Kapitel 25
Der Tag beginnt mit viel Sonnenschein. Doch wie eine Woche zuvor sind auf den Nachmittag heftige Gewitter angesagt. Viktoria betrachtet den Dunst über dem Tal. Sie nützt die kühlen Morgenstunden, um an ihrem Buch zu arbeiten. Diesmal nimmt sie sich dafür die Kolumne über Intersexualität vor. Damals sorgte dieser Artikel für viel Aufregung und Ärger, weil sie dafür eintrat, ein drittes Geschlecht, namentlich weiblich-männlich, zu institutionalisieren. Die Hypothese, dass eine strikte Aufteilung aller Menschen in zwei Geschlechter den natürlichen Gegebenheiten nicht gerecht wird, war damals noch ein großes Tabu. Sie denkt an ihre intersexuelle Freundin Alex, die sie während ihren Recherchen kennengelernt hat. Wenn das hier vorbei ist, überlegt sie, werde ich sie für ein Wochenende ins Oberholz einladen.
Sie bereut, dem Verlag eine feste Zusage gemacht zu haben. Wer würde ihre alten Kolumnen denn schon lesen wollen. Ein lähmendes Gefühl der Unlust überkommt sie. Eine Woche ist seit Iris’ Tod vergangen und noch immer ist unklar, wer sie aus dem Leben gewürgt hat. Wie lange wird es dauern, bis ihre Trauer abklingt und sie in ihr normales Leben zurückfindet? Gibt es dieses sorgsam zurechtgelegte Leben überhaupt noch? Verbirgt sich hinter ihrer Trauer nicht vielleicht noch etwas viel Schlimmeres?
Zeit für eine Pause. Sie schnappt sich ein Buch und setzt sich damit unter die mit Wildreben überwachsene Pergola. Grübelnd blickt sie in die Ferne. Die Idee mit dem Kriminalroman ist plötzlich da. Sie sieht den Plot vor sich. Wirklichkeit und Fiktion vermischen sich. Auch Valentin Möller passt in ihr Konzept. Sie beginnt Notizen zu machen. Ihre Gedanken überschlagen sich. Sie vergisst ihre Kolumnen. Sie vergisst die Zeit.
Wie sie das Heimetli erreicht, ist sie in Schweiß gebadet. Sie hält vergebens Ausschau nach Möllers Auto. Er möchte sie bei seinem zweiten Gespräch mit dem Eierkari dabeihaben. Es ist das erste Mal, dass er sie um Hilfe bittet. Auch Kari ist nirgendwo zu sehen. Sie steigt hinunter zu den Hühnerställen und gesellt sich zum Schutzpolizisten, der ihr wortlos zunickt. Kari steht mitten in der Hühnerschar. Sie sieht, wie er ein Huhn anpeilt und es an den Beinen hochhebt. Dann legt er es auf den Holzbock und greift nach dem Beil. Sie sieht das Spritzen des Blutes. Er nimmt das Huhn und streicht ihm zärtlich über das Gefieder, bevor er es zu rupfen beginnt. Wenn ich jetzt bloß eine Zigarette hätte, denkt sie verzweifelt, obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr raucht. Sie stößt die angehaltene Luft aus. Der Schutzpolizist steht regungslos da. Sicher hat der schon Schlimmeres gesehen als ein Huhn, das kopflos durch die Gegend rennt. Kari ein Mörder? Auf zittrigen Beinen steigt sie zum Haus zurück. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Es fröstelt sie.
»Sie sehen heute aber blass aus«, wird sie von Möller begrüßt, der neben dem alten Honegger steht.
Sie riecht ihre eigene Ausdünstung. Kein gutes Zeichen.
»Mein Bub schlachtet Suppenhühner«, mischt der alte Mann sich ein. »Es hat ein paar Bestellungen gegeben.«
Sie fordert Möller auf, sich selbst davon zu überzeugen.
»Ich gehe davon aus, dass Sie in Zukunft keine gebratenen Hähnchen mehr essen.«
Sie schneidet eine Grimasse. »Wie ich sehe, haben Sie keine Rückenschmerzen mehr.«
Er vollführt ein paar Dehnübungen. »Dieser Vinzens ist wirklich gut. Ich habe heute noch keine einzige Tablette geschluckt.« Zum alten Mann: »Die Hexenschüsse haben es in sich.«
»Damit fängt es an. Dann kommt die Arthritis.« Der Alte zeigt Möller seine geschwollenen Fingergelenke. »Aber was soll man machen? Man kann ja nicht den ganzen Tag herumhocken.«
»Da haben Sie recht«, pflichtet ihm Möller bei.
»Nichtsnutze gibt es mehr als genug«, seufzt der alte Mann. »Machen Sie meinem Bub keine Angst. Er hat weiß Gott schon genug durchgemacht.«
»So leid es mir tut, Herr Honegger, aber Ihr Sohn wird seine Aussage später noch zu Protokoll geben müssen.«
»Muss das wirklich sein?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde ihn nicht unnötig aufregen.«
»Haben Sie Söhne?«
»Leider nein.«
»Ein Vater sorgt sich so lange um seine Kinder, bis er unter der Erde ist.«
»Verstehe.«
Kari kommt ihnen freudestrahlend entgegen. In beiden Händen baumelt ein geschlachtetes Huhn. Er streckt seinem Vater die Tiere entgegen. »Die sind beide für Frau Hungerbühler. Frau Vontobel und Frau Mikovic haben ebenfalls ein Suppenhuhn bestellt. Die schlachte ich am Nachmittag nach meinem Mittagsschlaf.« Er schaut Möller verschmitzt an.
»Gut so.« Der alte Mann klopft seinem Sohn aufmunternd auf die Schultern.
»Ich sehe, Sie haben viel zu tun, Kari«, mischt sich Möller ein.
»Sage ich doch.«
»Keine Schmerzen mehr in der Schulter?«
»Doch, ein bisschen.«
»Ich bin gekommen, um noch einmal mit Ihnen zu reden.«
Kari zuckt zusammen.
»Gehen Sie in die Stube. Dort können Sie sich ungestört unterhalten. Ich muss jetzt in den Garten, sonst hat mein Klärli keine Freude.« Der alte Mann wischt sich mit dem Handrücken über die zerfurchte Stirn. »In einer knappen Stunde wird bei uns gegessen. Mein Bub muss was Anständiges in den Magen bekommen, damit er wieder ganz gesund wird.« Zu seinem Sohn: »Heute kocht deine Tante Rösti und Gschnetzlets.«
Karis Augen leuchten auf. »Das mag ich sehr.« Er reibt sich den Bauch.
Möller schiebt Kari Richtung Hauseingang. »Lassen Sie uns jetzt in Ihre Stube gehen.«
Ein grüner Kachelofen dominiert das dunkel getäferte Zimmer mit der niedrigen Decke. Büfett, Divan, Tisch und Stühle. Das Übliche, außer dem Schaukelstuhl. Auf dem Tisch stapeln sich Hefte und Zeitungen. An der Wand tickt eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. Der Spannteppich ist abgetreten und voller Rußflecken. Ein düsterer, aber nicht ungemütlicher Raum, findet Viktoria und nimmt am Tisch gegenüber von Möller Platz. Kari setzt sich auf den Schaukelstuhl und fängt an zu wippen.
»Wir müssen noch einmal auf den Tag zurückkommen, wo Sie Iris Brunner im Mondmilchgubel gefunden haben.« Möller drückt auf die Taste seines Aufnahmegerätes.
Kari lässt ihn nicht aus den Augen.
»Solange der Täter frei herumläuft, sind Sie in Gefahr. Verstehen Sie?«
Er nickt.
»Sobald wir den Mann gefasst haben, sind Sie sicher.«
Kari kratzt sich nervös am Kopf.
»Haben Sie immer noch Angst?«
Er nickt, diesmal heftiger.
»Das kann ich verstehen«, erwidert Möller mit ernster Stimme. »Sobald Sie mir die Wahrheit gesagt haben, brauchen Sie keine Angst mehr zu haben. Vertrauen Sie mir?«
Ein zaghaftes Nicken.
»Gut, so schildern Sie mir jetzt, was vor einer Woche genau geschehen ist.«
Sie sieht, wie Kari zu ihr hinüberlinst. Sie lächelt ihm ermutigend zu. »Du kannst Herrn Möller vertrauen. Er ist hier, um dir zu helfen.«
Kari hört auf zu schaukeln, was Möller mit einem dankbaren Blick quittiert.
»Ich habe Iris die Eier gebracht und mit ihr Kuchen gegessen. Sie hat mich gefragt, ob ich später mit ihr die Quellenfrau besuchen möchte.«
»Die Quellenfrau?«, fragt Möller nach.
»Ja, die Frau, welche die Quelle hütet«, erklärt Kari. »Sie ist wunderschön.«
»Ach so. Und wo ist diese Quelle?«
»Im Mondmilchgubel. Ich kenne diesen Ort gut, weil ich früher immer mit meiner Mutter dorthin gegangen bin.«
»Wusste Iris von dieser Höhle durch dich?«, mischt sich Viktoria ein.
Kari nickt stolz. »Ohne mich hätte sie die Quellenfrau nie gefunden.«
»Sie sind also auf Ihrem Mofa von der Wolfsgrueb aus bis zu der Stelle gefahren, wo der kleine Pfad vom Wanderweg abbiegt?«, übernimmt Möller das Wort.
»Ja. Von dort muss ich immer zu Fuß gehen, weil der Weg zu schmal ist.« Er starrt auf seine Finger, die sich unaufhörlich beugen und strecken.
»Und weiter?«
Er zögert, fängt erneut an zu schaukeln.
»Dann habe ich sie gesehen.«
»Iris Brunner?«
Er nickt.
»Wo genau haben Sie sie gesehen?«
»Unten am Wasserfall.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Ich bin das Bord hinuntergerutscht.«
»War sonst noch jemand in der Höhle, als Sie dort ankamen?«
Er schüttelt heftig den Kopf.
»Hat sich Iris Brunner noch bewegt, als Sie sich ihr genähert haben?«
Er schaukelt wilder.
Viktoria zuckt erschreckt zusammen. Bitte nicht, betet sie, bitte nicht.
»Was genau haben Sie dann getan, Kari?« Möllers Stimme verrät Ungeduld.
»Das sage ich nicht«, antwortet er trotzig.
»Bringen Sie es hinter sich. Danach werden Sie sich besser fühlen.«
»Ich habe sie umgestoßen«, schreit er und springt aus seinem Schaukelstuhl. Der Stuhl wippt weiter. »Ich muss jetzt auftischen gehen.«
»Bleiben Sie hier!«, fährt ihn Möller streng an.
Kari bleibt erschrocken stehen.
»Schauen Sie mich an.«
Er gehorcht, wenn auch widerwillig.
»Warum haben Sie Iris umgestoßen?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Setzen Sie sich.« Möller zieht einen Stuhl zu sich heran und zeigt darauf. »Bitte.«
Viktoria spürt, dass es Zeit ist, sich ins Gespräch einzumischen. »Kari, warum lügst du?«
»Mein Cousin sagt, dass ich spinne und manchmal Dinge tue, an die ich mich danach nicht mehr erinnern kann.«
»Hast du Iris gern gehabt?«, fragt sie ihn sanft.
Er fängt an zu schluchzen.
»Iris hat dich auch lieb gehabt.«
Er presst die Handballen an die Schläfen und schnieft.
»Kari, bitte sagen Sie mir, wer Ihre Freundin getötet hat«, drängt Möller.
»Ich weiß es nicht. Ich habe Hunger. Ich muss jetzt gehen.« Er springt so heftig auf, dass der Stuhl umkippt.
Möller springt ebenfalls auf. »Kari, solange Sie uns nicht die Wahrheit sagen, sind Sie und vielleicht auch Ihr Vater in großer Gefahr. Wollen Sie das?«
»Nein!« Kari stampft auf den Boden.
»Vor ein paar Tagen hat der Mann, dessen Namen Sie mir nicht verraten wollen, versucht, Sie zu töten«, setzt Möller erneut an. »Beinahe wäre es ihm gelungen. Er wird es wieder versuchen, auch wenn Sie ihn nicht verraten. Er will auf Nummer sicher gehen, verstehen Sie.«
»Komm, Kari, setz dich neben mich. Hast du verstanden, was Herr Möller gesagt hat?«
»Er wird mich töten, auch wenn ich ihn nicht verrate.«
»Genau. Damit Herr Möller dich beschützen kann, muss er wissen, wer es getan hat.«
Er starrt den Polizisten unverwandt an. Allmählich verändert sich sein Gesichtsausdruck. »Werden Sie ihn einsperren, wenn ich es Ihnen sage?«
»Mein großes Ehrenwort.«
»Muss ich ins Gefängnis, wenn ich es nicht sage?«
»Gut möglich.«
»Und was wird dann aus meinen Hühnern?«
»Die können Sie nicht mitnehmen.«
»Kari, denk an deinen Vater. Es würde ihm sein Herz brechen«, wirft Viktoria dazwischen.
»Ich will nicht sterben, aber meine Hühner will ich auch nicht verlieren«, jammert er.
Sie hält ihn so lange fest, bis er sich beruhigt hat. Dann reicht sie ihm ein Papiertaschentuch. »Manchmal tut es gut, zu weinen, nicht wahr?« Er schnäuzt sich die Nase. »Du sagst uns jetzt, was du gesehen hast, dann kannst du deine Rösti essen gehen, während Herr Möller den Täter festnimmt. In Ordnung?«
Karis Widerstand schmilzt dahin. »Iris lag am Boden. Neben ihr stand ein Mann. Als er mich sah, ist er weggerannt.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Ich bin den Hang hinuntergestiegen. Ich habe sofort gesehen, dass sie tot ist, weil meine Mutter auch so ausgesehen hat. Ich habe sie geschüttelt, aber es hat nichts genützt. Dann habe ich laut um Hilfe gerufen, danach kann ich mich an nichts mehr erinnern.«
»Haben Sie gesehen, wie dieser Mann ihre Freundin getötet hat?«, übernimmt Möller.
»Nein. Er stand einfach nur neben ihr.«
»War sonst noch jemand in der Höhle?«
»Nein, nur er.«
»Kennen Sie den Mann?«
Er nickt zögernd.
Viktoria nennt Möller die Person, deren Namen Kari nicht aussprechen will, nicht aussprechen kann. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter, die vor Anspannung zittert. »Habe ich recht, Kari?«
Er antwortet mit einem kläglichen Ja.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, jetzt nicht mehr«, versichert Möller ihm mit fester Stimme. »Ich werde den Täter sofort festnehmen lassen, und sobald wir ihn haben, gebe ich Ihnen Bescheid. In Ordnung, Kari?«
»Aber …«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Der Polizist da draußen wird so lange auf Sie, Ihren Vater und Ihre Tante aufpassen.«
Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf. »Wie in einem Krimi.«
»Ja, wie in einem Krimi.« Möller klopft ihm auf die Schulter. »Das haben Sie gut gemacht.« Er streckt ihm seine Hand entgegen. »Danke, Kari.«