Kapitel 27

Viktoria entscheidet sich für eine Wanderung auf den Farner, den Hausberg von Oberholz. Bereits im 19. Jahrhundert wanderten die Menschen aus der Umgebung auf den aussichtsreichen, meist nebelfreien Hügel. Damals begann man Wanderwege zu bauen, um den Nahtourismus zu fördern. Zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg strömten im Winter Scharen junger Leute zu den schattigen Hängen des Zürcher Oberlands, und allmählich entwickelte sich das Skifahren zum Volkssport. Der Farner wurde zu einem beliebten Skiort, obwohl die Holzbretter die ersten paar Jahrzehnte noch auf den Schultern hinaufgetragen werden mussten. Wie viel einfacher haben es die Wintersportler heute, denkt Viktoria. Sie setzen sich auf einen Sessellift und Schwups, sind sie oben.

Im Garten des Bergrestaurants trinkt sie einen sauren Most. Befreit atmet sie aus. Was für ein Wechselbad der Gefühle. Sie hat vergessen, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein. Leichten Schrittes begibt sie sich zum Aussichtspunkt. Welch ein Ausblick! Ganz oben in Himmelsnähe zu sein. Die weißen Bergspitzen am Horizont leuchten zu sehn. Sich von der Bergluft läutern zu lassen. Ins Alpenglühen eintauchen und alles vergessen.

Erstaunt berührt sie ihre Wange. Ein Regentropfen? Sie blickt zum Himmel empor, der sich zunehmend bewölkt und die Täler in Schatten taucht. Jäh schlägt ihr ein heftiger Wind entgegen. Es schaudert sie.

Das Dunkle lässt sie an Kuno Brunner denken, der vaterlos aufwächst und panisch auf Verlust reagiert. All die Jahre liebt er seine Frau, doch sie erwidert seine Gefühle nicht. Und dann kommt ein Fremder und nimmt sie ihm weg. Er muss erleben, wie sein Traum zerrinnt. Sein Zorn bricht auf. Er folgt seiner Frau in den Mondmilchgubel. Versucht sie umzustimmen. Dabei verliert er die Nerven. Jeder kennt diese Gratwanderungen. Wehe, wenn das innere Gleichgewicht zusammenbricht.

Von Anfang an hat sie Kuno misstraut. Doch es fehlten die Beweise. Sie sieht wieder vor sich, wie sie ihn kurz nach Iris’ Tod in seiner Wohnung aufsuchte. Sie hatte richtig vermutet. Er wird kämpfen bis zum bitteren Ende.

Als sie in der Ferne dumpfes Donnergrollen hört, macht sie sich auf den Heimweg. Immer mehr dunkle Wolken türmen sich auf. Einzig über dem Farner ist der Himmel noch blau. Sie beschleunigt ihren Schritt, lässt sich von den Windböen mitreißen. Es ist ihr mit einem Mal gleichgültig, was mit Kuno geschieht. Sein Leben wird nie mehr dasselbe sein. Bei jedem Mord gibt es nur Verlierer.

 

Viktoria liegt in der Wanne, als Möller anruft.

»Wir können den Fall Iris Brunner noch nicht ad acta legen. Der Mann ist verschwunden«, schleudert er ihr entgegen.

»Wie verschwunden?«, stottert sie verwirrt.

»Der Lump hat sich aus dem Staub gemacht.«

»Das darf doch nicht wahr sein.«

»Er ist gestern Morgen nach Hongkong abgehauen.«

Sie rechnet. »Das heißt, er hat anderthalb Tage Vorsprung.«

»Wir haben via Interpol eine internationale Fahndung eingeleitet.«

»Wusste sein Geschäftsmitinhaber über diese Reise Bescheid?«

»Nein. Allerdings hat Brunner drei Monate Urlaub eingereicht.«

»Wann?«

»Anfang des Jahres. Er wollte seine Frau mit einer Weltreise überraschen. Wir haben die Tickets in seinem Büro gefunden.«

»Was, er wollte für drei Monate verreisen?«

»Gemäß seinem Kompagnon wollte er eine Auszeit nehmen.«

»Wie es aussieht, hat er nun seine Pläne geändert«, erwidert sie zynisch.

»Dieser Scheißkerl war mir immer eine Nasenlänge voraus«, ereifert er sich. »Ich habe in diesem Fall komplett versagt.«

»Hongkong ist ein guter Ort, um sich einen neuen Pass zu beschaffen.«

»Wir haben herausgefunden, dass er eine größere Summe Geld nach Hongkong überwiesen hat. Aber das ist noch nicht alles. Auch sein Lohnkonto hat er aufgelöst.«

»Wenn Kuno sich mit einem falschen Pass nach Südamerika absetzt, können Sie ihn vergessen.«

Stille.

»Es gibt genug Orte auf der Welt, wo man sich mit Geld das Schweigen der Polizei erkaufen kann. Immerhin wissen wir jetzt mit Gewissheit, dass er Iris getötet hat. Er wird nicht zufälligerweise von einer asiatischen Schönheit begleitet?«

»Nein. Die Frau, auf die Sie anspielen, heißt Linda Wong und ist seine Assistentin.«

»Und woher stammt sie?«

»Aus Hongkong.«

»Na also.«

»Sie behauptet, mit ihrem Chef privat keinen Kontakt gehabt zu haben, und bis jetzt konnten wir ihr nichts Gegenteiliges nachweisen.«

»Ich frage mich, warum sie am Begräbnis teilgenommen hat.«

»Das ganze Büro war dort.«

»Vielleicht lässt er seine hübsche Assistentin später nachkommen?«

»Sie und seine ganze Familie werden telefonisch überwacht.«

»Ich bin sicher, dass Kuno irgendwann Kontakt mit seiner Mutter aufnehmen wird«, versucht sie ihn aufzumuntern.

»Hoffen wir’s.«

»Vielleicht sollten Sie dieser Linda Wong mal intensiv auf den Zahn fühlen. Ich bin sicher, dass sie mehr weiß, als sie vorgibt.«

»Möglich. Brunners Buchhalterin hat auf jeden Fall durchblicken lassen, dass Wong und Brunner vertraut miteinander umgingen.«

»Bei der Beerdigung kam sie mir vor wie seine Geliebte. Ich bin sicher, früher oder später macht Kuno einen Fehler. Er ist kein Einzelkämpfer.«

»Ihre Zuversicht möchte ich haben«, erwidert er zerknirscht.

»Was ist mit diesem Geschäftspartner, der Kuno ein Alibi gegeben hat?«

»Der hat ihm eine größere Summe Geld geschuldet. Allerdings gibt er vor, nichts von Brunners wahren Absichten gewusst zu haben. Er glaubte, es ginge um eine Liebesaffäre.«

»Ich würde, wenn ich Sie wäre, das Ganze nicht so persönlich nehmen. Selbst wenn Sie den Mann nicht schnappen sollten, ist seine Strafe groß genug.«

»Strafe?«, gibt er ärgerlich zurück.

»Kuno hat sein ganzes Leben in diesem Dorf gelebt und gearbeitet. Er hängt an seiner Familie. All seine Freunde stammen aus der nahen Umgebung. Durch seine Flucht verliert er alles, woran er hängt.«

»Ich muss den Kerl finden. Sie hätten hören sollen, wie Kurtz getobt hat, als sie von Brunners Flucht erfuhr.«

»Auch die Staatsanwältin wird darüber hinwegkommen. Das Leben läuft nun mal nicht nach Plan. Das sollten Sie langsam wissen.«

»Ich muss jetzt aufhängen.«

»Sie hatten gegen ihn nichts in der Hand«, versucht sie es erneut.

»Es kommt ab und zu vor, dass man einen Verdächtigen sympathisch findet, aber ein Polizist darf sich davon nicht beeinflussen lassen.«

»Sieh mal einer an, und ich dachte, dass Polizisten auch nur Menschen sind.«

»Suchen Sie Streit, Frau Jung?«

»Wenn Sie es darauf anlegen, warum nicht. Seit dem Tod meines Mannes konnte ich mich mit niemandem mehr so richtig streiten.«

»Tut mir leid. Da müssen Sie sich ein anderes Opfer suchen. Und wenn wir schon beim Thema sind, auch Sie hätte ich nicht involvieren dürfen. Bis jetzt habe ich Privatpersonen immer erfolgreich aus meinen Ermittlungen herausgehalten. Ich verstehe nicht, was in aller Welt mich dazu bewogen hat, meine Prinzipien zu brechen.«

»Dann denken Sie nach«, fordert sie ihn heraus.

»Gefühlsverstrickungen haben in einer Ermittlung keinen Platz«, erwidert er streng.

»Kopf und Gefühl lassen sich nicht einfach so trennen. Abgesehen davon haben wir beide davon profitiert. Oder etwa nicht?«

Er antwortet nicht.

»He, sind Sie noch dran?«

»Ich muss jetzt wirklich Schluss machen.«

»Prinzipientreue Menschen sind sture und langweilige Wesen.«

»Meine Grundsätze beruhen auf Erfahrungen, nicht auf Sturheit.«

»Warum sind Sie so hart zu sich? Ich finde, dass jeder Mensch ein Anrecht darauf hat, Fehler zu machen.«

»Das verstehen Sie nicht. Das Ganze ist mir entglitten. Das darf in meinem Beruf einfach nicht vorkommen.«

»Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass Sie sich einen antrinken.«

»Als würde das helfen.«

»Lassen Sie sich überraschen.«

»Lieber nicht.«

»Sie Angsthase.«

Schweigen.

»Sind Sie noch dran? Haben Sie was über Trinkler herausgefunden?«

»Ja, meine Vermutung war richtig. Er gehört tatsächlich derselben Sekte an.«

»Wie hat Trinkler reagiert, als Sie seine Lüge entlarvt haben?«

»Er hat versucht sich herauszureden.«

»Und Edelmann?«

»Reumütig. Dieser Mann ist ein hoffnungsloser Idiot.«

»Was geschieht mit ihm?«

»Irreführung der Rechtspflege wird heutzutage hart bestraft.«

»Von wo rufen Sie an?«

»Vom Büro, warum?«

»Ich würde mich freuen, wenn Sie nach Feierabend vorbeikommen.«

»Also gut, kann aber spät werden. Ich habe meiner Schwester versprochen, sie zum Essen auszuführen.«