Kapitel 2
Martin Kunz von der Gemeindepolizei begrüßt Viktoria Jung mit einem festen Händedruck und zeigt ihr seinen Ausweis. »Keine schöne Geschichte.« Er folgt ihr zum Wohntisch. »Frau Brunner wurde kurz nach 13 Uhr in der Brandenfelshöhle tot aufgefunden. Alles deutet auf ein Tötungsdelikt hin. Mein Beileid.«
»Im Mondmilchgubel?«
Er schaut sie erstaunt an. »Nicht viele Fremde wissen, dass dieser Ort auch Mondmilchgubel genannt wird.«
»Ist man hier nach sieben Jahren immer noch eine Fremde?«
Der Polizist ignoriert ihre Frage, beobachtet, wie sie ihre Handballen an die Schläfen presst und um Fassung ringt.
»Wo hat man Iris gefunden?«
»Am Fuß der Gieße.« Er wird sich nie daran gewöhnen, Menschen schlechte Nachrichten überbringen zu müssen. »Sie sagten, dass Sie mit Frau Brunner befreundet waren?«
»Ja. Wir waren für heute Abend verabredet.«
»Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
Ein trauriges Nicken.
»Warum könnte sich Ihre Freundin in dieser Höhle aufgehalten haben?« Als er Jungs Zögern sieht, fügt er hinzu: »Es ist wichtig.«
»Iris ist, war oft dort. Für sie war die Gieße ein spezieller Ort, wo sie Kraft tanken konnte.«
»Ganz schön einsam dort oben. War sie oft allein unterwegs?«
»Meistens. Das Alleinsein machte ihr nichts aus. Die Natur war ihr Zuhause. Wer hat sie gefunden?«
»Eine Wandergruppe.«
»Ist eine Verwechslung wirklich ausgeschlossen?«
Er reicht Jung eine Fotografie. »Man fand in ihrem Rucksack einen Ausweis. Sie wurde am Tatort von ihrem Mann identifiziert.« Er sieht, dass sie mit den Tränen kämpft. Er wartet geduldig, bis sie sich wieder gefasst hat. Sein Blick bleibt auf ihrem Dekolleté hängen. Dagegen ist kein Mann gefeit, denkt er und nimmt sich vor, seinen Blick nicht mehr schweifen zu lassen. »Wie gut haben Sie Frau Brunner gekannt?« Es fällt ihm auf, wie sie mit einer ungeduldigen Geste immer wieder dieselbe Haarsträhne hinters Ohr streicht.
»Wir haben uns regelmäßig getroffen. Heute Abend ist mein Geburtstag. Ich wollte für sie kochen.« Sie zeigt auf die offene Küche, wo überall Töpfe und Esswaren herumstehen.
Er sieht sich um. »War Herr Brunner ebenfalls eingeladen?«
»Nein.«
»Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss Ihnen die nächste Frage stellen. Waren Sie ihre Geliebte?« Ihr spöttisches Lachen verwirrt ihn. Ob sie wohl absichtlich so weit ausgeschnittene Blusen trägt?
»Nein, aber die Frage braucht Ihnen nicht peinlich zu sein.«
Er fühlt sich ertappt, ärgert sich über sein Erröten, etwas, das ihm immer wieder passiert.
»Kuno hat mich heute angerufen, um sich nach seiner Frau zu erkundigen.«
»Wann genau war das?«
»Ich glaube, kurz vor zwölf.«
»Darf ich den Anruf überprüfen?«
»Nur zu.«
Sorgfältig kontrolliert er die angenommenen Anrufe und notiert sämtliche Nummern mit der entsprechenden Uhrzeit. »Er hat Sie von seinem Festnetz angerufen.«
»Ja, ich weiß.«
»Waren Sie heute den ganzen Tag hier?«
»Ja.«
»Allein?«
»Nein.«
»Nein?«
»Zusammen mit ihm.«
Er folgt Jungs Finger, der auf eine Katze zeigt, die sich auf dem Sessel zusammengerollt hat. Er mag es ganz und gar nicht, wenn man versucht, ihn an der Nase herumzuführen.
»Und um Ihrer nächsten Frage vorzugreifen: Ich habe kein Alibi.«
»So, so.«
»Was ist mit den Ermittlungen?«
»Sie laufen auf Hochtouren. Heute Nachmittag war die ganze Equipe vor Ort. Die Spurensicherung ist inzwischen abgeschlossen, und bald werden wir mehr wissen.«
»Wer wird sich des Verbrechens annehmen?«
»Die Spezialabteilung für Gewaltverbrechen der Kantonspolizei Zürich.«
»Wie viele Kriminalpolizisten werden ermitteln?«
»Einer, falls nötig, zwei. Es hängt von der Komplexität des Falls ab.« Er sieht, wie Jung entrüstet den Kopf schüttelt.
»Nun ist meine Freundin also bereits ein Fall.« Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen. »Wie heißt der Beamte?«
»Valentin Möller.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ja. Ich habe eine Zeit lang als Protokollführer bei der Staatsanwaltschaft für Gewaltdelikte gearbeitet. Keine Sorge, er ist ein erfahrener Ermittler.«
»Iris wurde also tatsächlich erwürgt?«
»Ja. Gemäß Arzt scheint die Strangulation die Todesursache zu sein, aber wir müssen noch das Resultat der Autopsie abwarten, um ganz sicher zu sein.«
»Hatte sie noch andere Verletzungen?«
»Eine harmlose Wunde am Hinterkopf. Wahrscheinlich hat sie ihren Kopf an einem Stein gestoßen, als sie auf den Boden geprallt ist. Aber das war nicht die Todesursache.«
»Wurde sie vergewaltigt?«
»Die Sektion im Institut für Rechtsmedizin wird zeigen, woran sie gestorben ist«, erwidert er ausweichend.
»Kann ich meine Freundin sehen? Ich muss mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass sie tot ist.«
»Sie müssen warten, bis sie vom IRM freigegeben und in die hiesige Leichenhalle überführt wird.«
»Wie lange dauert die Untersuchung?«
»In der Regel ein paar Tage. Ich würde Ihnen jedoch abraten, die Leiche zu besichtigen.«
»Danke, aber ich brauche keine Ratschläge. Hat man am Tatort Kampfspuren gefunden?«
»Das wird noch abgeklärt.«
»Sie gehen von einem Beziehungsdelikt aus?«
»Diese Frage kann ich Ihnen im Moment noch nicht beantworten. Aber die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungsdelikte.«
»Kuno erwähnte am Telefon, dass der ›Dorftrampel‹ sie getötet habe. Wen meinte er damit?«
»Den Honegger Kari. Man hat ihn neben der Toten gefunden.« Es ärgert ihn, dass diese Jung nicht aufhört, zu fragen. Kein Wunder, dass die nicht verheiratet ist, denkt er, so resolut, wie die sich gibt.
»Den Eierkari?«
Er nickt.
»Hat die Polizei ihn festgenommen?«
»Ja.«
»Der arme Kerl. Er tut keiner Fliege was zuleide.«
»Das wird sich herausstellen, wenn die Spuren ausgewertet sind.« Er weiß nur zu gut, dass man sich nicht von Sympathien fehlleiten lassen darf.
»Wann genau ist Iris gestorben?«
»Gemäß Arzt zwischen zehn und zwölf Uhr, doch wir müssen die Untersuchung des Gerichtsmediziners abwarten.«
»Sie erwähnten, dass die Wandergruppe die Tote kurz nach 13 Uhr gefunden hat?«
»Ja, das ist korrekt.«
»In diesem Fall hat der Eierkari meine Freundin sicher nicht getötet. Ein Mörder bleibt wohl kaum so lange beim Opfer.«
Jungs Überlegungen ärgern ihn. Typisch Journalistin, denkt er, doch er lässt sich nichts anmerken.
»Es wäre für die Polizei wohl am einfachsten, wenn er der Täter wäre, nicht wahr?«
Er winkt ab, lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Seine Berufserfahrung hat ihn gelehrt, dass Gelassenheit mehr bringt als Ungeduld.
»Iris war mit dem jungen Honegger befreundet. Er ist bestimmt nicht der Täter. Er hat kein Motiv.«
»Wir werden sehen. Wer könnte Ihre Freundin Ihrer Meinung nach denn getötet haben?«
Jung zuckt ratlos mit den Schultern. »Soviel ich weiß, hatte sie keine Feinde.«
»Hatte sie außer Ihnen und ihrem Ehemann noch andere Menschen, die ihr nahestanden?«
»Ich glaube, ich war ihre einzige Freundin. Moment, wie konnte ich diesen Stalker vergessen! Seit Wochen wird Iris von einem aufdringlichen Kerl namens Bruno verfolgt. Seinen Nachnamen kenne ich leider nicht. Ich habe ihr wiederholt geraten, gegen ihn Anzeige zu erstatten, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Wissen Sie, wo dieser Mann arbeitet?«
»In der Höhenklinik.«
»Hatte Ihre Freundin mit ihm ein Verhältnis?«
»Wo denken Sie hin! Seine aufdringliche Art ging ihr total auf den Wecker. Doch dieser Stalker hat sie immer wieder belästigt.«
»Wie belästigt?«
»Blumen, Anrufe, Briefe. Was weiß ich.«
Er notiert den Namen Bruno, Stalker, Pfleger, Höhenklinik, Blumen, Anrufe, Briefe. »Was für Briefe?«
»Was für Briefe wohl.«
»Wusste ihr Mann davon?«
»Nein. Sie wollte nicht, dass er es erfährt. Die Briefe hat sie immer sofort vernichtet.«
»So, so.« Er reibt sich sein Ohrläppchen. Gemäß seiner Erfahrung stalkten vor allem Männer, die von ihren Frauen verlassen wurden und sich damit nicht abfinden konnten. »Hatte Frau Brunner einen Liebhaber?«
»Ihr Liebesleben geht niemanden etwas an«, erwidert Jung grob.
»Ich weiß, was Sie denken. Ich kann Sie verstehen. Aber ein Mordfall ist keine private Sache. Sie wollen doch auch, dass der Täter gefasst wird, oder etwa nicht?«
»Also gut, Sie werden es ja sowieso erfahren. Iris hat vor einiger Zeit einen Mann kennengelernt, mit dem sie sich auf Anhieb gut verstanden hat.«
»Wissen Sie, wie der Mann heißt?«
»Manuel Vinzens.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»In Rüti. Er hat dort seine eigene Kinesiologiepraxis.«
»So, so … Wusste ihr Mann über diese Freundschaft Bescheid?«
»Ich glaube nicht.«
Er notiert Manuel Vinzens, Rüti, Kinesiologiepraxis, Mann wusste nicht Bescheid. »Wollte sich Ihre Freundin von ihrem Mann trennen?«
»Ich weiß es nicht«, lügt sie.
»Führte Ihre Freundin Ihrer Meinung nach eine gute Ehe?«
»Was ist heutzutage schon eine gute Ehe. Fangen nicht viele Ehen mit Leidenschaft an und hören mit Ernüchterung auf? Iris hat sich nie beklagt. Wenigstens nicht direkt. Allerdings glaube ich nicht, dass sie ihren Mann wirklich geliebt hat. Ich würde sagen, dass sich die beiden arrangiert haben, so wie sich andere Paare auch arrangieren. Ihr Mann hatte seine Arbeit, sein Bogenschießen und seinen Fußball. Sie ihre Bücher und die Natur.«
»Kam es oft vor, dass ihr Mann über Mittag zum Essen nach Hause fuhr?«
»Iris war eine ausgezeichnete Köchin. Kuno aß lieber zu Hause als auswärts. Er gehört zu den Männern, die es gern bequem haben.«
»So, so. Würden Sie ihn als eifersüchtigen Menschen bezeichnen?«
»Dass sich seine Frau mit mir angefreundet hat, schien ihm auf jeden Fall nicht zu passen.«
»Was Sie auf Eifersucht zurückführen?«
»Auf was sonst? Sind Sie verheiratet?«
Er nickt.
»Wie denken Sie über die beste Freundin Ihrer Frau?«
Es hat ihn tatsächlich auch schon gewurmt, wenn seine Ruth sich mit ihrer Freundin über intime Dinge unterhielt. »Hat er seine Eifersucht gezeigt?«
»Er hat Iris verschiedentlich vorgeworfen, dass ich kein guter Umgang für sie wäre.«
»Und, hatte er recht?«
»Nein. Vielleicht ist Iris durch unsere Freundschaft selbstbewusster, auch selbstständiger geworden. Ich denke jedoch nicht, dass Iris ihm je Anlass zur Eifersucht gab.«
»Wissen Sie, ob er seine Frau geschlagen hat?«
»Keine Ahnung. Ich bin jedoch nicht sicher, ob Iris es mir gesagt hätte, wenn es der Fall gewesen wäre.«
»Gibt es sonst noch jemanden, der mit ihr regelmäßig Kontakt hatte?«
»Iris ist bei Adoptiveltern aufgewachsen, die aber beide nicht mehr leben. Iris wollte ihre leibliche Mutter nie kennenlernen. Möglich, dass die noch lebt. Geschwister hat sie keine. Soviel ich weiß, auch keine sonstigen Verwandten. Auf jeden Fall hat sie nie welche erwähnt.«
»Was hat Sie mit Frau Brunner verbunden?«
»Gegensätzliche Pole ziehen sich an. Ich bin ungeduldig und unbeherrscht.«
Ja, das kann ich mir gut vorstellen, denkt er. Fasziniert beobachtet er, wie Jung während des Erzählens ihre Handflächen auf die Tischplatte legt und sich zu ihm vorlehnt, sodass ihr großer Busen auf dem Tisch aufliegt. Wie gebannt starrt er auf ihre Brüste, die sich beim Sprechen heben und senken.
»Iris wollte es allen recht machen. Sie war geduldig und sanft. Manchmal wirkte sie ein bisschen unschlüssig und verträumt.«
Jung bietet ihm ein Glas Wasser an, doch er will nicht, dass sie aufsteht.
»Durch Iris kam ich mir selbst näher. Wahrscheinlich ist es ihr ähnlich ergangen. Natürlich gab es auch Gemeinsamkeiten. Sie las viel, liebte gute Gedichte, genau wie ich. Ich kann mich noch gut an das letzte Gedicht erinnern, das sie mir vorgelesen hat. Sagt Ihnen der Name Meerbaum-Eisinger etwas?«
Er schüttelt den Kopf.
»Selma Meerbaum war auch ein Opfer. Iris wollte leben, lachen und frei sein, genau wie Meerbaum«, fährt Jung nachdenklich fort. »Doch kämpfen, das wollte Iris nicht, und zum Hassen hätte ihre Kraft nicht ausgereicht. Manchmal kam es mir so vor, als stünde sie nur mit einem Fuß im Leben.«
»Es tut mir leid, Sie mit meinen Fragen quälen zu müssen. Hier, nehmen Sie.« Er streckt Jung ein Kleenex entgegen.
»Warum erkennt man das Glück erst, wenn es vorbei ist?«, fragt sie traurig, nachdem sie sich wieder gefasst hat. »Ich werde sie schmerzlich vermissen. Iris war so unverdorben.«
Er versteht nicht, wie man eine 45-jährige Frau unverdorben nennen kann.
»Seit ich hier wohne, war Iris meine beste Kritikerin. Außerdem war sie unbestechlich. Sie sah erbarmungslos durch die Menschen hindurch. Sie brauchte mich bloß anzuschauen, um zu wissen, wie es um mich stand. Wir sind oft wandern gegangen. Stellen Sie sich vor, sogar schweigen konnten wir zusammen. Und das will bei Frauen etwas heißen.«
Er kann eine derart innige Beziehung nicht nachvollziehen. Natürlich hat auch er ein paar Arbeitskollegen. Doch persönliche Dinge bespricht er ausschließlich mit seiner Frau. Er fragt sich, ob die beiden Frauen nicht doch lesbisch gewesen sind.
»Wir sind übrigens beide in Zürich aufgewachsen und zur Schule gegangen«, hört er Jung fortfahren.
»Kannten Sie sich von früher?«
»Nein, wir sind uns hier in Wald bei einer Lesung zum ersten Mal begegnet.«
Er steht auf. »Danke, das ist für den Moment alles. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Handynummer geben würden.«
Jung reicht ihm eine Visitenkarte.
»Danke. Der Kriminalpolizist, der die Ermittlungen führt, wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Wahrscheinlich noch heute Abend. Es wäre uns sehr gedient, wenn Sie in den nächsten Tagen nicht verreisen würden.« Er reicht ihr seine Visitenkarte. »Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt.«