Kapitel 22

 

Viktoria mischt die Zutaten für einen Schokoladenkuchen, doch es fällt ihr schwer, sich auf das Backen zu konzentrieren.

Immer wieder muss sie an das letzte Gespräch mit Möller zurückdenken. Er sagte etwas vom 23. Stock. Es gibt in Zürich nur wenige Hochhäuser. Gut möglich, dass er in einem der Hardau-Wohntürme wohnt.

Leider blockte er konsequent ab, als sie mehr über sein Privatleben erfahren wollte. Zumindest gab er zu, dass ihm die Geschichte mit seiner Exfrau immer noch zu schaffen macht. Nach dem dritten Glas Wein hatte er es aber plötzlich eilig. All ihre Verführungskünste schlugen fehl.

 

Sobald der Kuchen fertig ist, fährt sie nach Wetzikon ins Spital. Kari lächelt vergnügt, als sie ihn begrüßt. Sie bemerkt die pingelige Ordnung auf der Ablage neben seinem Bett.

»Schon wieder eine Kundin«, verkündet er seinen Zimmergenossen stolz.

Viktoria streckt ihm den Kuchen entgegen, worauf sich ein freudiges Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet.

»Danke Vicki.«

»Ich bin froh, dass du dich wieder an mich erinnerst.«

»Ich bin doch nicht blöd.« Er tippt sich an die Stirn und schüttelt energisch den Kopf.

»Ich hole dir einen Cappuccino. Danach werde ich den Kuchen für dich aufschneiden. In Ordnung?«

Kari strahlt. An seine Zimmergenossen gewandt: »Ihr könnt auch ein Stück haben.«

Als sie mit dem Kaffee zurückkehrt, hat Kari den Kuchen mit seinem Sackmesser bereits aufgeschnitten und an seine Bettnachbarn verteilt. »Iris macht den besten Schokoladenkuchen.«

»Ich weiß, aber Iris lebt nicht mehr.«

Kari ignoriert ihre Bemerkung. »Ich habe schon den ganzen Morgen Besuch. Alle wollen mich sehen.« Er klopft sich auf den Bauch. »Ich glaube, ich habe zu viel Kuchen gegessen. Ich muss mir jetzt die Hände waschen.« Er schwingt sich aus dem Bett und trottet Richtung Lavabo.

»Wenn dir all deine Besucher Kuchen bringen, kannst du damit das ganze Spital versorgen«, neckt sie ihn, als er sich wieder hinlegt.

»Es gibt viele liebe Leute hier. Ich habe ihnen von meinen Hühnern erzählt.«

»Hast du Schmerzen?«

»Ab und zu tut mein Kopf weh. Auch hier tut es weh.« Er zeigt auf seine Schulter. »Der Doktor sagt, dass ich mich nicht zu viel bewegen darf. Aber ich will endlich nach Hause zu meinem Vater und zu meinen Hühnern.«

»Keine Sorge, dein Cousin kümmert sich um deine Hühner.«

»Er mag sie nicht. Er findet sie alle blöd. Und streicheln tut er sie auch nicht.«

»Soviel ich gehört habe, kannst du Ende der Woche nach Hause.«

»Ich gehe schon morgen«, erwidert er energisch. »Ich habe bereits gepackt.«

»Ich bin froh, dass es dir so gut geht.«

»Unkraut verdirbt nicht, sagt mein Vater.«

»Kannst du dich an deinen Unfall erinnern?«

»Ein Auto hat mir den Weg abgeschnitten, dann bin ich gestürzt. Danach weiß ich nichts mehr. Der Doktor sagt, dass man sich nicht an alles erinnern kann, wenn man auf den Kopf fällt.«

»Er hat recht. Warum hast du keinen Helm getragen?«

Kari zieht den Kopf ein, als erwarte er Prügel. »Ich trage immer einen Helm.«

»Siehst du meine Lesebrille?« Sie zeigt auf ihre Stirn. »Wenn ich am Morgen aufstehe, setze ich sie automatisch auf und schiebe sie über meine Stirn, damit ich sie nicht suchen muss. Manchmal passiert es mir aber, dass ich meine Wohnung verlasse und unterwegs feststelle, dass ich sie zu Hause liegen gelassen habe. Das macht mich jedes Mal sauer, weil ich dann nicht lesen kann.«

»Ich benötige keine Brille. Ich habe gute Augen«, erklärt er stolz. »Dafür höre ich schlecht. Das wenigstens sagt mein Cousin. Aber der weiß sowieso alles besser. Wenn er wütend ist, sagt er immer, dass ich spinne.«

»Er meint es bestimmt nicht böse.«

»Er mag meine Hühner nicht.«

»Konntest du das Auto erkennen, das dir den Weg abgeschnitten hat?«

»Es war silbrig, wie das Auto meines Cousins. Und die letzte Zahl auf dem Nummernschild war eine Fünf.«

»Du hast wirklich ein gutes Zahlengedächtnis«, lobt sie ihn.

»Muss ich haben.«

»Hat das Auto dich gestreift?«

»Nein, aber ich musste ihm ausweichen. Danach weiß ich nichts mehr.«

»Das macht nichts.«

»Ich will nach Hause. Ich kann es nicht ertragen, wenn mein Vater traurig ist.«

»Er und deine Tante lieben dich sehr.«

»Meine Tante ist lieb. Aber nicht so lieb wie meine Mutter.« Er kommt ins Schwärmen. »Mit meiner Mutter habe ich immer gesungen. Sie kannte viele schöne Lieder, und sie mochte meine Hühner. Sie hat mir auch beigebracht, wie man Suppenhühner schlachtet. Meine Mutter hat auch gute Kuchen gebacken, aber die besten bäckt Iris. In ihren Kuchen hat es große Schokoladenstücke, und der Kuchen ist nie trocken. Wenn meine Tante Kuchen bäckt, braucht man dazu mindestens drei Tassen Kaffee, sagt mein Vater.«

»Dieses Geheimnis werde ich für mich behalten. Wir wollen schließlich deine Tante nicht kränken.«

Kari strahlt über das ganze Gesicht.

»Bitte lass uns jetzt über deine Freundin Iris sprechen. Einverstanden?«

Sein Gesicht verschließt sich.

Sie beugt sich zu ihm hin, spricht leise, aber deutlich. »Du weißt, dass Iris tot ist, nicht wahr, Kari?«

Er nickt.

»Hast du gesehen, wer deine Freundin Iris getötet hat?«

Er weicht ihrem Blick aus.

»Herr Möller von der Polizei wird dir die gleichen Fragen stellen. Es ist wichtig, dass du uns die Wahrheit sagst. Du möchtest doch auch, dass der Mann, der Iris getötet hat, bestraft wird?«

»Ich darf nichts sagen.«

»Aber warum?« Sie legt die Hand auf seinen Arm.

»Ich musste es versprechen. Ich will jetzt zu meinem Vater.«

»Wem hast du was versprechen müssen?«

Er schüttelt heftig den Kopf.

»Vor einer Woche hat man dich neben Iris im Mondmilchgubel gefunden. Erinnerst du dich daran?«

Er zuckt mit den Schultern.

»Jetzt meint die Polizei, dass du Iris getötet hast. Sie werden dich verhaften, wenn du ihnen nicht sagst, was genau geschehen ist. Das willst du doch nicht, oder?«

»Ich will nicht ins Gefängnis. Ich will zu meinen Hühnern.«

»Dann sag mir bitte die Wahrheit.«

Er richtet sich abrupt auf und schreit: »Ich will nicht!«

Sofort erscheint eine Pflegerin im Zimmer. »Ich glaube, es ist Zeit, dass Sie jetzt gehen. Herr Honegger braucht seine Ruhe, sonst wird er nicht gesund.«

»Geben Sie mir bitte noch zehn Minuten?«, fleht Viktoria. »Es ist wichtig, nicht für mich, sondern für ihn. Er steht unter Mordverdacht.«

Sie presst missbilligend die Lippen zusammen. »Genau zehn Minuten.«

»Bitte beruhige dich, Kari, bitte.« Viktoria greift nach seiner Hand und drückt sie. »Schau mich an. Ich möchte dir und deinem Vater helfen. Also, wenn ich dich richtig verstehe, so hat ein Mann dir gedroht, dich umzubringen, wenn du der Polizei verrätst, wer Iris getötet hat?«

»Ja.«

»War es derselbe Mann, den du im Mondmilchgubel gesehen hast?«

Er schüttelt den Kopf.

»Kam der Mann hierher ins Spital?«

Diesmal ein Nicken.

»Wie sah er aus?«

Er kämpft mit sich.

»Er war groß und dick«, mischt sich Karis Zimmergenosse ein.

Sie steht auf, geht zu ihm hinüber. »Können Sie sein Gesicht beschreiben?«

»Er hatte schwarze Haare und einen Schnauz. Und er trug eine dunkle Sonnenbrille und einen breitrandigen Hut.«

»Und wie war er gekleidet?«

»Er trug Jeans und einen beigen, zerschlissenen Regenmantel.«

»Wie lange ist er geblieben?«

»Nur ganz kurz.«

Sie geht zu Kari zurück. »Kennst du den Mann, der dir gedroht hat?«

»Nein.«

 

Draußen auf dem Parkplatz wählt sie Möllers Nummer. »Der Eierkari muss sofort unter Polizeischutz gestellt werden. Er ist in großer Gefahr.« Sie erklärt ihm weshalb, erwähnt auch die auf eine Fünf endende Autonummer. Möller verspricht, sie in einer halben Stunde auf dem Polizeiposten in Wald zu treffen.