Kapitel 16
Als Viktoria sie darum bat, war Lisa Kesselring mit einem Treffen in Winterthur sofort einverstanden. Die Stadt Winti, wie sie von Einheimischen genannt wird, liegt im Kanton Zürich, zwischen dem Weinland im Norden und dem hügeligen Tösstal im Süden. Über 100.000 Einwohner zählt der Ort inzwischen, der zu allen Tageszeiten pulsiert und der mit seinem kulturellen Angebot seiner großen Schwester Zürich Konkurrenz macht.
Viktoria flucht über die Hitze, die über den Asphalt kriecht und sich zwischen den Häuserzeilen staut. Das schwüle Wetter hat ihr schmerzendes Knie anschwellen lassen. Das Gehupe und Gedröhne um sie herum führt ihr vor Augen, wie sehr sie sich an die Stille auf dem Land gewöhnt hat. Die Gassen sind überfüllt mit Menschen, die sich auf den Feierabend einstimmen. Jede Gaststätte kämpft um ihr Territorium, stellt nach Möglichkeit noch ein paar Tische auf die Straße.
Zur Begrüßung wird Viktoria von Lisa umarmt, die mindestens einen Kopf kleiner ist. Die mollige Frau mit dem runden, lachenden Gesicht strahlt eine überwältigende, aber sanfte Autorität aus. Viktoria lässt sich von ihr in das Restaurant Bloom lotsen, wo sie im Park unter alten Bäumen die letzten zwei Plätze ergattern. Sie versucht, den schweißüberströmten Mann neben sich zu ignorieren, der bei jedem Schluck Bier grunzt wie ein sich im Schlamm suhlendes Schwein.
»Wie in einem Backofen«, stöhnt Lisa und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »So viel geschwitzt habe ich schon lange nicht mehr. Da ist ein kühles Bier genau das Richtige.«
»Sie haben recht«, poltert der Nachbar und grunzt erneut.
Die beiden Frauen schauen sich vielsagend an.
»Wie es aussieht, lässt die Abkühlung nicht mehr lange auf sich warten«, meint Lisa. »Schau mal, wie sich die Wolken zusammenballen. Zwei Stangen bitte«, ruft sie der Bedienung nach, die geschäftig von einem Tisch zum andern eilt.
»Und eine für mich«, grölt der Tischnachbar und wischt sich mit dem Handrücken den Bierschaum von den Lippen.
Viktoria ärgert sich über die Speicheltropfen, die es zu ihr hinüberweht. Noch eine Attacke und ich beginne zu schreien, schwört sie sich.
»Iris hat mir erzählt, dass du in der Nähe von Wald wohnst?«
»Ja, im Oberholz. Mein Haus liegt allerdings etwas außerhalb des Dorfes.« In der Ferne ertönt ein Donnerschlag. Sie zuckt zusammen. »Seit ich auf dem Land wohne, fürchte ich mich vor Gewittern. Du solltest hören, wie die Dachbalken krachen, wenn es stürmt.«
»Wie im alten Haus von Rocky Docky«, bemerkt Lisa lachend.
»Ja, genau. Den Text habe ich allerdings vergessen.«
»Dieses Haus ist halb zerfallen, und es kracht und stöhnt und weint. Dieses Haus ist noch viel älter als es scheint …«, singt Lisa vergnügt.
Der Nachbar singt dröhnend und kein bisschen falsch mit.
Viktoria verdreht die Augen. Ruhig bleiben, ermahnt sie sich. Ganz ruhig bleiben.
»Die letzte Strophe ist die schönste«, schwärmt Lisa. »Dieses Haus will ich bewohnen, komm vom Wandern ich zurück, denn das Haus ist voller Wunder und voll heimlicher Musik. Alle Sterne, die dort steigen, und die Schatten am Kamin, leiten zu den Träumen meiner Jugend hin«, singt sie munter drauflos.
»Wie romantisch.«
»In der Stadt kann man sich einbunkern und so tun, als ginge einen das Wetter nichts an.«
»Wohnst du schon lange in Winterthur?«
»Ja, schon sehr lange. Ich habe aber oben im Toggenburg ein Häuschen, das ganz schön abgelegen liegt. Ich mag es, die Natur hautnah zu erleben. Ich suche diese Erfahrung besonders dann, wenn mein Kopf mich glauben lässt, dass ich alles im Griff habe.«
»Ja, wenn man sich dem Wetter aussetzt, rücken die Proportionen ins rechte Licht«, erwidert Viktoria nachdenklich. »Ich frage mich, warum Iris mir nie von dir erzählt hat?«
»Ehrlich gesagt erstaunt mich das auch«, erwidert Lisa ohne zu zögern.
»Wusstest du von mir?«
»Oh ja.« Lisa lächelt. »Iris hat deine robuste, bodenständige Art sehr bewundert.«
»Ich verstehe das einfach nicht. Ich hätte mich doch für sie gefreut.«
»Es war sicher nicht ihre Absicht, dich zu kränken.«
Vielleicht nicht, denkt Viktoria, aber es tut trotzdem weh. Fasziniert betrachtet sie Lisas spiralförmige Ohrringe, die im Licht tanzen.
»Äußere Umstände konnten unsere Iris völlig aus der Bahn werfen. Sie war für fremde Schwingungen sehr empfänglich. Ein Segen einerseits, andererseits aber auch eine emotionale Belastung.«
»Ja, sensible Menschen haben es in unserer Gesellschaft wirklich nicht einfach«, ergänzt Viktoria.
»Ich könnte mir gut vorstellen, dass es ihr in deiner Anwesenheit leichter fiel, ganz sich selbst zu sein. Bitte entschuldige, wenn ich das so offen sage, aber ich finde, dass von dir eine wohltuende Mütterlichkeit ausgeht.«
Sie lacht spöttisch. »Das liegt wohl an meiner üppigen Ausstattung.«
Der Nachbar, der andächtig mithört, nickt eifrig.
Viktoria sieht sich um. Weit und breit kein Tisch mit zwei freien Plätzen. »Iris war so anders als ich«, wendet sie sich erneut an Lisa. »Ich bin gesellig, sie war verschlossen. Sie verstand es, mich zum Nachdenken zu bringen. Und das will was heißen.« Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Sie fehlt mir so sehr.«
Ein warmes Lächeln überflutet Lisas Gesicht. »Mir auch.«
»Es ist schrecklich, sie auf diese Weise zu verlieren.«
Lisa seufzt. »Ja, du hast recht. Es tröstet mich zu glauben, dass der Tod nicht endgültig ist. Was nicht heißen will, dass ich nicht um sie trauere.«
»Verliert das menschliche Leben durch diese Betrachtungsweise nicht an Wichtigkeit?«
»Ganz im Gegenteil. Das Leben ist der wertvollste aller Schätze, schrieb ein japanischer Mönch einst an seine Schüler. Selbst die Schätze des gesamten Universums können nicht den Wert eines einzigen menschlichen Lebens erreichen.«
»Bist du Buddhistin?«
»Nein.«
Der Nachbar steht polternd auf und verabschiedet sich von den beiden Frauen.
»Gottseidank«, schnaubt Viktoria und legt ihre Handtasche auf den freien Stuhl.
Lisa schenkt ihr ein verschmitztes Lächeln. »Für mich ist mein Herz der beste Lehrer. Es liegt an mir, mein Leben sinnvoll und glücklich zu gestalten.«
Diese Frau meint, was sie sagt, geht es Viktoria durch den Kopf. »Trotzdem empfinden sich viele Menschen als Opfer einer ungerechten Welt, und ich kann es ihnen ehrlich gesagt nicht verübeln.«
»Das ist genau der springende Punkt«, ereifert sich Lisa. »Wir sind unglaublich schöpferische Wesen. Wir erleben, was wir mit unseren Gedanken erschaffen.«
»Und was ist mit all dem emotionalen Müll, mit dem ich mich tagtäglich herumschlagen muss?«
»Entsorge ihn.«
»Du machst mir vielleicht Hoffnung.«
»Du bist nicht einfach ein unbedeutend kleiner Fisch, sondern ein Teil des Ozeans.«
»Hört sich vielversprechend an.«
»Wenn wir uns unserer Macht bewusst sind, verschwindet das Gefühl, dem Leben bedingungslos ausgeliefert zu sein.«
»Wenn ich nachts in den Sternenhimmel schaue, habe ich eher das Gefühl, dass ich mich viel zu wichtig nehme. Außerdem haben wir gut reden. Uns fehlt es an nichts. Wir können uns sogar den Luxus leisten, hier im Park zu sitzen und über das Leben zu philosophieren. Aber was ist mit all den Menschen, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf, geschweige denn genug zu essen haben?«
»Jeder Mensch und jedes Land hat seine eigenen Herausforderungen, und als solche möchte ich sie auf gar keinen Fall werten. Es ist jedoch eine Tatsache, dass ich hier und nicht irgendwo in Afrika oder Indien geboren bin. So sehe ich es als große Chance, meine Glaubenssätze und Verhaltensmuster immer wieder neu zu überprüfen.«
»Stimmt. Uns Menschen hier in der Schweiz stehen wirklich viele Türen offen.«
»Deshalb glaube ich, dass wir uns auf eine menschliche Lebensweise besinnen sollten.« Lisa nimmt einen tiefen Schluck Bier, bevor sie weiterfährt: »Es ist schade, wenn wir diese Chance nicht nutzen.«
»Ich muss gestehen, dass ich mich zu den Menschen zähle, die es vorziehen, müßig in den Tag hineinzuleben und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Natürlich habe ich als Journalistin die Dinge auch hinterfragt, mich aber meistens damit begnügt, auf Probleme hinzuweisen.«
»Jeder von uns ist fähig, selbst zu entscheiden, welche Dinge im Leben wichtig sind. Dazu müssen wir aber die Muster erkennen, die wir vor uns selbst verbergen.«
»Manchmal erscheint mir alles so sinnlos. Zum Glück funktionieren meine Verdrängungsmechanismen inzwischen ganz gut.«
»Verrätst du sie mir?«
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Im schlimmsten Fall trinke ich mir einen an und nehme eine Schlaftablette. Wenn ich mich danach so richtig beschissen fühle, bekomme ich ein derart schlechtes Gewissen, dass ich alles nur Erdenkliche unternehme, um mein Leben wieder in eine sinnvolle Bahn zu lenken.«
»Solche Mechanismen sind wie Bumerange.«
»Ja, ich weiß. Aber sie helfen, den schlimmsten Moment zu überbrücken.«
»Tun sie das wirklich?«
»Muss ich dir darauf antworten?«
»Nein, musst du nicht.«
»Die Stühle sind besetzt«, erwidert Viktoria unfreundlich, als sich zwei schlaksige Männer, mit bis auf die Schamhaare heruntergerutschten Hosen, setzen wollen.
»Wir bleiben nur für ein Bier«, bellt der eine.
Viktoria nimmt ihre Tasche weg und schenkt den jungen Männern mit den In-Ear-Kopfhörern einen giftigen Blick. Sie gibt ihnen mit einer Geste zu verstehen, dass die Musik zu laut ist, und sagt zu Lisa: »Bitte entschuldige, ich möchte dir auf gar keinen Fall den Tag vermiesen, nur weil der meine bereits ruiniert ist. Seit Iris’ Tod läuft alles aus dem Ruder.«
Lisa nickt verständnisvoll.
»In meinem Freundeskreis kriselt es, wohin ich schaue. Viele meiner Bekannten sind wie ich die reinsten Verdrängungsmaschinen. Hinzu kommt, dass wir unseren Jungendbonus verspielt haben, was die Sache noch schlimmer macht.« Schweißperlen bilden sich auf ihrer Oberlippe. Sie tupft sie nervös mit einem Taschentuch ab. »Das Leben ist wirklich kein Schleck. Kaum habe ich ein Problem bewältigt, schiebt sich ein neues nach. Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir Menschen keine andere Wahl haben, als unser Schicksal zu erdulden.«
»Ich glaube nicht, dass wir unserem Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind«, entgegnet Lisa nachdenklich. »Mir scheint, dass ein wichtiger Grund für unsere Probleme der Glaube ist, dass wir Wesen voneinander getrennt sind. Hinzu kommt, dass unsere Überflussgesellschaft das Gefühl der Isolation noch verstärkt, indem sie den Individualismus fördert.«
Viktoria sinnt Lisas Worten nach. »Da ist was dran. Die Frage ist, habe ich Probleme, weil ich mich mutterseelenallein fühle oder habe ich Probleme, weil ich die Einsamkeit als unausweichliche Tatsache ansehe.«
»Was glaubst du?«
»Wir werden allein geboren, und wir müssen allein sterben. So einfach ist das.« Sie streicht sich ungeduldig eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht.
»Glaubst du nicht auch, dass ein Mensch, der sich mit allen anderen Wesen verbunden fühlt, leichter kommt und leichter geht?«
»Möglich.«
»Um noch einmal auf die Ursache unserer Probleme zurückzukommen. Was, wenn wir uns tatsächlich vor Abermillionen von Jahren von der Urquelle getrennt haben?«
»Aber warum sollten wir so blöd sein? Ist es nicht so, dass an der Quelle der Durst am schnellsten gestillt wird?«
»Vielleicht wollte unsere Seele neue Erfahrungen sammeln?«
»Klingt durchaus plausibel, sofern es so etwas wie eine unsterbliche Seele gibt.«
Lisa nickt bedächtig.
»In diesem Fall haben wir uns aber eine Menge Probleme eingehandelt.«
»Ja, das haben wir.«
»Und jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als die Folgen dieses Fehlentscheids auszubaden.«
»Warte, es kommt noch besser. Durch die Trennung erschuf unser Geist die Polarität und damit einen Dauerzustand des Sich-getrennt-Fühlens.«
»Sag mal, willst du mir den Abend noch ganz verderben?«
»Ganz im Gegenteil, ich möchte dir Mut machen«, erwidert Lisa verschmitzt.
»Mut machen nennst du das?«
»Wo ist deiner Meinung nach die Polarität am offensichtlichsten?«, fährt Lisa unbeirrt fort.
»Ich würde sagen: in der Materie.«
»Genau. Wahrscheinlich war die Verkörperung eine logische Folge der Trennung.«
»Und jetzt muss ich mich tagtäglich mit einem übergewichtigen Körper abrackern, dem die Schwerkraft immer mehr zu schaffen macht. Ganz zu schweigen von allen anderen körperlichen Strapazen.«
»Ich glaube, in der Verkörperung liegt nicht das Hauptproblem.«
»Wo dann?«
»Wie hast du dich gefühlt, als du damals von deinen Eltern fortgegangen bist?«
Viktoria runzelt die Stirn. »Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.«
»Versuche dir nun vorzustellen, wie du dich gefühlt haben magst, als du dich von der Urquelle getrennt hast.«
»Nein, das werde ich mir ganz sicher nicht antun.«
»Warte, Viktoria, ich bin noch nicht ganz fertig. Könnte diese Trennung nicht eine gefährliche Emotion ins Leben gerufen haben?«
»Ich ahne, worauf du hinauswillst. Ich habe mich auch schuldig gefühlt, als ich meine Eltern verlassen habe, obwohl ich sie unbedingt verlassen wollte.«
»Deshalb glaube ich, dass all unsere Ängste und Zweifel letztendlich die Folgen dieses einen großen Schuldgefühls sind.«
»Willst du damit sagen, dass wir uns deshalb dauernd schuldig fühlen, weil wir uns selbst aus dem Paradies verstoßen haben?«
»Ergibt diese Erklärung nicht irgendwie Sinn?«
»Schon, aber …«
»Die Frage ist, wie finden wir zur Urquelle zurück?« Lisa kommt immer mehr in Fahrt. »Ich bin sicher, dass tief in uns drin das Gefühl der Einheit überlebt hat. Zu diesem Gefühl müssen wir vorstoßen, und das können wir nur, wenn wir uns mit unseren Problemen auseinandersetzen. Denn solange dieses Gefühl der Trennung in uns existiert, werden wir außerhalb vergebens nach Verbundenheit suchen.«
»Was du sagst, mag stimmen, aber es ist definitiv bequemer, sich mit einem Problem abzufinden, als es ergründen zu wollen.«
»Probleme zeigen, wie wir uns selbst sehen und bewerten.«
»Willst du damit andeuten, dass ich mir all meine Probleme selbst erschaffe?«
»Ich befürchte, ja.«
»Darauf brauche ich jetzt schleunigst ein Bier.« Erfreut stellt sie fest, dass die jungen Männer verschwunden sind.
Lisa ignoriert ihren Hilferuf. »Da deine Wahrnehmung zugleich Projektion ist, hast du es in der Hand, deine Perspektive jederzeit zu verändern.«
Wie Lisa weitersprechen will, ruft Viktoria: »Stopp! Mehr verkrafte ich für heute nicht.«
Lisa gibt ihr ein Zeichen der Kapitulation. »Entschuldige, ich wollte dich mit meinem philosophischen Exkurs nicht in die Enge treiben.« Sie winkt die Bedienung herbei und bestellt zwei weitere Stangen.
Viktoria zeigt auf ihr Dekolleté, wo ein Bächlein sich im Tal seinen Weg sucht. »Verstehe mich richtig, was du sagst, klingt durchaus plausibel. Manchmal habe auch ich meine lichten Momente, doch heute habe ich nur Watte im Kopf.«
»Verständlich bei dieser Hitze.«
»Mir scheint, dass wir ganz schön vom Thema abgekommen sind.«
»Du hast recht. Was möchtest du gern über Iris wissen?«
»Was hat dich mit ihr verbunden?«
»Die Liebe zur Natur. Man könnte wohl sagen, dass wir uns gegenseitig inspiriert haben. Ich konnte ihr Verständnis für die Natur fördern. Sie hat mich gelehrt, passiv und empfänglich zu sein.«
»Hast du gewusst, dass Kuno seiner Frau das Leben schwer gemacht hat, weil sie mit uns befreundet war?« Sie erzählt von den beiden Treffen mit Iris’ Mann.
»Nein, aber unsere Iris war bestimmt auch keine einfache Lebenspartnerin«, gibt Lisa zu bedenken.
»Auf jeden Fall hat sie dazu geneigt, ihre Probleme zu verdrängen.«
»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass dieser Kuno ein schlechter Ehemann war.«
»Für mich ist er ein arrogantes Arschloch.« Erregt wirft Viktoria ihr Haar zurück.
»Ich könnte mir vorstellen, dass es zwischen den beiden am Anfang ganz gut geklappt hat. Iris sehnte sich nach einem starken Mann, und er sehnte sich nach einem weiblichen Wesen, das er umsorgen und beschützen konnte.«
»Möglich, auf jeden Fall mag Kuno keine starken Frauen.«
»Viele Männer leiden, wenn sie ihre Frauen nicht zufriedenstellen können.«
»Du scheinst dich mit Männern ja ganz gut auszukennen?«
»Da täuschst du dich, meine Liebe. Ich war 30 Jahre lang mit demselben Mann verheiratet. Nicht eine einzige Liebschaft, mit der ich hier auftrumpfen könnte.«
»Ist dein Mann gestorben?«
»Nein, soviel ich weiß, ist er quicklebendig.«
»Er hat dich wegen einer anderen verlassen?«
»So ist es. Sie könnte altersmäßig seine Tochter sein, aber das scheint ihn nicht zu stören.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch. Aber ich kann inzwischen ganz gut damit leben. Die Trennung hat mich wieder auf mich selbst zurückgeworfen. Und das ist gut so. Abgesehen davon, genieße ich es, niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen. Manchmal war mein Exmann ein richtiger Bremsklotz. Aber wir sind heute nicht hier, um über mein Liebesleben zu sprechen.«
»Ich finde, dass die Brunners ganz einfach nicht zusammengepasst haben«, kommt Viktoria auf das Thema zurück. »Es würde mich auf jeden Fall nicht wundern, wenn er seine Frau im Affekt getötet hätte.«
»Das glaube ich nicht.«
»Aber jemand muss es gewesen sein, und ich will wissen, wer es war«, erwidert Viktoria trotzig.
»Und was dann?«
»Wenn du es genau wissen willst, ich sehne mich mit jeder Faser meines Körpers nach Rache.«
»Hilft dir die Wut, deine Trauer zu ertragen?«
»Kann sein. Auf jeden Fall fühle ich mich im Moment besser, wenn ich zornig bin.«
»Ruf mich an, falls du dich aussprechen willst.«
»Danke, Lisa, das werde ich tun. Sag mal, kennst du Manuel Vinzens schon länger?«
»Etwas über zwei Jahre. Er hat an einem meiner Seminare teilgenommen.«
»Siehst du, auch das habe ich nicht gewusst.«
»Ist auch nicht weiter wichtig. Findest du nicht, dass Manuel und Iris sich in mancher Hinsicht ähnlich waren?«
»Ja, das stimmt. Er leidet sehr, will aber keine Hilfe.«
»Viele Männer erfahren Heilung, wenn sie sich zurückziehen. Mach dir keine Sorgen, in der Natur wird er wieder zu sich finden.«
»Iris war in der Natur immer so unbeschwert«, erwidert Viktoria traurig. »Wie schrecklich, dass sie ausgerechnet im Mondmilchgubel sterben musste.«
Die beiden Frauen schauen sich an, jede berührt von der Trauer der anderen.
Nach einer längeren Pause merkt Lisa an, sie habe im Frühling im Mondmilchgubel ein Erdbewusstseinsritual durchgeführt habe.
»Auch das hat Iris mir verschwiegen.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Du weißt ja, wie eigenwillig unsere Iris sein konnte.«
»Vielleicht wollte sie sich ganz einfach nicht meinen Zweifeln aussetzen?«
»Ja, vielleicht.«
»Iris hat mir die Natur nähergebracht. Trotzdem konnte ich im feinstofflichen Bereich vieles nicht nachvollziehen. Sie sprach von den Naturwesen, als könne sie jedermann sehen. Ich bin mir manchmal ganz schön dämlich vorgekommen. Kannst du mir sagen, weshalb nicht alle Menschen hellsichtig sind?«
»Eine gute Frage. Es wird allgemein angenommen, dass die Fähigkeit des Hellsehens beim gewöhnlichen Menschen zwischen der Jungsteinzeit und der Antike erlosch. Je mehr sich die Ausbildung des verstandesmäßigen Denkens verstärkte, desto mehr nahm die hellseherische Fähigkeit ab.«
»Oh je, dann muss ich mich wohl oder übel damit abfinden, nicht zu den Auserwählten zu gehören.«
»Versuche, deinen Eingebungen zu vertrauen. Du bist übrigens jederzeit in meinen Erdbewusstseinsseminaren willkommen, falls du Lust hast, mehr über die Natur zu erfahren. Leider wissen viele Menschen nicht, dass sie aus derselben Materie bestehen wie die Erde.«
»Bloß erneuert sich die Natur laufend, während ich täglich mit ansehen muss, wie mein Körper altert.«
»So schlecht ist der deine doch gar nicht.«
»Das sagst du.«
»Ein guter Wein reift langsam.«
Viktoria verdreht die Augen. »Alt zu werden ist schlicht und einfach unerträglich.« Sie hört ihr Handy surren. Fluchend durchwühlt sie ihre Handtasche.
Lisa zeigt auf das Bierglas.
Viktoria greift nach dem Gerät und schnaubt: »Eine richtig miese Erfindung. – Was, Sie schon wieder! Ich kann nicht einmal in Ruhe mein Bier trinken.«
»So schön möchte ich es auch haben«, ertönt es am anderen Ende. »Haben Sie den jungen Honegger besucht?«
Sie bejaht, erwähnt auch Kunos Besuch. Da Möller wie immer in Eile ist, lässt sie sich nicht über Details aus. Sie wendet sich wieder Lisa zu. »Das war der Mann von der Kripo.«
»Ich erinnere mich. Ein netter Kerl.«
»Stur und hartnäckig«, gibt Viktoria zurück. »Entschuldige, wenn ich das Thema wechsle, aber sagt dir der Name Bruno Edelmann etwas?«
»Ja, sicher. Er hat kürzlich an einem meiner Seminare teilgenommen.«
»Tatsächlich?«
»Es könnte im Frühling gewesen sein. Warte, ich schaue in meiner Agenda nach. Ja, es war Ende April.«
»Hat Iris ihn angeschleppt?«
»Ja. Er zeigte reges Interesse für das Thema Naturheilung.«
»Hat Iris dir erzählt, dass sie von ihm belästigt wurde?«
»Ja, allerdings hat sie es etwas anders ausgedrückt.«
»Darf ich fragen, wozu du ihr geraten hast?«
»Ich habe ihr geraten, davon abzusehen, ihn retten zu wollen.«
»Und, hat sie deinen Rat befolgt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich verstehe nicht, warum sie ihn zu diesem Seminar mitgenommen hat. Damit hat sie seine Hoffnungen auf eine Beziehung mit ihr doch noch mehr geschürt.«
»Da stimme ich dir zu. Der Mann schien völlig vernarrt in sie zu sein.«
»Könntest du dir vorstellen, dass er Iris ermordet hat?«
Lisa zieht ratlos ihre Schultern hoch.
»Warum hat Iris ihn nicht angezeigt?«
»Wir dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass sie ihn gemocht hat. Zumindest hat er ihr leid getan.«
»Mein Gott, wie konnte sie so naiv sein. Die Polizei glaubt übrigens, dass Kari Honegger der Täter ist.«
»Der Mann mit den Eiern?«
»Ja.«
»Und was denkst du?«
Sie erzählt von Iris’ Brief.
»Verstehe. Bei einer solchen Tragödie spielen viele Faktoren eine Rolle. Ablehnung kann in Hass umschlagen und die Liebe völlig verdrängen.«
»Ja, wenn alle Sicherungen gleichzeitig durchbrennen. Was dann?«