Kapitel 11

 

Als Manuel Vinzens bei Viktoria auftaucht, ist es tiefste Nacht. Sie beobachtet unter der Veranda, wie der klein gewachsene Mann mit dem schmalen Gesicht und der auffällig langen Nase auf sie zukommt. Er und Iris hätten ein schönes Paar abgegeben. Seine Traurigkeit schnürt ihr das Herz zu. Sie umarmt ihn, wiegt ihn wie ein Kind, so lange, bis sein Schluchzen versiegt. Dann schiebt sie ihm Möllers noch volles Glas zu.

»Trink, das wird dir guttun.« Er gehorcht widerstandslos. Sie mustert ihn, um ein Gefühl für sein Befinden zu bekommen. Seine blauen, dicht bewimperten Augen glänzen. Sie sieht, wie er aus seiner gelben Segeltuchtasche eine Fotografie herauszieht.

»Für dich. Zum Andenken.«

»Danke, Manuel.« Die Aufnahme zeigt Iris, wie sie verträumt in die Ferne blickt. Dieser Blick war typisch für sie. Vielleicht lag es an ihrem schmalen Gesicht, weshalb ihre grünen Augen so unwirklich groß erschienen. Das kurz geschnittene Haar weckte in einem das Bedürfnis, es berühren zu wollen. Sie war nicht im klassischen Sinn schön, doch sie hatte etwas Anrührendes, Verlorenes, etwas, das einen dazu veranlasste, sich ihr anzunehmen. »Sie fehlt mir sehr.« Sie langt über den Tisch, drückt seine Hand, doch sein Blick ist ausdruckslos. Fragen schießen ihr durch den Kopf, doch sie will ihm Zeit geben, sich auszusprechen.

»Ich hatte in meinem Leben einige Liebesbeziehungen«, beginnt er stockend. »Die Frauen blieben nie lange. Ich habe diese unverbindlichen Begegnungen genossen.«

Sie wartet. »Warum?«, fragt sie nach einer Weile.

Er schaut sie fragend an.

»Warum hast du sie genossen?«

»Ich wollte mich nicht festlegen.«

»Und wie war es mit Iris?«

Ein Lächeln streift sein Gesicht. »Sie war nicht ganz zu haben.« Nach einer Pause fügt er hinzu. »Wir waren uns ebenbürtig.«

»Fühltest du dich deshalb zu ihr hingezogen?«

»Sie wühlte mich auf. Meine Gedanken kreisten unablässig um sie. Ich genoss es, dass sie mir ihr Inneres nur in kleinen Dosen offenbarte. Ich wollte, dass sie für mich ein Geheimnis bleibt. Glaubst du an die große Liebe?«

»Ja.«

»Iris war meine große Liebe.«

»Du bist noch jung, Manuel.«

»Es gibt in jedem Leben nur eine große Liebe«, erwidert er bekümmert.

»Ich bin mir nicht sicher. Als mein Mann starb, hatte ich das Gefühl, als habe man mir ein Stück Leben herausgerissen. Und trotzdem habe ich mich wieder verliebt.«

»Nicht alle sind so stark wie du«, erwidert er schleppend. »Das Schicksal ist so ungerecht.«

»Ja, da hast du wohl recht.«

»Kann man mit einem Loch im Herz weiterleben?«, fragt er verzweifelt.

»Ja«, erwidert sie ernst.

»Unter welcher Bedingung?«

»Man muss akzeptieren, dass das Loch immer dableiben wird. Man muss bereit sein, das Leben um das Loch herum einzurichten.«

»Was bringt einen Menschen dazu, einen anderen einfach auszulöschen?«

»Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Das Leben ist voller böser Überraschungen. Jeden Moment Glück müssen wir mit einer Träne bezahlen.«

Sie will ihn trösten, doch ihre Kehle ist wie zugeschnürt. »Wusste Kuno über eure Beziehung Bescheid?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Könnte es sein, dass Iris ihrem Mann eure Liebesbeziehung gestanden hat und deshalb sterben musste?«

Manuel stöhnt auf, schlägt sich die Hände vors Gesicht. »Ich bin schuld an ihrem Tod.«

Auch Viktoria hat sich schuldig gefühlt, als Lucien starb. Hätte sie ihn an jenem Tag nicht allein gelassen, hätte eine Ambulanz ihn vielleicht noch rechtzeitig ins Spital bringen können. Sie nippt an ihrem Wein, lässt ihm Zeit, sich zu fassen. »Wie hat sich Iris gefühlt, als du dich von ihr verabschiedet hast?«

»Sie schien glücklich.«

»Wann genau hast du sie nach Hause gefahren?«

»Es war spät. Kurz vor drei Uhr morgens. Sie hat mich gebeten, sie beim Bahnhof abzusetzen. Sie wollte den Rest des Weges unbedingt zu Fuß gehen.«

»Hast du danach noch etwas von ihr gehört?«

»Ja, am nächsten Morgen.«

»Wann?«

»Kurz nach zehn. Sie war auf dem Weg zum Mondmilchgubel.«

»Hat sie etwas von einem Streit gesagt?«

»Nein, aber ihre Stimme hörte sich irgendwie anders an.«

»Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Ich wollte sie zum Mittagessen einladen, aber sie sagte, dass sie am Mittag für ihren Mann kochen müsse und am Abend bei dir zum Essen eingeladen sei. Sie versprach, mich am Nachmittag nochmals anzurufen. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen.«

»Vielleicht hat Kuno in dieser Nacht auf sie gewartet und sie zur Rede gestellt. Normalerweise kam Iris ja nie so spät nach Hause.«

»Ja, vielleicht.«

»Hat Iris dir gegenüber je erwähnt, dass ihr Mann sie geschlagen hat?«

»Nein.«

»Wutausbrüche, die er an ihr ausgelassen hat?«

»Er war manchmal schlecht gelaunt, aber von Wutausbrüchen hat sie nie etwas gesagt.«

»Hat sie dir sonst noch etwas anvertraut, als sie dich angerufen hat?«

Er schüttelt den Kopf.

Sie berührt seine Hand. »Bitte denk nach.«

Wieder ein stummes Kopfschütteln.

»Sie hat nicht zufälligerweise einen Bruno Edelmann erwähnt?«

»Doch, ihn hat sie kurz erwähnt. Sie sagte, dass er ihr wieder durchs Sagenraintobel gefolgt sei, sie ihn aber habe abschütteln können.«

»Das musst du unbedingt Möller erzählen.« Sie schiebt ihm ihr Handy zu. »Jetzt gleich. Die Nummer ist gespeichert.«

»Das wird Iris auch nicht wieder lebendig machen«, wehrt er ab.

»Bitte, Manuel. Ich hole uns inzwischen eine Kleinigkeit zu essen.«

Als sie mit Oliven, Käse und Brot zurückkehrt, sitzt er regungslos da und starrt ins Leere.

»Manuel, ich weiß, wie unerträglich die ganze Situation für dich ist.«

»Warum dann all diese Fragen?«

»Ich will, dass der Täter gefasst wird. Verspürst du denn überhaupt keine Rachegefühle? Willst du denn nicht, dass dieser Dreckskerl bestraft wird?«

»Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Kannst du das denn nicht verstehen?«

Sie seufzt. »Doch.«

»Ich werde für ein paar Tage in die Berge fahren.«

»Ja, tu das. Es wird dir guttun.« Sie füllt sein Glas zum dritten Mal. »Ist der Eierkari dir ein Begriff?«

Er nickt.

»Iris hat dir nicht zufälligerweise am Telefon mitgeteilt, dass sie sich mit ihm im Mondmilchgubel treffen wollte?«

Er überlegt. »Nein, aber ich weiß, dass sich die beiden ab und zu dort getroffen haben.«

»Kennst du die Höhle?«

»Nein, es hat sich nie ergeben.«

»Kennst du eine Lisa Kesselring?«

»Ja, sie ist eine Freundin von mir. Ich habe Iris Anfang des Jahres zu einem ihrer Erdbewusstseinsseminare mitgenommen.«

»Erdbewusstseinsseminar?«

»Lisa geht davon aus, dass die Erde nicht bloß ein Klumpen Biomasse ist.«

»Sondern?«

»Sondern ein unermesslich schöpferisches und unendlich weises Bewusstsein. Sie ist der Auffassung, dass es an der Zeit ist, dass wir Menschen lernen, mit der Erdseele zu kommunizieren, um den ökologischen Zusammenbruch zu vermeiden.«

»Worum ging es im Seminar konkret?«

»Sie zeigte uns, wie jeder Einzelne die Stimme der Natur wahrnehmen und sich mit ihr verbinden kann. Wir lernten auch Übungen, die helfen, unsere Einstellung zur Erde zu verändern und unsere Beziehung zur Natur zu stärken.«

»Interessant. Wusstest du, dass Iris und Lisa enger befreundet waren?«

»Die beiden haben sich auf Anhieb gut verstanden. Ich glaube jedoch nicht, dass sie sich oft gesehen haben. Lisa reist für ihre Seminare in der ganzen Schweiz herum.«

»Ich finde es eigenartig, dass Iris mir nie von ihr erzählt hat.«

Er quittiert ihre Ungewissheit mit einem Schulterzucken.

»Manchmal konnte Iris ganz schön verschwiegen sein«, erwidert sie betrübt. »Hat sie in eurer letzten Nacht eine Halskette getragen?«

Er nickt.

»Was für eine?«

»Ich habe ihr eine Kette aus blauen Azuritsteinen geschenkt. Sie bestand darauf, sie sich sofort umzulegen.«

»Hast du Möller von dieser Kette erzählt?«

»Warum sollte ich mein ganzes Privatleben vor ihm offenlegen?«

»Wie es aussieht, hat Iris die Kette getragen, als sie ermordet wurde. Man hat Schürfungen an ihrem Hals entdeckt, die auf eine Halskette schließen lassen. Die Kette ist verschwunden. Ich frage mich, wo sie ist.«

»Spielt das denn noch eine Rolle?«

Sie verkneift sich eine Bemerkung. »Ich frage mich, warum Iris diesen Edelmann nicht bei der Polizei angezeigt hat.«

»Der Mann tat ihr leid.«

»Hat sie sich weiterhin mit ihm getroffen?«

»Ja.«

»Das verstehe ich einfach nicht.«

»Du weißt ja, wie eigenwillig Iris manchmal sein konnte«, erwidert Manuel mit matter Stimme.

»Sie hat mich angelogen.«

»Wahrscheinlich wollte sie dich einfach nicht beunruhigen.«

»Ja, und jetzt ist sie tot«, begehrt Viktoria auf.

»Glaubst du, dass er sie umgebracht hat?«

»Gut möglich. Möller erzählte mir, dass der Kerl felsenfest davon überzeugt sei, dass Iris für ihn bestimmt war. Manuel, warum hast du sie nicht dazu gedrängt, diesen Kerl anzuzeigen?«

»Es schien mir nicht wichtig.«

»Aber dass er sie körperlich belästigt hat, das weißt du?«

Er schüttelt traurig den Kopf. »Nein, davon wusste ich nichts.«

»Eine Vergewaltigung würde ich diesem Kerl …«

»Bitte hör auf darüber zu spekulieren, wer Iris umgebracht hat«, unterbricht er sie unsanft. »Es bringt nichts.«

»Ich muss etwas tun, um nicht von der Trauer aufgefressen zu werden«, ereifert sie sich.

»Verdrängst du damit nicht einfach deine Trauer?«

Sie rappelt sich hoch. »Eine berechtigte Frage. Tatsache ist aber, dass wir beide in einen Mordfall verwickelt sind.«

»Ich musste einen Speichelabstrich über mich ergehen lassen. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher.«

»Das ist reine Routine. Hat Möller dir mitgeteilt, dass Iris am Dienstag beigesetzt wird?«

»Nein.«

»Magst du mich zur Beerdigung begleiten? So wie ich Kuno einschätze, wird er daraus eine große Sache machen. Und sei es nur, um zu demonstrieren, wie sehr er seine Frau geliebt hat.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir das antun will. Ich stelle meine Gefühle nicht gern öffentlich zur Schau.«

»Überleg es dir in Ruhe. Du hast ja noch ein paar Tage Zeit.«

Manuel hält sich an der Tischkante fest, als er sich erhebt. Er hat das Essen nicht angerührt.

»Möchtest du nicht lieber hier bleiben?«

»Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss jetzt allein sein.«

Sie umarmt ihn zum Abschied. »Bitte, pass auf dich auf. Eine weitere Tragödie würde ich nicht verkraften.«