Kapitel 24

Inzwischen fährt Möller nach Wetzikon ins Spital. Der junge Honegger sitzt angekleidet auf seinem Bett und unterhält sich angeregt mit seinem Bettnachbarn.

Möller streckt ihm die Hand entgegen. »Guten Tag, Herr Honegger. Wir kennen uns ja bereits.«

»Sie können mich Kari nennen. Das tun alle. Das ist der von der Kripo«, wendet er sich stolz an seine Zimmergenossen.

»Nanu, dürfen Sie heute schon nach Hause?«

Kari errötet. »Der Arzt will mich erst Ende der Woche nach Hause gehen lassen, aber ich will jetzt gehen. Ich weiß, wie man von Wetzikon nach Wald kommt. Ich muss zu meinem Vater und zu meinen Hühnern.« Er rutscht vom Bettrand.

»Warten Sie, Kari. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie beantworten zuerst meine Fragen, dann fahre ich Sie nach Hause zu Ihrem Vater.«

»Gute Idee.« Seine Augen strahlen.

»Natürlich müssen wir zuerst Ihren Arzt fragen. Einverstanden?«

»Der lässt mich nicht nach Hause«, erwidert Kari resigniert.

»Ich werde mit ihm sprechen, in Ordnung?«

»In Ordnung.«

»Warten Sie hier auf mich.«

»Mach ich.«

Kurz darauf kommt Möller in Begleitung des Arztes zurück. Nachdem dieser den jungen Honegger noch einmal untersucht hat, gibt er grünes Licht.

»Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie sich zu Hause hinlegen. Ihre Arbeit nehmen Sie erst wieder auf, wenn Ihr Hausarzt es erlaubt. Versprochen?«

Kari macht ein enttäuschtes Gesicht.

»Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Ich glaube, ich habe Ihnen das ausführlich genug erklärt.«

»Mein Mofa muss sowieso zuerst repariert werden, bevor ich wieder Eier austragen kann.«

Der Arzt verabschiedet sich mit einem Lächeln.

»Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen heute meine Hühner zeigen«, wendet er sich an Möller.

»Einverstanden.«

»Meine Hühner legen die besten Eier, sagen meine Kunden.«

»Kommen Sie jetzt, wir müssen uns draußen noch kurz unterhalten.«

Kari schielt zu den Kuchen hinüber, die sich auf dem Gabentisch angehäuft haben.

»Keine Sorge, die holen wir später.« Möller führt ihn in einen Nebenraum, den er sich vorgängig von einer Pflegerin erbeten hat. Als der junge Honegger sich gesetzt hat, beginnt er mit der Befragung. »Ich möchte mit Ihnen über Ihre Freundin, Iris Brunner, sprechen. Einverstanden?« Er sieht die Angst in Honeggers Augen. »Iris Brunner wurde am vergangenen Donnerstag im Mondmilchgubel tot aufgefunden.«

Karis Mund verzieht sich, als wolle er zu weinen beginnen.

»Sie waren an diesem Donnerstag ebenfalls im Mondmilchgubel. Erinnern Sie sich?«

Kari blickt an ihm vorbei ins Leere.

»Bitte schauen Sie mich an. Ich muss Ihnen jetzt eine wichtige Frage stellen. In Ordnung?«

Ein zögerliches Nicken.

»Haben Sie Iris Brunner getötet?«

Er schüttelt heftig den Kopf und springt auf. »Sie war meine Freundin.«

»Bitte beruhigen Sie sich. Ich weiß, dass sie Ihre Freundin war. Setzen Sie sich, bitte. Ich versuche herauszufinden, wer sie getötet hat, doch dazu brauche ich Ihre Hilfe. Sie sind unser einziger Zeuge. Verstehen Sie?«

Widerwillig lässt er sich erneut auf den Stuhl fallen.

»Je schneller Sie mir meine Fragen beantworten, desto früher kann ich Sie nach Hause fahren.«

Der junge Honegger rutscht auf dem Stuhl unruhig hin und her.

»Schauen Sie mich an, Kari, damit wir miteinander sprechen können.« Möller lässt ihm Zeit. Allmählich entspannt sich Karis Gesicht. »Haben Sie gesehen, wer Iris Brunner getötet hat?«

Keine Antwort.

»Heute Morgen hat Sie hier im Spital ein Mann besucht, nicht wahr?«

Ein Nicken.

»Bitte erzählen Sie mir von ihm.«

»Ich kann nicht. Er bringt mich um, wenn ich etwas sage. Ich muss jetzt zu meinem Vater und zu meinen Hühnern.« Wieder erhebt er sich.

»Setzen Sie sich, Kari. Ich bin mit meinen Fragen noch nicht fertig. Hören Sie mir gut zu. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir Sie, Ihren Vater und Ihre Tante so lange beschützen, bis der Täter gefasst ist.«

»Ein Mörder ist viel schlauer als die Polizei. Ich weiß das, weil ich immer Krimis schaue.«

»Nicht immer, Kari, nicht immer … Ich habe einen Vorschlag. Sie beantworten meine Fragen entweder mit einem Ja oder mit einem Nein. Sie möchten doch auch, dass der Mörder gefasst wird, nicht wahr?«

»Ich habe solche Angst.«

»Wir werden Sie beschützen. Bitte vertrauen Sie mir. Also, haben Sie mit angesehen, wie Ihre Freundin getötet wurde?«

Ein heftiges Kopfschütteln.

»War Ihre Freundin schon tot, als sie im Mondmilchgubel ankamen?«

»Ich weiß es nicht.«

»War jemand bei ihr?«

»Ja, aber er rannte davon.«

»War es ein Mann?«

Ein Schulterzucken.

»Haben Sie ihn erkannt?« Möller beobachtet ihn aufmerksam. Sieht sein Zögern. »Nun?«

Karis Beine schwingen heftig hin und her.

»War es ein Kunde von Ihnen?«

»Nein.«

»Ich werde Ihnen jetzt nacheinander drei Fotos zeigen. Bitte schauen Sie sich die Bilder genau an.« Er reicht ihm eine Nahaufnahme von Vinzens. »Hat dieser Mann Ihre Freundin getötet?«

Ein Kopfschütteln.

»Und was ist mit diesem Mann?« Er zeigt ihm ein Porträt von Brunner.

Wieder ein Kopfschütteln. »Ich muss dringend pinkeln.«

Möller begleitet ihn zur Toilette. Er weiß, dass er ihn nicht allzu sehr drängen darf. Sobald der junge Honegger sich wieder gesetzt hat, fährt Möller mit seiner Befragung fort.

»Ich möchte nach Hause.«

»Bald, Kari, bald.« Er reicht ihm Edelmanns Foto. »Und was ist mit diesem Mann?«

Diesmal schaut er das Bild genau an, bevor er den Kopf schüttelt.

»Wer weiß Bescheid über den Doppelboden in Ihrem Eiergestell?«

Kari überlegt angestrengt. »Ich, mein Vater, meine Tante, mein Cousin und der Spengler Seppi.« Er benutzt zum Aufzählen seine Finger.

Möller wird bewusst, dass er seine Ungeduld zügeln muss, wenn er die Wahrheit erfahren will. »Noch eine letzte Frage. Können Sie sich an die blaue Kette erinnern, die Iris Brunner an Ihrem Todestag trug?«

»Ja, aber sie hat mir nicht gefallen.«

»Und warum nicht?«

Ein Schulterzucken. »Sie hat mir einfach nicht gefallen.«

»Wissen Sie, wie die Kette in den Doppelboden Ihres Eiergestells gekommen ist?«

Diese Frage verwirrt den jungen Honegger. »Iris kannte das Versteck nicht. Nur ich, mein Vater, meine Tante, mein Cousin und der Spengler Seppi.«

»Das haben Sie gut gemacht, Kari.« Möller klopft ihm kameradschaftlich auf die Schultern. »Das genügt für heute. Ich werde Sie jetzt zu Ihrem Vater zurückbringen.«

Der junge Honegger springt auf. »Oh ja, bitte.«

»Aber zuerst holen wir Ihre Sachen. Einverstanden?«

Zurück im Krankenzimmer fragt er Kari, was er mit all den Kuchen machen will.

»Wir nehmen alles mit.«

»Was ist mit deinen Zimmerkollegen? Bekommen die auch einen Kuchen?«

»Ja, sicher. Ich kann ja nicht alle Kuchen allein essen.« Er zeigt auf seinen Bauch und langt nach dem größten Kuchen. »Der ist für euch.«

»Danke. Kommst du uns mal besuchen, Kari?«

»Dazu habe ich keine Zeit. Aber ihr könnt mich besuchen, wenn ihr wieder gesund seid. Dann zeige ich euch meine Hühner.« Er geht von Bett zu Bett und verabschiedet sich mit einem kräftigen Handschlag.

 

Kaum hat der junge Honegger seinen Vater und seine Tante begrüßt, bittet er den Kriminalpolizist, ihn zu den Hühnerställen zu begleiten. Möller fällt auf, dass der alte Honegger verwundert den Kopf schüttelt, als er sie eine Stunde später zusammen zum Haus zurückstapfen sieht.

 

Möller ruft Eisenmann an, teilt ihm mit, dass er verhindert sei und deshalb am Nachmittagsrapport nicht teilnehmen könne. Er kündigt für den Abend eine ausführliche Besprechung an, um im Fall Iris Brunner eine Zwischenbilanz zu ziehen. Er bittet ihn, Staatsanwältin Kurtz ebenfalls einzuladen. Gleichzeitig erteilt er ihm den Auftrag, Edelmann noch einmal gründlich zu verhören. Er informiert Eisenmann über seine Zweifel, bittet ihn, Edelmanns Aussage wortgetreu zu protokollieren. Ihn selbst zieht es zu Jung. Warum, das weiß er auch nicht so genau. Er fühlt sich in ihrer Gesellschaft wohl, doch darüber mag er im Moment nicht nachdenken. Er hat vergebens gehofft, den Fall abschließen zu können. Doch weder die Obduktion noch die Laborresultate haben ihn wirklich weitergebracht. Welche wichtigen Hinweise hat er übersehen, welche falschen Schlüsse gezogen? Was, wenn Honegger und nicht Edelmann der Täter ist? Was für eine Absicht steckt dann hinter Edelmanns Geständnis? Er muss es herausfinden, auch wenn es bedeutet, ihn die ganze Nacht zu verhören. Er hat Hunger, aber keine Lust zu essen.

 

Möller findet Jung schlafend unter dem Apfelbaum. Er setzt sich auf einen alten Gartenstuhl, der verloren auf der Wiese herumsteht und betrachtet die schlafende Frau, deren Brustkorb sich hebt und senkt. Er reibt seinen schmerzenden Rücken und stellt sich vor, wie es wohl sein würde, jeden Morgen neben ihr aufzuwachen. Er sehnt sich danach, sich in ihren weichen Formen zu verlieren. Er fragt sich, ob er dieser Frau genauso verfallen würde wie damals seiner Exfrau? Seit der Scheidung vor acht Jahren hat er nur noch für seinen Beruf gelebt. Die Beziehungslosigkeit hat ihn gefahrensüchtig gemacht. Keine gute Voraussetzung für einen Polizisten. Er zieht sein Fernglas aus der Tasche und fokussiert die Schlafende. Er sieht die Lachfältchen um ihre Augenwinkel und die Furchen auf ihrer Stirn. Plötzlich weiß er, dass er sein Leben mit ihr verbringen will. Er beobachtet, wie ihre Augenlider zucken. Wie sie zuerst das rechte, dann das linke Auge öffnet. Erschrocken senkt er das Fernglas.

»Dass Sie sich an wehrlose Frauen heranschleichen, wundert mich nicht, aber dass Sie sich außerdem noch als Voyeur betätigen, hätte ich Ihnen nicht zugetraut.« Jung setzt sich auf und fixiert ihn mit strengem Blick.

»Ganz so wehrlos kommen Sie mir nicht vor.« Er zeigt auf die Gartenschere neben ihrem Liegestuhl.

»Ja, nehmen Sie sich in Acht«, droht sie ihm. »Das nächste Mal schlage ich zu.«

Er schenkt ihr ein breites Grinsen.

»Kommen Sie, lassen Sie uns ins Haus gehen. Ich bin durstig.«

Beim Aufstehen zuckt er schmerzhaft zusammen.

»Was ist los? Warum stehen Sie so krumm da?«, fährt ihn Jung an.

»Hexenschuss. Ich habe vorher im Auto eine ungeschickte Bewegung gemacht.«

»Warten Sie unter der Pergola auf mich. Ich hole Ihnen etwas gegen den Schmerz. Sie können beim Brunnen inzwischen Wasser holen. Die Karaffe steht auf dem Tisch.«

Kurz darauf reicht sie ihm ein Schmerzmittel. »Besser, Sie nehmen zwei Tabletten. Soll ich Ihnen den Liegestuhl holen?«

Er winkt ab und setzt sich schwerfällig.

»Nun, wie ist Ihr Gespräch mit dem Eierkari gelaufen? Sie sehen nicht besonders glücklich aus, was sicher nicht nur an Ihrem Hexenschuss liegt.«

»Der junge Honegger wollte unbedingt nach Hause, also habe ich ihn heimgefahren. Ich gebe zu, ein netter Kerl. Sie hätten sehen sollen, wie sich seine Hühner gefreut haben. Und da will einer sagen, dass Hühner dumm sind.«

»Hat er Ihnen gesagt, wer Iris getötet hat?«

»Nein. Er fürchtet sich.« Er versucht das Gespräch wiederzugeben, doch der Schmerz in seinem Rücken lässt keine langen Erklärungen zu.

»Wie hat er reagiert, als Sie ihm die Fotos von Edelmann und Brunner gezeigt haben?«

»Bei beiden hat er den Kopf geschüttelt.«

»Gab es bei seiner Reaktion überhaupt keinen Unterschied?«

»Doch.«

»Welchen?«

»Das Bild von Edelmann hat er eingehender betrachtet.«

»Und sonst?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht könnte man sagen, dass er unterschiedlich emotional reagiert hat.«

»Ich rufe jetzt Manuel an. Ich kann nicht länger mit ansehen, wie Sie leiden.«

»Unterstehen Sie sich. Das wird schon wieder.«

Jung greift nach dem Handy. »Hallo, Manuel. Ich bin’s, Viktoria. Ich habe einen Patienten für dich. Er hat starke Schmerzen. Ich tippe auf Hexenschuss. Kannst du ihn heute Nachmittag drannehmen?«

Möller will sie stoppen, doch sie winkt ab.

»In einer halben Stunde? Ja, das passt. Ich fahre ihn zu dir.« Sie legt auf.

Er rappelt sich mühsam hoch. »Es ist nicht mein erster Hexenschuss«, fährt er sie an. »Da helfen nur Schmerzmittel. Geben Sie mir seine Praxisnummer. Ich mag es nicht, wenn über mich entschieden wird.«

»Kommen Sie. Wir nehmen meinen Wagen.«

Er folgt ihr widerwillig. Mühsam zwängt er sich auf den Beifahrersitz. »He, langsam. Sie fahren ja wie der Henker. Wollen Sie mich umbringen?« Jung geht nur leicht vom Gas.

»Manuel hasst Unpünktlichkeit. Sollten Sie sich nicht anschnallen?«

 

Nach der kinesiologischen Behandlung stellt Möller zufrieden fest, dass er wieder aufrecht gehen kann. »Bin ich froh, dass das Schmerzmittel endlich wirkt. Nichts gegen Ihren Freund, aber es hat sich ein bisschen wie Hokuspokus angefühlt.«

»Lesen Sie die Broschüre, die Manuel Ihnen mitgegeben hat.«

»Keine Sorge, das werde ich tun.«

»Und vergessen Sie Ihren morgigen Termin nicht.«

»Bis jetzt hat bei mir jeder Hexenschuss zehn Tage gedauert.«

»Papperlapapp.« Jung gibt Gas.