Kapitel 7
Das dreistöckige Riegelhaus mit angebauter Holzscheune liegt eingebettet in einer Senke am Bachtelhang, dem Jelmoliberg, wie ihn einige Einheimische spöttisch nennen, weil sich die Städter an den Wochenenden auf ihm tummeln. Die Honeggers nennen ihr Haus zärtlich ihr Heimetli. Die übereinander angeordneten Stockwerkfenster sind mit blühenden Geranien geschmückt. Auf der Wiese vor dem Haus gibt es ein paar verwitterte Apfelbäume, deren gefurchte, tiefrissige Stämme im Laufe der Zeit eine Patina aus Flechten und Moos angesetzt haben. Noch immer tragen die alten Bäume Früchte. Das Haus hat schon vielen Unwettern getrotzt. Ende der 40er-Jahre wälzte sich eine Schlammlawine wie durch ein Wunder am Haus vorbei. Wenige Jahrzehnte später schlug der Blitz in das Dachstockgebälk ein, das dadurch ausbrannte.
Bis die Weberei Ende des letzten Jahrhunderts endgültig stillgelegt worden war, arbeitete Karl Honegger als Magaziner. Er hat drei Söhne. Zwei sind weggezogen, einer sogar bis nach Neuseeland, wo er eine Schaffarm betreibt. Kari ist der Jüngste, ein Nachzügler. Als er auf die Welt kam, war Honeggers Frau bereits weit über die 40. Sie hatten nicht mehr mit einem weiteren Kind gerechnet, es aber als Geschenk des Allmächtigen angesehen, als Kari Junior nach einer schweren Frühgeburt schließlich den ersten Schrei tat.
Die Honeggers sind weitgehend Selbstversorger. Früher war Karl auf die Jagd gegangen, erlegte Rehe und Hirsche. Er wurstete und räucherte für die ganze Verwandtschaft. Heute überlässt er die Jagd den Jüngeren. Seine steifen Beine tragen ihn nicht mehr die steilen Höger hinauf. Seit dem Tod seiner Frau übernimmt er die Gartenarbeit, während seine Schwägerin den Haushalt besorgt. Die Hühnerställe und die umzäunte Wiese liegen weiter unten am Hang. Neben den Ställen wachsen kräftige Holunderbüsche, deren ausladende Äste die Wiese beschatten. Kari Junior findet es lustig, im Gras zu sitzen und den Hühnern dabei zuzuschauen, wie sie mit gewagten Hüpfern versuchen, die Beeren zu erhaschen.
Als Karl Honegger die große, füllige Frau auf sich zukommen sieht, bleibt er stehen. Er hat sie hier noch nie gesehen, obwohl ganz sicher ist er sich nicht. Es kommen häufig neue Leute vorbei, um Eier zu kaufen. Im Gegensatz zu seinem Sohn kennt er längst nicht alle Kunden. Zum Glück helfen ihm seine Schwägerin und ihr Sohn mit den Hühnern. Seine arthritischen Hände haben Mühe, die Eier in die Kartons zu legen, und für die steifen Beine ist der Hang eine Tortur.
»Guten Tag, Herr Honegger. Ich bin Viktoria Jung. Ich wohne dort drüben.«
Er ist froh, dass sie laut und deutlich spricht. Sein Gehör will nicht mehr so recht. »Sie wohnen im Oberholz?«
»Etwas außerhalb. Im ehemaligen Haus vom Anneli Schnyder.«
»Ach so, die. Ja, ja …« Er seufzt. Das Anneli starb noch vor seiner Frau. Danach stand das Haus leer. Annelis Tochter brachte es lange nicht übers Herz, ihr Elternhaus zu verkaufen. »Aber dort gibt es doch gar keine richtige Heizung?«
»Ich habe das Haus umgebaut.« Sie kramt in ihrer Handtasche. »Hier, sehen Sie. So sieht es heute aus.«
Er betrachtet die Bilder aufmerksam, streicht dabei mit dem Handrücken über seine zerfurchte Stirn. »So, so.« Er gibt der Fremden die Fotos zurück.
»Haben Sie einen Moment Zeit für mich? Es geht um Ihren Sohn.«
»Sind Sie von der Polizei?« Sein Gesicht verschließt sich. Er hat sein ganzes Leben noch nie mit der Polizei zu tun gehabt, und jetzt lassen sie ihm keine Ruhe mehr.
»Nein, ich bin die Freundin von Iris Brunner, die gestern im Mondmilchgubel tot aufgefunden wurde.«
»Dann kommen Sie herein, wenn es unbedingt sein muss.«
»Es dauert nicht lange.«
Er nickt bedächtig. Er weiß, dass die jungen Leute es immer eilig haben.
»Eine gemütliche Küche. Sie erinnert mich an die Küche meiner Großmutter.«
»Sie können sich dort drüben hinsetzen. Nein, nicht hier. Das ist Karis Platz.«
Es klingelt.
»Das Telefon läutet ununterbrochen, seit sie meinen Bub mitgenommen haben. Wenn ich draußen im Garten oder unten bei den Hühnern bin, höre ich das Läuten nicht.« Er seufzt. »Die Leute lassen einem keine Ruhe. Aber eben, jemand muss die Eier ja kaufen. Die Hühner hören nicht auf, Eier zu legen, nur weil sie meinen Bub abgeholt haben.«
»Ich will Sie nicht aufhalten, Herr Honegger«, hört er die Fremde sagen, deren Namen er bereits wieder vergessen hat. »Ich wollte Ihnen bloß sagen, dass ich überzeugt bin, dass Ihr Sohn meine Freundin nicht umgebracht hat.«
Er neigt seinen Kopf etwas vor, dreht ihn leicht zur Seite, um besser zu hören. Natürlich hat sein Bub die Frau nicht getötet. Er streicht sich mit der Hand über die feuchte, sonnenverbrannte Stirn, starrt auf die geschwollenen Fingergelenke. Heute ist der Schmerz besonders stark. Wieder schellt das Telefon. Er zwingt sich mit einem Ächzen auf und geht hinaus in den Flur. »Sie haben meinen Bub gestern einfach mitgenommen und mich erst danach informiert. So konnte ich ihm nicht einmal frische Wäsche mitgeben«, beklagt er sich, als er zurückkommt.
»Das tut mir sehr leid. Wenn Sie wollen, werde ich dafür sorgen, dass er seine Wäsche bekommt.«
Er winkt ab. »Wann kann mein Bub wieder nach Hause?«
»Sie können Ihren Sohn höchstens bis morgen Nachmittag in Polizeihaft behalten.«
»Kari braucht seine Familie und seine Hühner.« Es ist Zorn, der seine trüben Augen zum Leben erweckt. »Ich habe der Polizei gesagt, dass mein Bub kein Mörder ist. Wissen Sie, dass er jedes Mal weint, wenn eines seiner Hühner stirbt?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Was macht die Polizei jetzt mit ihm?«
»Sie nehmen seine Fingerabdrücke und Speichelproben für die DNA-Analyse. Dann wird sich sicher bald herausstellen, dass Ihr Sohn nicht der Täter ist.«
Wieder klingelt das Telefon, doch diesmal lässt er es läuten. »Mein Bub hat mit der Polizei noch nie etwas zu tun gehabt. Sie haben mir gesagt, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Zum Glück muss mein Klärli das nicht mehr miterleben.«
»Ja, eine Amnesie ist etwas Schlimmes.«
»Als ich noch in der Weberei gearbeitet habe, ist das einem meiner Arbeitskollegen passiert. Aber der hatte einen Hirntumor. Nicht einmal seine eigene Frau konnte er am Schluss noch erkennen.«
»Ihr Sohn weiß im Moment nicht mehr, wer er ist, noch woher er kommt«, fährt die Fremde fort. »Wie es aussieht, hat er etwas ganz Schlimmes erlebt, etwas, das er nicht verkraften kann. Ein Gedächtnisverlust kann viele Ursachen haben. Ein Tumor ist eine davon.«
»Sicher wird er sich an mich erinnern. Schließlich bin ich sein Vater.«
»Sie und Ihre Schwägerin werden vielleicht sehr viel Geduld mit ihm haben müssen. Es kann sein, dass er viele Fragen stellen wird.«
»Sie sollen meinen Buben nach Hause schicken. Er braucht uns jetzt. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Beim Klärli war es anders.« Ein Lächeln huscht über sein müdes Gesicht. »Die beiden haben ununterbrochen miteinander geschwatzt und gelacht. Ja, sie haben sich gut verstanden, meine Frau und mein Bub. Es ging ihm gestern Morgen doch noch so gut. Er hat gepfiffen, als er losgefahren ist. Ich kann einfach nicht glauben, dass er sich an gar nichts mehr erinnert.«
»In der Regel ist ein Gedächtnisverlust nur von kurzer Dauer. Vielleicht hat Ihr Sohn gesehen, wie jemand Iris Brunner umgebracht hat, oder er hat die Tote im Wald entdeckt und dabei einen Schock erlitten.«
»Ja, wie damals bei meinem Klärli.« Er schnäuzt sich die Nase. »Damals war das Klärli mit ihm im Hühnerstall. Sie haben die Eier eingesammelt, so wie sie es immer zusammen getan haben. Dann ist das Klärli neben ihm plötzlich tot zusammengebrochen. Herzstillstand, sagte der Arzt, obwohl mein Klärli mit ihrem Herz nie Probleme hatte.« Er verstummt, sieht seine Frau vor sich. »Zuerst hat mein Bub eine ganze Woche kein einziges Wort mehr gesprochen, als habe mein Klärli seine Sprache mit sich in den Tod genommen. Der Bub hat erst wieder zu sprechen begonnen, als er seine Mutter im offenen Sarg gesehen hat. Danach hat er eine Woche lang Tag und Nacht geheult. Das war eine schlimme Zeit, eine ganz schlimme Zeit. Erst als der Arzt ihm Beruhigungstabletten verschrieben hat, wurde es besser. Ihr Tod jährt sich heuer zum achten Mal.« Das Reden hat ihn angestrengt. Er möchte, dass die Fremde geht, doch sie hört nicht auf zu fragen.
»Wann ist Ihre Frau gestorben?«
»Am 22. Juni.«
»Heute ist der 22. Juni. Es tut mir leid, dass Sie am Todestag Ihrer Frau wieder eine schlimme Sache durchmachen müssen.«
»Man kann sein Schicksal eben nicht aussuchen. Ich tu, was ich kann. Wenn mein Bub sich an nichts mehr erinnert, so werden sich seine Hühner wenigstens an ihn erinnern.«
Die Fremde lächelt. »Ich hoffe, dass Ihr Sohn bald wieder gesund wird.«
»Erst mein Klärli und jetzt Kari. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch mache.«
»Hier bei Ihnen wird Ihr Sohn sein Gedächtnis am ehesten wiederfinden«, fährt die Frau fort. »Und wenn es so weit ist, wird er uns vielleicht sagen können, wer meine Freundin wirklich ermordet hat.«
»Der Polizist hat seine Telefonnummer hier gelassen, aber ich weiß nicht mehr, wo ich sie hingelegt habe.«
Die Fremde reicht ihm zwei Visitenkarten.»Hier, falls Sie die Polizisten Kunz oder Möller anrufen wollen. Sie können sich bei Ihnen jederzeit über Ihren Sohn erkundigen.«
»Die lassen meinen Bub nicht so schnell wieder laufen. Für die ist doch längst klar, dass er der Mörder ist. Nein, die werden ihn mir nicht zurückbringen. Was hat mein Bub bloß im Mondmilchgubel gesucht?«
»Ist es nicht so, dass Ihr Sohn nach seiner Arbeit gern noch ein bisschen in der Gegend herumkurvt?«
»Ja, er hängt an seinem Mofa. Sie sollten sehen, wie er es jeden Abend putzt.«
»Hat die Polizei es inzwischen zurückgebracht?«
»Nein.«
»Wann ist seine Tour gewöhnlich zu Ende?«
»Das hat mich der Polizist auch gefragt. So zwischen zehn und elf.«
»Kennt sich Ihr Sohn oben bei der Wolfsgrueb aus?«
»Sicher. Als meine Frau noch lebte, sind sie und der Bub an den Sonntagen manchmal wandern gegangen.«
»Vielleicht haben sich Ihr Sohn und Iris ab und zu im Mondmilchgubel getroffen?«
»Nein, das glaube ich nicht. Mein Bub ist am liebsten zu Hause.«
»Hat er Iris Brunners Namen nie erwähnt?«
»Kann schon sein.« Das Gespräch strengt ihn an. Er möchte es beenden.
»Haben Sie sich Sorgen gemacht, als Ihr Sohn gestern nicht zum Mittagessen nach Hause kam?«
»Kari ist pünktlich wie eine Uhr. Deshalb wusste ich sofort, dass etwas passiert ist.«
»Verlief seine Tour immer nach dem gleichen Schema?«
»Ja. Mein Bub braucht in seinem Leben Ordnung, damit er nicht durcheinanderkommt.«
»Führt er eine Liste von seinen Kunden?«
»Ja, aber jedes Mal, wenn ein neuer Kunde dazukommt, schreibt er die Liste neu. Die alte Liste müsste irgendwo in der Stube herumliegen. Warten Sie einen Moment, ich hole sie Ihnen.« Kurz danach reicht er der Fremden ein dicht beschriebenes Blatt. Die winzige Schrift erinnert an eine Kinderschrift. Datum, Name, Straße, Telefonnummer, Liefertag, Anzahl Eier, Totalbetrag. Alles mit Längsstrichen voneinander getrennt. Die Namen der Kunden fein säuberlich untereinander aufgelistet. »Mein Bub hat ein gutes Zahlengedächtnis. Er weiß genau, wie viele Eier er wem liefern muss. Das Klärli und ich haben immer wieder über sein gutes Gedächtnis gestaunt.«
»Hat er beim ersten Namen mit seiner Tour begonnen und beim letzten Namen mit seiner Tour aufgehört?«
»Ja, das hat er.«
»In diesem Fall war seine letzte Kundin gestern die Frau Müller?«
»Das ist eine alte Liste. Die neue trägt er immer bei sich.«
»Darf ich diese Liste mitnehmen?«
»Sie haben doch nicht etwa vor, meinem Kari Konkurrenz zu machen?«
»Um Himmels willen, nein. Ich möchte Ihrem Sohn helfen.«
»Mein Bub wirft nichts weg. Die kommen alle in einen Ordner. Wegen der Steuern.«
»Ich bringe Ihnen die Liste wieder zurück. Mein Ehrenwort. Bitte sagen Sie mir, wenn Sie mit den Hühnern Hilfe brauchen.«
Er mustert die vollschlanke Frau mit den gepflegten Händen und den rot geschminkten Lippen. Er mag es nicht, wenn Fremde sich aufdrängen. Die Fremde reicht ihm ihre Visitenkarte.
»Sie können mich jederzeit anrufen.«