Kapitel 14

»Bist du eine Kundin?«

»Ja. Ich heiße Viktoria.«

»Ich kenne dich nicht.«

»Das macht nichts. Wie geht es dir?« Sie schenkt Kari einen fürsorglichen Blick. In seinem blauen Arbeitsoverall sieht er aus wie immer, doch er strahlt eine Verlorenheit aus, die sie schmerzt. Er schlägt mit der Faust mehrmals gegen den Kopf, um seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.

»Ich weiß nichts mehr, nicht einmal, wie ich heiße.«

»Das wird schon wieder«, versucht sie ihn aufzumuntern.

Er zeigt auf seine Stirn. »Alles ist hier drin eingeschlossen.«

»Wie kommst du mit den Hühnern zurecht?«

»Der Mann dort«, er zeigt auf seinen Vater im Garten, »sagt, dass es meine Hühner sind. Aber ich kann mich nicht erinnern. An gar nichts. Nicht einmal an meine Katze.«

»Macht es dir Spaß, die Hühner zu füttern und die Eier einzusammeln?«

»Ja. Aber ich habe meinen Namen vergessen, und ich weiß auch nicht, wie alt ich bin.« Wieder tippt er sich an die Stirn. »Alles ist da drin eingeschlossen.«

»Das kann geschehen, wenn man etwas ganz Schlimmes erlebt hat. Verstehst du?«

Er schüttelt traurig den Kopf.

»Soll ich es dir erklären?«

Er nickt ängstlich.

»Wenn ein Mensch, so wie du, etwas ganz Schlimmes erlebt, kann es sein, dass er sich danach für eine Zeit lang an nichts mehr erinnern kann. Aber das gibt sich wieder. Sobald dein Gedächtnis keinen Stress mehr hat, kommt es wieder zurück. Du musst einfach ein bisschen Geduld haben und den Mut nicht verlieren.« Sie drückt seine Hände, die sich klebrig anfühlen.

Er starrt sie an. Seine Augen sind gerötet, die Augenlider geschwollen. Sein sonst so fröhliches Gesicht ist ohne Ausdruck. »Alle kennen mich, aber ich kann mich an nichts erinnern.«

Der alte Honegger geht auf seinen Sohn zu. »Sie sollten ihn nicht noch mehr aufregen.«

»Guten Tag, ich wollte bloß sehen, wie es Ihrem Sohn geht und wie Sie mit den Eiern zurechtkommen.«

»Haben Sie Ihre Eier denn nicht erhalten?«, fragt er argwöhnisch.

»Doch, doch«, beruhigt sie ihn.

Er klopft seinem Sohn zärtlich auf die Schultern. »Wir schlagen uns durch, nicht wahr, mein Sohn?«

Sie sieht, wie Kari zusammenzuckt.

»Mein Bub besorgt die Hühner zusammen mit meiner Schwägerin. Sein Cousin trägt die Eier aus. Morgen wird mein Bub ihn begleiten.«

»Schön, dann werde ich dich morgen ja wiedersehen.«

»Warum bist du so dick?«

»Nun, es gibt dünne und es gibt dicke Leute. Ich bin schon dick auf die Welt gekommen. Und ehrlich gesagt, ich esse gern Kuchen.«

»Ich auch.« Er schaut auf seine Armbanduhr, dann zu seinem Vater. »Ich muss jetzt die Eier einsammeln.«

»Ja, tu das, mein Sohn.«

Sie schaut ihm nach.

»Nur die Pünktlichkeit ist ihm geblieben.« Der alte Mann atmet schwer.

»Ein Gedächtnisverlust bedeutet nicht, dass Ihr Sohn sich an gar nichts mehr erinnern kann. Hier, in seinem gewohnten Umfeld, ist es gut möglich, dass seine Erinnerung nach und nach zurückkehrt.«

»Wenn der arme Bub nur nicht so leiden würde.« Honeggers Kopf pendelt hin und her. »Früher hat ihn nichts aus der Ruhe gebracht. Und jetzt ist er ganz zappelig.«

»Hat der Arzt ihm Beruhigungstabletten verschrieben?«

»Ja. Wir hoffen, dass er die nächste Nacht besser schlafen kann.«

»Das hoffe ich auch.«

»Wir vermeiden Fragen, weil sie ihn aufregen und ängstigen.«

»Das ist gut. Ihre Zuwendung wird ihm helfen.«

»Wir tun, was wir können. Wenn Sie uns den Bub nur nicht wieder wegnehmen.«

»Rufen Sie mich an, wenn das der Fall sein sollte. Wann wird Ihr Sohn sein Mofa zurückerhalten?«

»Morgen. Ich habe dem rothaarigen Polizist gesagt, dass mein Bub kein Mörder ist.« Der alte Mann reibt sich die trüben Augen. »Er glaubt mir nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der meinen Kari wieder abholt.«

»Der Kripobeamte hofft, dass Ihr Sohn sein Gedächtnis wiederfindet, damit er ihn befragen kann. Es könnte sein, dass er gesehen hat, wer Iris Brunner getötet hat. Somit wäre er der wichtigste Zeuge.«

»Gibt es denn keine anderen Verdächtigen?«

»Doch. Ein gewisser Bruno Edelmann. Auch Kuno Brunner, der Mann der Toten, steht unter Verdacht.«

»Der Bub vom Seppli Brunner selig?«

Sie nickt.

Honegger winkt ab. »Nein, der doch nicht. Er ist ein rechtschaffener Mann, genau wie sein Vater.« Dann fährt er nachdenklich fort: »Der Seppli würde heuer 90, wenn er noch lebte.«

»Ich bin sicher, dass die Polizei den wahren Täter finden wird.«

»Für die ist mein Bub nicht wichtig. Hauptsache, die finden einen, den sie ins Gefängnis stecken können.«

»Das glaube ich nicht. Herr Möller nimmt die Sache sehr ernst.«

»Seit mein Bub wieder zu Hause ist, schreibt er seinen Namen. Immer nur seinen Namen.« Er zögert kurz. »Wollen Sie es sehen?«

»Ja, gern.«

Mit gebeugtem Rücken hinkt der alte Mann ins Haus.

»Vielleicht beruhigt es ihn?«, schlägt sie vor, als er ihr kurz darauf die vollgekritzelten Blätter reicht.

»Warum er das tut, weiß nur er.« Er deutet mit dem Zeigefinger nach oben.

»Herr Honegger, vielleicht können Sie mit Hilfe einer Therapeutin Situationen aufbauen, die es Ihrem Sohn möglich machen, sich wieder an seine Vergangenheit zu erinnern?«

Der alte Mann winkt energisch ab. »Wir brauchen niemanden von dieser Sorte. Das würde den Bub nur noch mehr durcheinanderbringen.«

Sie überreicht ihm die Kundenadressliste, die er ihr ausgeliehen hat. »Ich habe mir erlaubt, sie Herrn Möller zu zeigen.«

 

Der Besuch bei den Honeggers hat Viktoria betroffen gemacht. Was, wenn Kari sein Gedächtnis nicht wieder zurückerlangt? Sie geht hinauf in ihr Arbeitszimmer. Die Arbeit an ihrem Buch wird sie ablenken. Doch kaum hat sie ihre E-Mails abgerufen, hört sie die Hausglocke. Wie sie die Türe aufschließt, erstarrt sie. Sie muss Kuno wohl ungläubig angestarrt haben, denn er räuspert sich verlegen und streckt ihr ein in hellblaues Papier eingeschlagenes Päckchen entgegen.

»Meine Frau wollte es dir zum Geburtstag schenken.«

Es ist Kunos verängstigter Gesichtsausdruck, der sie dazu bewegt, ihn hereinzubitten. »Kaffee, Bier?« Sie führt ihn zum Tisch, bittet ihn, Platz zu nehmen.

»Nein danke. Ich bin gekommen, um mich für meine Unhöflichkeit von gestern zu entschuldigen.«

Sie sieht, wie viel Überwindung ihn dieses Eingeständnis kostet.

»Der Tod meiner Frau hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Und dann bist auch noch du mit deinen Vorwürfen gekommen.«

Sie lässt Kuno nicht aus den Augen.

»Meine Frau war mir gegenüber so verschlossen. In den letzten Jahren wusste ich kaum noch, was sie tagsüber trieb. Dass sie sich dir statt mir anvertraute, war für mich unerträglich.«

»Das ist mir nicht entgangen.«

»Am Dienstag wird meine Frau beigesetzt.« Seine Hände verkrampfen sich, als er fortfährt. »Ich nehme an, du kommst auch zur Beerdigung?«

»Ja, ich werde kommen.«

»Ich muss Tag und Nacht an meine Frau denken.«

»Mir fehlt sie auch.« Sie beäugt Kuno misstrauisch, sieht, wie er um Worte ringt.

»Weißt du schon lange, dass sich meine Frau von mir trennen wollte, weil sie einen andern hatte?«

»Seit ein paar Monaten.«

»Aber warum? Ich habe ihr jeden Wunsch erfüllt.« Er verwirft seine Hände. »Was in aller Welt hat dieser andere, was ich nicht habe?«

»Verlangst du von mir, dass ich einen Apfel mit einem Pfirsich vergleiche?«

Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. »Kennst du den Mann?«

»Ja.«

»Hast du die beiden miteinander verkuppelt?«

»Verkuppelt nein. Ich habe Iris lediglich die Adresse eines guten Therapeuten gegeben.«

»Ist dieser Therapeut ein Freund von dir?«

»Ja.«

»Dachte ich es mir. Du hattest kein Recht, dich in unsere Ehe einzumischen.«

Sie verzichtet auf eine Rechtfertigung. Kunos gebräuntes Gesicht verdunkelt sich.

»Wie alt ist er?«

Sie zögert. »Das Alter tut hier nichts zur Sache.«

»Wie alt?«

»38.«

»Dann war ich ihr wohl zu alt. Wie kann sie es wagen, mich so zu hintergehen.«

»Hintergehen? Sie hat keinen anderen Mann gesucht. Das Schicksal hat die beiden zusammengeführt.«

»So ein Quatsch!«

»Hast du dich während deiner Ehe nie in eine andere Frau verliebt?«

»Wann haben sich die beiden kennengelernt?«, fragt Kuno stur weiter.

»Anfang des Jahres.«

»Und ich Idiot habe nichts davon gemerkt.«

»Wirklich nicht?« Sie spürt, dass die Frage ihn verunsichert.

»Wann haben sie es zum ersten Mal miteinander getrieben?«

»Du meinst miteinander Liebe gemacht?«

»Wann?«

»Keine Ahnung. Ich war nicht dabei.«

»So kann man sich täuschen«, sagt Kuno bitter. »Meine Frau konnte sich all die Jahre auf mich verlassen. Ich habe ihr Geborgenheit und Sicherheit gegeben. Ich habe ihr so viel Geld gegeben, wie sie nur wollte. Sie musste nie arbeiten. Und was hat sie gemacht? Sie hat mein Vertrauen schamlos ausgenutzt. Ich kapiere das einfach nicht.« Wieder verwirft er seine Hände. »Ich habe sie wirklich geliebt. Vom ersten Tag an.«

Kunos verzweifelter Blick berührt sie. »Beziehungen verändern sich. Umstände verändern sich. Nicht immer auf die Art, wie wir es uns wünschen.«

»Ich habe sie bis zum Schluss geliebt.«

»Ja, aber du wolltest einfach nicht wahrhaben, dass ihr euch auseinandergelebt habt.«

»Früher war sie anders.« Kunos Gesicht wird hart.

Sie kann verstehen, dass ihre Kritik ihn verstimmt. Seine Prinzipientreue und die Unbedingtheit, mit der er auf Einhaltung gewisser Regeln besteht, machten ihn in Militär, Beruf und Sport zu einem erfolgreichen Mann. Wie frustrierend muss es jetzt für ihn sein, mit ansehen zu müssen, wie sein sorgsam errichtetes Gerüst in sich zusammenfällt.

»Meine Frau war immer schon leicht beeinflussbar. Ich hätte mehr Zeit mit ihr verbringen müssen.«

»Ja, vielleicht …«

»Je länger ich meine Frau kannte, desto weniger habe ich sie verstanden. Sie hat in den letzten Jahren das Interesse an meinem Leben völlig verloren. Früher hat sie mich überallhin begleitet.«

»So lange, bis ihr klar wurde, dass sie dein Leben lebte statt ihr eigenes.«

»Na und? Es war ein luxuriöses Leben, ein sicheres Leben und vor allem ein bequemes Leben«, verteidigt sich Kuno.

»Hast du von Iris tatsächlich erwartet, dass sie sich für dich aufgibt?«

»Ich habe ihr jeden Wunsch erfüllt.«

»Hast du mit ihr klassische Konzerte oder Kunstausstellungen besucht? Bist du mit ihr wandern gegangen? Hast du dich wirklich auf sie eingelassen, dich ihren Fragen ausgesetzt, ihr aufmerksam zugehört?«

Kuno beißt sich auf die Lippen. »Ich kann mit Musik und Kunst nichts anfangen und mit Esoterik schon gar nicht.«

»Gleichzeitig hast du von deiner Frau erwartet, dass sie dich zum Bogenschießen und ins Fitnesszentrum begleitet, und dir beim Fußballspielen zuschaut.«

»Früher hat es ihr Spaß gemacht.«

»Vielleicht hat sie es nur getan, weil du es von ihr erwartet hast?«

»Quatsch. Sie war stolz auf mich, und sie hat es mir auch gezeigt. Früher ist sie am Abend gern mit mir ausgegangen. Erst, als sie dich kennenlernte, hat sie damit aufgehört.«

Sie überhört den Vorwurf. »Iris war eben nicht der Typ Frau, der aufgetakelt in Bars herumhängt oder in verrauchten Restaurants Karten spielt.« Sie weiß, dass Kuno sich regelmäßig mit seinen Kumpels zum Jassen trifft.

»Da täuschst du dich. Früher hat sich meine Frau immer für mich schön gemacht, wenn wir miteinander ausgingen, und soviel ich weiß, hat sie sich gut amüsiert.«

»Es kommt häufig vor, dass ein Paar sich nach so vielen Jahren auseinanderlebt.«

»An mir hat es nicht gelegen. Ich wollte mit ihr alt werden.«

»Warst du mit Iris wirklich glücklich?« Es fällt ihr auf, dass er immer wieder ihrem Blick ausweicht.

»Ich war zufrieden, das hat mir gereicht.«

»Gab es für dich all die Jahre nie eine andere Frau?«

»Nein«, erwidert Kuno ohne zu zögern.

Vielleicht gehört er zu der Sorte Männer, die nur davon träumen, fremdzugehen, geht es ihr durch den Kopf. Lucien war ihr nicht immer treu gewesen. Doch seine paar Ausrutscher beschränkten sich stets nur auf eine Nacht. Weder sie noch Lucien hatten je eine Nebenbeziehung.

»Für mich sind Verlässlichkeit und Treue in einer Ehe das Allerwichtigste.«

»Manchmal geschieht es, dass zwei Menschen sich heftig zueinander hingezogen fühlen, unabhängig von den äußeren Umständen. Diese Anziehung wirkt dann wie ein Sog.«

»Wenn man seinen Partner wirklich liebt, gibt man einer solchen Versuchung nicht nach«, erwidert Kuno grimmig. »Ich wusste immer, dass meine Frau labil ist, deswegen war es mir auch wichtig, ihr Halt und Sicherheit zu geben. Ich muss jetzt gehen.«

»Glaubst du immer noch, dass der Eierkari deine Frau getötet hat?«

»Ist doch offensichtlich.«

»Ich habe den armen Kerl heute besucht.«

»Er ist ein Mörder, kein armer Kerl.«

»Er kann sich an nichts erinnern.«

»Ich bin sicher, dass er uns was vorspielt.«

»Warum sollte er das tun?«

»Warum wohl? Ist doch logisch, dass er seine Tat zu verdrängen versucht.«

»Das sehe ich anders. Ich glaube vielmehr, dass er mit angesehen hat, wie Iris getötet wurde. Er ist ein sensibler Mann. Bei traumatisierten Menschen erhöht sich die Empfänglichkeit für seelische Erschütterungen. Wenn sie später erneut einen Schock erleiden, werden sie damit nicht fertig, was zu einer schlagartigen Gedächtnisblockade führen kann.«

»Honegger wuchs wohlbehütet auf. Jeder im Dorf weiß, wie sehr er von seiner Familie gehätschelt wird.«

»Auch eine schwierige Geburt kann ein Kind traumatisieren. Außerdem hat der Tod seiner Mutter ihn tief erschüttert.«

»Dann müsste auch ich traumatisiert sein.«

»Und, bist du es nicht?«

»Ach was. Alles faule Ausreden.«

»Ich kenne niemand, der nicht in der einen oder anderen Form traumatisiert ist. Nur haben nicht alle Menschen eine so dünne Haut wie der Eierkari.«

»Ich finde, du nimmst ihn zu sehr in Schutz.«

Sie lässt Kuno nicht aus den Augen. »Vielleicht hat dieser Edelmann Iris getötet?«

»Solche kranken Kerle sollte man auf jeden Fall nicht frei herumlaufen lassen. Hätte ich von der Sache gewusst, hätte ich ihm den Garaus gemacht.«

»Iris wollte ihn bei der Polizei anzeigen.«

»Wollte, wollte  sie hat es aber nicht getan.« Sein Gesicht wird hart. »Das zeigt, wie unentschlossen meine Frau war. Ja, sie hatte viele Ideen, doch umgesetzt hat sie diese nie. Ich muss los. Es gibt noch viel zu tun. Meine Frau soll ein anständiges Begräbnis bekommen.«

»Lass es mich wissen, falls ich dir bei den Vorbereitungen behilflich sein kann.«

»Nicht nötig, meine Mutter hilft mir.«

Jeder im Dorf kennt die rüstige, resolute Frau. Ihr Mann starb an einem Unfall, als Kuno eingeschult wurde, doch sie ließ sich nicht unterkriegen. Viktoria sieht die hagere Alte vor sich, deren wachsamen Augen nichts entgeht, und die ihren Rücken gerade hält wie ein Schweizer Gardist. Wenn die alte Frau ihren Mund öffnet, feuert sie tödliche Schüsse ab, und ihre Sätze enden immer mit einem Vorwurf. Iris tolerierte ihre Schwiegermutter, genauso wie alles andere in ihrem Leben.

 

Viktoria betrachtet die Geburtstagskarte, die Kuno ihr überreicht hat.

 

Liebe Viktoria, ich schenke dir dieses Buch, auch auf die Gefahr hin, dass du es nicht lesen wirst. In Freundschaft. Iris.

 

Sie packt das Päckchen aus. Es war typisch für Iris, ihr ein Buch zu schenken, das eine Liebeserklärung an die Erde ist. Sie streichelt den Einband, auf dem ein Steinkreis zu sehen ist. Sie bewundert die Zeichnungen, die innerhalb des Buches als Kraftfelder wirken, und die so gestaltet sind, dass sie mit verschiedenen Qualitäten des Erdbewusstseins in Resonanz stehen. Während sie es durchblättert, fällt ihr Blick auf einen Satz, der sie traurig stimmt. ›Noch immer denken wir, dass die Wirklichkeit so ist, wie sie immer war! Das ist gar nicht wahr! Was wir sehen, ist nur eine Erinnerung an die Erde, wie sie einst war!‹

 

Nachdem sie eine Kleinigkeit gegessen hat, steigt sie in den Keller, um die Schachtel mit den Briefen zu holen, die Manuel an Iris geschrieben hat. Vorsichtshalber hat er seine Nachrichten ins Oberholz geschickt, und Iris hat sie auch hier aufbewahrt.

Die Schachtel liegt zuoberst auf dem Weingestell. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und greift danach. Auf dem Rückweg stolpert sie über den Saum ihrer weiten Hose. Die Schachtel fliegt ihr aus der Hand, der Deckel löst sich und die Briefe schlittern über den Lehmboden. Sie rafft sich fluchend auf und reibt sich das schmerzende Knie. Die Treppe herunterstürzen ist eine Sache, die Treppe hinaufstürzen eine andere. Das kommt davon, wenn man schlummernde Dämonen weckt. Lucien hatte ihr über die Jahre Hunderte von Liebesbriefen geschrieben.

Manuels Briefe liegen im Keller zerstreut. Vorsichtig steigt sie die steilen Stufen wieder hinab. Zurück in der Küche holt sie zwei Eisbeutel und humpelt hinüber zum Sofa. Sie säubert jeden Umschlag mit einem Staublappen. Dabei stößt sie auf ein loses, zusammengefaltetes Papier. Wie sich herausstellt, eine Fotokopie eines Briefes, den Iris an Manuel geschrieben hat.

 

Kari ist echt, deshalb mag ich ihn. Vor ein paar Tagen ist sein Lieblingshuhn gestorben. Er war furchtbar traurig. Heute Morgen habe ich ihm erzählt, dass ich bald von hier wegziehen werde. Stell dir vor, da ist er richtig wütend geworden. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, doch er hat meine Hand abgeschüttelt. Dann ist er plötzlich mit den Fäusten auf mich losgegangen …

 

Iris hat den Brief eine Woche vor ihrem Tod geschrieben. Sie sieht Kari mit seinen kräftigen Händen vor sich. War auch er in Iris verliebt gewesen?

 

Als ich ihn anflehte aufzuhören, ist er heulend zusammengebrochen. Erst als ich ihn in den Arm genommen habe, hat er sich wieder beruhigt. Ach Manuel, es war mir bis heute nicht bewusst, wie sehr er an mir hängt. Ich kann es nicht ertragen, wenn andere Menschen wegen mir leiden.

 

Viktorias Herz zieht sich zusammen. Wenn Kari Iris wirklich getötet hat, so ist es besser, wenn er sich an nichts erinnert. Die Wahrheit würde er niemals verkraften. Sie zügelt ihre Neugier und wählt Manuels Nummer. Als er abnimmt, hört sie Vogelgezwitscher und Wasserrauschen.

»Wo bist du?«

»Ich wollte soeben in mein Kanu steigen.«

»Bist du in der Rheinschlucht?«

»Ja.«

Manuel gehört eine kleine Wohnung in einem alten Walserhaus in Safien. Seine Mutter hat ihm das Appartement zu seinem 30. Geburtstag geschenkt. In der ursprünglichen Berglandschaft kann er Kraft tanken. Das Safiental ist eine alpine Brache. Jeder hat dort seinen Hof, sein Stück Land und seinen ganz eigenen Lebensrhythmus.

»Wie fühlst du dich, Manuel?«

»Wie ein Stück Treibholz. Ich fühle mich dem Tod näher als dem Leben. Und du?«

»Ich kann im Moment nicht sagen, um wen ich mehr trauere, um Lucien oder um Iris. Wie lange wirst du in Safien bleiben?«

»Eine Woche, zwei Wochen. Ich weiß es nicht. Ich habe alle Termine für die nächsten Tage abgesagt.«

Sie erzählt ihm die Geschichte von ihrem Sturz und den Briefen. Dass sie einen davon gelesen hat, verschweigt sie. »Wenn du mich das nächste Mal besuchst, werde ich dir die Schachtel mitgeben.« Sie zögert. »Manuel, ich hätte da eine Bitte …«

»Ja?«

»Hast du die Briefe aufbewahrt, die Iris dir geschrieben hat?«

»Es ist das Einzige, was mir geblieben ist.«

Vorsichtig formuliert sie ihr Anliegen. Ein Raubvogel kreischt in den Hörer.

»Wozu brauchst du die Briefe?«

»Ich möchte verhindern, dass der falsche Mann des Mordes an Iris angeklagt wird.«

»Ich möchte nicht, dass die Briefe in die Hände der Polizei gelangen. Ich würde es nicht ertragen, wenn sie noch mehr intime Fragen stellt.«

»Es geht mir nur um jene Passagen, wo Kuno, Edelmann oder Kari erwähnt wurden.«

»Iris schrieb nicht über ihren Mann.«

»Bitte, Manuel.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»In Ordnung. Bitte ruf mich an, wenn du über Iris sprechen möchtest. Ich bin auch nachts für dich da.«

»Im Moment möchte ich einfach nur meine Ruhe. Mir fehlt die Kraft, meinen Schmerz zu teilen.«

»Die Natur wird dir guttun.«

»Ja, wenn ich auf dem Wasser bin, kann ich mich gehen lassen.«

»Ciao, Manuel, pass auf dich auf.«

Wie gut Iris und Manuel doch zusammengepasst hätten, denkt sie bekümmert. Beide verstanden sich als Teil der Natur und glaubten an die Vision einer neuen, friedlichen Zivilisation, die eine Kommunikation zwischen Erde, Mensch und Kosmos ermöglicht.