser aus der Röhre. Sie bedankt sich mit einem Lächeln. Vorsichtig legt sie eine Blüte auf den Rand des Beckens. Sie spürt die Freude der Quellnymphe. Segen und Heilung, denkt sie.
Die Höhle ist wohnlich, wenn die Sonne scheint. Sie setzt sich auf die Holzbank, lässt die Umgebung auf sich einwirken. Vor ihr ergießt sich ein Schleier aus glitzernden Wasserschnüren. Im Hintergrund eine Wand von überfließenden Grüntönen. Eindrücke, die sich überlagern, miteinander verschmelzen. Ein Klangteppich aus bekannten und unbekannten Tönen. Weit und breit keine Menschenseele. Ein Tag von geradezu beängstigender Schönheit.
Wie hat sie den Sommer herbeigesehnt. Jetzt ist er da. Kraftvoll, drängend. Bis weit in den Frühling hinein hat an den schattigen Hängen noch Schnee gelegen. Schwer und pappig klammerte er sich an die Erde.
Die Sonnenstrahlen dringen durch das dicht belaubte Geäst, lassen den Wald aufleuchten. Auf den Gräsern liegt Tau. Sie hat gesehen, dass die Tropfen zittern, bevor sie der Schwerkraft nachgeben.
Sie weiß, dass die Kraft einer Gieße dort am stärksten ist, wo das Wasser auf den Boden trifft. Sie neigt sich über das Holzgeländer. Sie denkt an Goethe, welcher das Wasser mit der Seele des Menschen verglich. Sie beugt sich noch etwas vor, genießt den Sog in die Tiefe.
Es gibt in der Gegend zahlreiche Quellen, die aus den umliegenden Bergen entspringen und als Wasserfälle sichtbar werden. Mal stürzt, mal rieselt das Wasser über brüchige Nagelfluhwände. Wehe dem, der sich an stürmischen Tagen in dieser unwirtlichen Gegend aufhält.
Es ist endlich gesagt, was gesagt werden musste. Sie blickt verträumt zum Himmel empor. In diesem Moment schiebt sich eine schwarze Wolke vor die Sonne. Ihre blasse Stirn legt sich in Falten. Das Zwitschern der Vögel schwillt an. Irgendwo klopft ein Specht. Sie sucht die Bäume nach ihm ab.
Die Lichtwurzeln eines Baumes geben ihr Halt, als sie nach unten klettert. Sie begibt sich zur Stelle, wo das herabstürzende Wasser am Boden aufspritzt, und lässt sich vom Sprühnebel einhüllen. Sie fühlt sich leicht, leicht wie noch nie. Der Baumstumpf liegt an derselben Stelle, wo sie ihn das letzte Mal zurückgelassen hat. Sie rückt ihn zurecht und setzt sich. Ein zartes Regenbogenfragment umspielt das Wasser. Sie schließt die Augen. Ihr Atem wird flacher. Sie registriert die Veränderung ihrer Gefühle. Informationen fließen ihrem Bewusstsein zu. Bilder drängen sich in den Vordergrund. Sie wartet, bis die Wahrnehmung zur Deutung bereit steht. Sie sieht die imposante Gestalt der Nymphenkönigin, welche in leuchtendem Weiß erstrahlt. Sie trägt einen weiten Mantel. Auf ihre Bitte hin öffnet sie ihn. Viele kleine Wesen werden sichtbar.
Das Gekreische eines Raubvogels lässt sie aufschrecken. Ein Mann steht dicht vor ihr, verwirft seine Arme. Er schreit. Entsetzt starrt sie zu ihm auf. Er reißt sie hoch, schüttelt sie, bis sie die Orientierung verliert. Steif vor Entsetzen sieht sie, wie er ausholt. Der Schlag hinterlässt einen brennenden Schmerz. Sie weiß, dass sie sterben wird, noch bevor sich seine Hände um ihren Hals legen. Sie giert nach Leben. Ihre Beine brechen ein. Sie hört ein Gurgeln. In ihrem Kopf dröhnt es wie anbrausende und zurückflutende Wellen. Sie sieht sich von einem mächtigen Strudel in die Tiefe gezogen. Das Leben umkreist sie, enger, immer enger, als wolle es nicht vergessen gehen. Jäh verdichten sich die Bilder zu einer gewaltigen Explosion. Der Raubvogel verstummt und mit ihm versiegt die Qual. Totenstille, weiß wie Schnee. Sanft gleitet sie ins Licht, wo der Duft von wilden Rosen sie empfängt.