Kapitel 28

Draußen gießt es in Strömen. In diesem noch jungen Sommer scheint es nur Extreme zu geben, geht es Viktoria durch den Kopf. Ob der Regen den Kühen wohl etwas ausmacht? Dicht aneinandergedrängt stehen sie am Zaun. Geben sie wohl weniger Milch als an sonnigen Tagen?

Gähnend wendet sie sich vom Fenster ab. Nachdem sie eine Kleinigkeit gegessen hat, zieht sie sich mit einem Buch auf Luciens Sessel zurück. Was gibt es Schöneres, als in eine Geschichte einzutauchen und alles hautnah mitzuerleben, ohne auf den Komfort des Sessels verzichten zu müssen. Stunden vergehen. Als sie das Buch weglegt, bricht draußen die Dämmerung herein.

Sie holt aus dem Keller eine Flasche Amarone, die sie bei ihrem Weinhändler in Zürich gekauft hat. Es verlangt sie nach einem Glas Wein. Doch sie weiß, dass es nicht bei einem Glas bleiben wird. Nein, sie will Möller nicht in angeheitertem Zustand begegnen.

Berufsbedingt musste sie sich häufig mit dem Thema Sucht auseinandersetzen. Mittlerweile ist sie zum Schluss gelangt, dass alle Menschen auf die eine oder andere Weise süchtig sind. Auch sie hat sich früher nach all den Zwängen des Alltags nach einem entspannenden Glas Wein gesehnt. Sich dadurch in eine leichtere Schwingung versetzen zu lassen, findet sie ein durchaus angenehmes Gefühl. Sie öffnet die Flasche, damit der Wein atmen kann.

Es gab in ihrem Leben Arbeitskollegen, die sich regelmäßig mit Alkohol betäubten, um ihre innere Leere nicht spüren zu müssen. Im Delirium konnten sie dann mit ihrem Gejammer nicht mehr aufhören. Da hatte sie bedeutend mehr Glück gehabt. Mit Lucien Wein zu trinken und zu philosophieren, war ein Hochgenuss gewesen.

Ihre Gedanken schweifen zu Möller. Er wird in wenigen Stunden hier sein. Was, wenn sie sich nichts zu sagen haben? Gewiss, er übt auf sie einen unwiderstehlichen Reiz aus. Aber wenn Hormone verrücktspielen, heißt das noch lange nicht, dass auch die Chemie stimmt. Außerdem strahlt er eine Verletzlichkeit aus, die ihr Sorgen macht.

Bücher und Zeitungen stapeln sich auf ihrem Esstisch. Beim Aufräumen kommt ihr Iris’ Geschenk in die Hände. Wie sie sich der Natur angenähert hat, war aufregend und ungewöhnlich gewesen. Niemals mehr würde sie sich mit ihr über all die mystischen Dinge unterhalten können. Sphinx streicht ihr um die Beine. »Später«, vertröstet sie ihn, »später bekommst du eine dicke Scheibe Mortadella.« Als habe er sie verstanden, schleicht er sich davon.

 

Als Möller über die Türschwelle tritt, schießt der Kater auf ihn zu, als habe er auf ihn gewartet.

»Was für eine Begrüßung.« Über sein von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht huscht ein Lächeln.

»Sie kommen direkt vom Essen?«

Er nickt. »Der Ossobuco war versalzen. Ein Bier wäre jetzt genau das Richtige.«

Sie bringt ihm eine Flasche, die er in einem Zug trinkt. »Das Badezimmer ist oben, wenn Sie duschen möchten. Dort gibt es auch Badetücher.« Sie zeigt auf die Wendeltreppe aus Eichenholz, die ein Schreiner speziell für sie angefertigt hat und die in den ersten Stock führt, wo sich auch Büro und Gästezimmer befinden. Sie sieht, wie er kurz zögert und dann auf die Treppe zusteuert.

»Aber beeilen Sie sich. Ich möchte endlich mit Ihnen anstoßen«, ruft sie ihm nach.

 

»Sie können sich gern etwas hinlegen«, bietet sie ihm an, als er zurückkommt. »Sie sehen abgekämpft aus.«

»So schlimm?«

»Ziemlich schlimm.«

»Ich schlafe meistens schlecht.«

»Kein Wunder, wenn Sie bis in die Nacht hinein arbeiten.«

»Eine Idee, was ich dagegen tun könnte?«

»Ja, sicher.«

»Werden Sie es mir verraten?«

»Alles zu seiner Zeit.«

»Das ist nicht fair. Zuerst machen Sie mir Hoffnung, dann vertrösten Sie mich auf später.«

»Verraten Sie mir Ihr Sternzeichen?«

»Skorpion.«

»Da muss ich mich vorsehen.«

»Der Stich von nur wenigen Skorpionarten ist für den Menschen gefährlich.«

»Welche Erleichterung.«

»Skorpione sind Einzelgänger, die nur zur Paarungszeit zusammentreffen«, fährt er mit tiefer, schleppender Stimme fort.

»Eine Warnung?« Sie lässt ihn nicht aus den Augen.

»Ich passe mich nicht gern an. Ich lasse mir auch nicht gern dreinreden. Und es gibt Tage, wo ich schweigen muss, um den Faden nicht zu verlieren.«

»Fällt Ihnen die Zusammenarbeit mit Ihren Kollegen schwer?«

»Manchmal, aber der Gedankenaustausch ist wichtig. Es gibt Dinge, die man laut aussprechen muss, damit sich einem ihr Sinn erschließt.«

»Warum Polizist?«

»Nach der Matur wollte ich Biologie studieren. Vor allem das Fachgebiet Zoologie hätte mich interessiert.«

»Und warum haben Sie es nicht getan?«, forscht sie weiter.

»Ich habe eine Frau kennengelernt, die sich eine Familie wünschte. Also habe ich die Polizeischule besucht. Die Beziehung ging bald darauf in die Brüche, ich aber bin bei der Polizei hängen geblieben.« Er wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich bin gern Polizist. Die KV-Jobs sind begehrt und gelten innerhalb der Kantonspolizei als Königsdisziplin.«

»Für was steht KV?«

»Abteilung für Kapitalverbrechen.«

»Ach so. Stört es Sie, wenn ich nochmals kurz auf Iris’ Tod zu sprechen komme?«

»Nur zu.«

»Wissen die Honeggers, dass Kuno verschwunden ist?«

»Ich habe mich mit dem alten Honegger darauf geeinigt, er solle seinem Sohn sagen, dass wir den Täter gefasst haben.«

»Das halte ich für keine besonders kluge Idee. Ich will Ihnen ja nicht dreinreden …«

»Das tun Sie aber die ganze Zeit«, wird sie von Möller unterbrochen.

»Aber ich denke, dass es besser ist, ihm die Wahrheit zu sagen«, fährt sie unbeirrt fort. »Er ist ein schlauer Bursche.«

Er senkt den Kopf und verstummt.

Typisch Möller, denkt sie.

»Brunners Mutter hat übrigens zugegeben, dass ihr Sohn über die Affäre seiner Frau Bescheid wusste.«

»Na, also.«

»Er hat sogar einen Privatdetektiv auf sie angesetzt.«

»Das wundert mich nicht.«

»Die alte Frau bestreitet allerdings hartnäckig, dass ihr Sohn etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hat. Ihre Freundin scheint wirklich keine einfache Schwiegermutter gehabt zu haben.«

»Gibt es einfache Schwiegermütter?«

»Meine war ganz nett.« Er zwinkert ihr schelmisch zu. »Sie hat mich immer vor meiner Frau in Schutz genommen.«

»Meine Mutter und mein Mann waren auch ein Herz und eine Seele. Wenn Lucien und ich uns stritten, war sie immer auf seiner Seite.«

»Wahrscheinlich konnte Ihr Mann ganz gut ein bisschen Unterstützung gebrauchen.«

»Stimmt. Ich habe es ihm nicht leicht gemacht. Ich mache es keinem Mann leicht.«

»Gut zu wissen.«

»Wie hat sich Ihre Mutter Ihrer Frau gegenüber verhalten?«

»Meine Mutter starb, bevor sich meine Exfrau in mein Leben drängte.«

»Sind Sie ihr immer noch böse?«

»Sie hat mein Vertrauen bitter missbraucht.«

»Heute Morgen habe ich etwas Interessantes gelesen.« Sie steht auf und kehrt kurz darauf mit einem Taschenbuch zurück. »Hier, lesen Sie.«

Vertraue nicht. Denn Vertrauen bedeutet, sich aus der Hand zu geben …

Möller dreht das Buch um. »Ein weiser Mann, dieser buddhistische Mönch.«

»Finde ich auch.«

Sein Gesicht verdunkelt sich. »Meine Exfrau konnte mich nur manipulieren und betrügen, weil ich ihr bedingungslos vertraut habe. Ihr zuliebe habe ich auf so vieles verzichtet. Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie sehr ich mich selbst aufgegeben habe.«

»Und jetzt bindet Sie der Groll an Ihre Exfrau.«

»Ach woher, diese Frau ist mir inzwischen vollkommen gleichgültig.«

»Ich spüre keine Gleichgültigkeit, ganz im Gegenteil.«

»Ich bin ein nachtragender Mensch.«

»Wieder eine Warnung?«

Er weicht ihrem Blick aus.

»Es sich im Leben nicht gut gehen lassen, ist das Schlimmste, was man sich antun kann.«

»Ich weiß«, erwidert er müde.

»Ich würde meinen verstorbenen Mann jederzeit wieder heiraten.«

»Besteht nicht die Gefahr, dass Sie ihn idealisieren?«

»Ich war mit Lucien sehr glücklich.«

»Erzählen Sie mir von Ihrem Vater. Wenn ich mich richtig erinnere, lebt er in einem Pflegezentrum?«

»Ach, mein Vater. Er ist eigenwillig. Aber bei ihm weiß ich immer, woran ich bin, auch wenn er es mir nicht leicht macht.«

»Inwiefern?«

»Indem er mir zum Beispiel verbietet, ihn zu besuchen.«

»Mir scheint, dass Sie sehr an Ihrem Vater hängen.«

»Ja, das tue ich. Er ist ein starker Mann. Lucien war ihm in mancher Beziehung ähnlich.«

»Oh, fast hätte ich es vergessen.« Er erhebt sich ächzend. »Dieser verdammte Rücken.« Er greift in die Tasche seiner Lederjacke und zieht eine Kette heraus. »Ich glaube, die ist bei Ihnen am besten aufgehoben.«

»Oh, Iris’ Kette? Wie schön sie ist.« Sie streichelt über die ungeschliffenen Steine. »Ich kann sie nicht annehmen, bitte geben Sie sie Manuel zurück.«

»Er möchte, dass die Kette Ihnen gehört. Er lässt ausrichten, dass es ihm nichts ausmacht, wenn Sie sie tragen.«

Möllers Voraussicht beeindruckt sie. »Danke, vielen Dank.«

»Legen Sie sich die Kette um. Ich möchte sehen, wie sie an Ihnen aussieht.«

»Wenn Sie meinen …«

»Sieht gut aus.«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich sie tragen werde.«

»Dann behalten Sie die Kette als Andenken an Ihre Freundin.«

»Das werde ich tun. Ihre Berufsmoral in Ehren, Herr Kriminalpolizist, aber ich finde, dass es nun an der Zeit ist, dass wir miteinander anstoßen und uns unsere Vornamen zuflüstern. Immerhin benützen Sie meine Dusche und suhlen sich auf meinem Sofa.« Sie schenkt ihm ein schelmisches Grinsen. »Setzen Sie sich.«

»Gute Idee.« Er streckt ihr seine Bierflasche entgegen.

»Sie wollen mit einer leeren Flasche anstoßen? Ein bisschen mehr Stil hätte ich Ihnen schon zugetraut.«

»Bitte keine falschen Erwartungen.«

»Mögen Sie tschechisches Bier?«

»Sehr sogar.«

Sie holt zwei Flaschen Budweiser aus dem Kühlschrank. Wie Möller zieht sie es vor, das Bier direkt aus der Flasche zu trinken.

»Auf dich, Viktoria.«

»Auf die Liebe, Valentin.«

»Meinetwegen.«

»Ein schöner Name, Valentin.«

»In meiner Sippe heißen alle Männer väterlicherseits Valentin.« Möller legt sich wieder hin.

Zufrieden stellt sie fest, dass seine Anspannung nachlässt.

»Trotzdem ein schöner Name.«

»Viktoria ist ja auch nicht gerade alltäglich. Viktoria, die Siegesgöttin.«

»Meine Eltern wählten absichtlich einen Namen, den es in der Sippe noch nicht gibt.«

»Warum?«

»Um Namensverstrickungen zu vermeiden.«

Möller überlegt. »Da ist was dran. Es gibt bei meinem Urgroßvater, Großvater und Vater wirklich Parallelen. Ist mir komischerweise bis jetzt noch nie aufgefallen.«

»Darf ich fragen welche?«

»Nun, wir haben alle einen Beamtenberuf gewählt und die falsche Frau geheiratet. Bis auf meinen Vater ließ sich jedoch keiner scheiden.«

»Heiratete dein Vater ein zweites Mal?«

»Ja, als ich zwölf war.«

»Und?«

»Lange währte sein Glück nicht. Meine Stiefmutter starb bei einem Verkehrsunfall.«

»Lebt dein Vater noch?«

»Nein, er starb vor einem Jahr. Hatte Alzheimer. Am Schluss erkannte er mich nicht mehr. Auch bei meinem Großvater diagnostizierte man Alzheimer. Bei meinem Urgroßvater wurde behauptet, dass er mit einem verwirrten Geist starb.«

Sphinx setzt sich in Szene. Mit einem Satz springt er auf Möllers Bauch.

»Und ich dachte schon, dass du nichts mehr von mir wissen willst.« Er lächelt zufrieden und streichelt sein Fell. »Was ich dich schon lange fragen wollte, woher stammt der Ausdruck Mondmilch?«

»Früher bezeichnete man mit Mondmilch eine kreideähnliche, weiße Masse, die man aus den Spalten der Kalkfelsen schabte. Dieses weiße Zeugs galt damals als Allheilmittel. Vor allem gegen Entzündungen beim Vieh. Der Name Mondmilch kommt wahrscheinlich daher, dass man sich vorstellte, die Masse sei einst flüssig gewesen wie Milch und stamme vom Mond.«

»Interessant. So, jetzt werde ich mit dir ein Glas Wein trinken.« Er zeigt auf die Weinkaraffe, die auf dem Tisch bereitsteht.

Sie schlingert zum Tisch hinüber. Es ist nicht die Wirkung des Alkohols, die sie taumeln lässt, sondern ein euphorisches Glücksgefühl, das sich zunehmend in ihrem Körper ausbreitet.

»Hier.«

»Das ist ja die reinste Gymnastik. Kaum liege ich bequem, muss ich mich wieder aufsetzen. Dann lass uns jetzt auf die Siegesgöttin anstoßen.«

Während sie ihr Glas erhebt, starrt sie fasziniert auf seine Augen, die sich verengen und im Gegenlicht fast schwarz erscheinen. Sie ist froh, dass sie sich für ein bequemes, einfach geschnittenes Kleid entschieden hat. »Auf uns beide.« Sie setzt zum Rückzug an, doch Valentin hält sie am Arm fest.

»Bitte setz dich ein bisschen zu mir.«

Sphinx schüttelt sein Fell und flüchtet.

Valentin legt seinen Arm um sie. »Der Wein schmeckt köstlich.«

Sie lässt ihn an ihrem Hals schnuppern.

»Du duftest gut.« Sein Gesicht wird weich, was ihm ein jungenhaftes Aussehen verleiht.

»Jetzt bin ich an der Reihe.« Sie schnüffelt. »Auch nicht übel.« Sie schaut zu ihm auf.

Er streift mit seinen Lippen ihren Mund. Umzingelt ihn mit seiner Zunge. Unvermittelt hält er inne. »So eine wie du ist mir schon lange nicht mehr begegnet.«

»Warte.« Sie entzieht sich seinen Armen, steht auf und dimmt das Licht. My One And Only Love singt Chet Baker. Valentin quittiert ihre Musikwahl mit einem Lächeln. Sie beginnt vor ihm zu tanzen. Er und dieser Raum sind eins, denkt sie. Er gehört hierher. Ich gehöre zu ihm. Sie sieht, wie seine dunklen Augen über ihren Körper wandern. Bedächtig öffnet sie den Verschluss ihres Kleides und lässt es mit einem leichten Hüftschwung zu Boden gleiten. Jetzt trägt sie nur noch die blaue Kette. Ihre Haut schimmert hell im Mondlicht. Sie gibt sich ganz der Musik hin.

»Wie schön du bist. Wie eine Madonna«, schwärmt er.

Sie ist sich ihrer Üppigkeit bewusst, ohne sich zu schämen. »Komm«, lockt sie ihn. Er zögert nicht. Fasziniert beobachtet sie, wie er aufsteht und den Reißverschluss seiner Jeans öffnet. Als er seine Arme um sie schlingt, schmiegt sie sich an seinen Körper. Sie lässt ihre Hände wandern, spürt das Zittern seiner Muskeln. Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, denkt sie genüsslich. Sie kuschelt ihr Gesicht in seine Halskuhle, lässt sich von ihm führen. Wie geborgen ich mich fühle, denkt sie verwundert. Wie vertraut er mir ist. Sie genießt, wie er sich an sie drängt und ihren Rundungen nachspürt. Dieses nur auf sie gerichtete Verlangen lässt sie aufseufzen. Sie verzehrt sich nach seiner Berührung und spürt, wie er sich danach verzehrt, sie berühren zu dürfen.

 

 

E N D E