Kapitel 19

Viktoria startet den Tag mit einer halben Stunde auf dem Hometrainer. Als die Zeit um ist, ist sie durchgeschwitzt. Nachdem sie die in ihrer Mailbox angehäuften E-Mails beantwortet hat, arbeitet sie an ihrem Buch weiter. Diesmal bleibt sie unbeirrt bei der Sache. Auch früher hat sie bei Regenwetter immer gern gearbeitet. Sie ist versucht, ihren Verleger anzurufen und ihm das Manuskript auf Ende Juli zu versprechen. Der Zeitdruck würde sie zur Arbeit zwingen und sie auf andere Gedanken bringen. Vielleicht würde sie anschließend für eine Woche nach Rügen fahren und sich dort in einem alten Ostseebad einquartieren. Die Meeresluft würde ihr guttun. Sie mag dieses kleine Ostseeparadies, wo sich auf kleinstem Raum feine Sandstrände, weiße Klippen und urwüchsige Moore abwechseln. Sie denkt an die glitzernden Seen, die grünen Wiesen und die schattigen Wälder. Auch spricht für die Insel, dass sie keine alten Erinnerungen heraufbeschwört. Mit Lucien ist sie immer in den Süden gefahren. Der Gedanke an Rügen erfüllt sie mit Zuversicht. Erst als sie drei Kolumnen überarbeitet hat, legt sie eine Pause ein. Sie wählt zuerst die Nummer ihres Reisebüros, dann die ihres Vaters. Sie ist erleichtert zu hören, dass es ihm besser geht. Ein Glück, dass es immer noch regnet, denkt sie. So kommt er nicht in Versuchung, sich an den Teich zu setzen. Kaum hat sie aufgelegt, ruft Raul an. Es ist Zeit, mit ihm Schluss zu machen.

Seit Luciens Tod hat sie mit ein paar Männern geschlafen, sich aber nie wirklich auf sie eingelassen. Auch ist es keinem Mann gelungen, in den Bereich vorzudringen, der Hingabe und Vertrautheit voraussetzt. In ihrem Herzen ist sie Lucien treu geblieben. Möller gefällt ihr, nicht nur äußerlich. Er erinnert sie an Lucien, obwohl sich die beiden nicht ähnlich sehen. Seine Blicke signalisieren, dass sich hinter seiner Zurückhaltung ein leidenschaftlicher Mann verbirgt. Es reizt sie, diese Leidenschaftlichkeit zu ergründen. Ob er sich wohl deshalb so reserviert gibt, weil er in festen Händen ist? Er trägt zwar keinen Ring, doch das hat heutzutage nichts zu bedeuten.

Als Viktoria es sich Stunden später mit einem Espresso auf dem Sessel gemütlich macht, fällt ihr Blick auf das Buch, das Iris ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Plötzlich verspürt sie ein inniges Bedürfnis, ihr nahe zu sein, sich mit ihrem Tod zu versöhnen. Sie macht sich auf den Weg zur Dorfkappelle. Es ist kühl geworden. Hoffentlich nicht der Beginn eines verregneten Sommers.

Freiwillige Fronarbeit und private Geld- und Naturalstiftungen ermöglichten vor 300 Jahren den Bau dieser Kapelle. Sie setzt sich auf die vorderste Bank. Die schlichte Ausstattung macht die im ländlichen Barockstil erbaute Kapelle zu einem Ort des Rückzugs. Sie sehnt sich danach, in die Stille einzutauchen und sich von ihr durchdringen zu lassen. Menschen mit einem unerschütterlichen Glauben haben es einfacher, denkt sie. Ihr Blick schweift zur Statue der seligen Betha, auf der rechten Seite des Chorbogens. Im 18. Jahrhundert verehrten viele fromme Menschen diese Frau. Vor allem die Armen suchten bei ihr Rat, weil die Klosterfrau auf allen Reichtum verzichtet und sich ganz der Lehre Christi hingegeben hatte. Wie gut konnte sie verstehen, dass für die einfachen Bauern, die von Viehzucht, Milchwirtschaft und Holzproduktion lebten, die Verehrung der ›guten Betha‹ näher lag als die der Heiligen Dreifaltigkeit, der zu Ehren die Kapelle geweiht worden war. Sie schließt die Augen, doch die Gedanken wollen nicht verstummen. Statt der erhofften Versöhnung, meldet sich ihr Groll zurück. Enttäuscht verlässt sie die Kapelle, die Iris einst so viel bedeutet hat.

 

Vinzens reicht Viktoria eine Schuhschachtel. Er ist blass. Die dunklen Augenringe sagen alles.

»Hier. Ich mag die Briefe nicht kopieren. Lies sie, aber behalte den Inhalt für dich. Was zwischen Iris und mir war, geht niemanden etwas an.«

»Danke, Manuel. Ich habe so schnell nicht wieder mit Dir gerechnet.«

»Ich habe den Regen nicht mehr ausgehalten.« Er hustet. »In einer Stunde erwartet mich bereits mein erster Klient.«

Sie ist erleichtert, verkneift sich jedoch weitere Fragen.

»Bitte sei mir nicht böse, aber ich muss los.«

»Warte, ich hole die Schachtel mit deinen Briefen.«

 

Wenige Stunden später hat die Sonne den Nebel aufgeleckt. Viktoria geht hinaus in den Kräutergarten und pflückt ein paar Minzeblätter. Sie sieht, wie Sphinx abgesehen von seiner zuckenden Schwanzspitze regungslos unter dem Apfelbaum lauert. Der alte Herr kann das Jagen nicht lassen, denkt sie kopfschüttelnd. Wieder im Haus brüht sie eine Kanne mit Grüntee auf und gibt die Minze dazu. Sie öffnet die Schuhschachtel.

 

Mein Mann bemüht sich um mich, obwohl ich das nicht will. Es widert mich an, wenn er mich berührt. Manchmal ist er so frustriert, dass er mich anschreit. Es wäre mir lieber, wenn er sich danach nicht entschuldigen würde. Ich schäme mich, weil ich nicht den Mut aufbringe, ihm die Wahrheit zu sagen. Ich muss ständig an dich denken. Ich fühle mich so schuldig. Ach, wäre doch endlich alles vorbei.

 

Viktoria fragt sich, ob Kuno seiner Frau wohl je gedroht, sie sogar geschlagen hat. Nichts in Iris’ Briefen weist darauf hin. Auch das Wort Eifersucht kommt nicht vor. Dass Iris ihrem Mann wenige Stunden vor ihrem Tod die Wahrheit sagte, war ein ausgesprochen mutiger Schritt.

 

Heute hat mir Bruno schon wieder aufgelauert und ist mir durchs Sagenraintobel gefolgt. Er will einfach nicht begreifen, dass ich nichts für ihn empfinde. Ich mache mir Sorgen, dass mein Mann ihm auf die Schliche kommt. Viktoria will, dass ich gegen ihn Anzeige erstatte …

 

Viele ähnliche Briefe folgen. Es ist offensichtlich, dass Edelmann Iris nicht aus den Augen gelassen hat, dass er ihr zu den unmöglichsten Zeiten aufgelauert und sie belästigt hat. Als der Postbote klingelt und ihr einen Brief überreicht, ist Viktoria überzeugt, dass Edelmann der Täter ist. Sie überfliegt das Schreiben. Kuno bittet sie, Iris’ Lebenslauf zu ergänzen.

 

Ich muss immer an gestern denken. Wenn du mich liebst, vergesse ich all meine Sorgen. Wenn ich in deinen Armen liege, habe ich das Gefühl, dass ich dich schon ewig kenne. Ich kann es kaum erwarten, zu dir nach Rüti zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen.

 

Diese Zeilen hatte Iris vor drei Monaten geschrieben.

 

Gestern war ich mit Lisa im Neeracher Ried. Hast du gewusst, dass dieses Ried eines der letzten großen Flachmoore in der Schweiz ist? Im Naturschutzzentrum haben wir mit unseren Feldstechern die Vögel beobachtet. Stell dir vor, ich habe sogar einen Eisvogel gesehen. Man sagt, dass das Weibchen beim Tod des Männchens einen Trauergesang anstimmt. Ich könnte nicht weinen, wenn mein Mann stirbt. Ist das nicht schrecklich?

 

Sie legt die Briefe in die Schuhschachtel zurück. Ernüchtert stellt sie fest, dass sie nichts gefunden hat, was ihr weiterhilft. Nach einer weiteren Tasse Tee nimmt sie sich Iris’ Lebenslauf vor. Es passt zu Kuno, dass der Text knapp und förmlich gehalten ist. Was soll sie schreiben? Sie bemüht sich vergebens, Iris’ Bild heraufzubeschwören. Gedankenverloren streichelt sie Sphinx, worauf dieser zu schnurren beginnt.

Iris hat die Natur geliebt und sich mit der Flora und Fauna gut ausgekannt. Das soll auch die Trauergemeinde wissen. Sie beginnt zu schreiben. Ebenso dass es eine von Iris’ Lieblingsbeschäftigungen gewesen ist, die Natur durch ihren Feldstecher zu beobachten. Sie endet mit dem Satz, dass Iris ihren Freunden und Bekannten durch ihre feinfühlige, achtsame Art unvergesslich bleiben wird. Ohne Kommentar legt sie einen Ausschnitt aus dem Requiem von Kaschnitz bei. Soll Kuno damit machen, was er will. Iris hätten diese Zeilen auf jeden Fall gefallen.