20:05 Uhr
Russ beobachte sie von der anderen Seite des Tischs und zählte die unterschiedlichen Ausdrücke, die wie subtile Pinselstriche über Clares Gesicht glitten. Schrecken. Verdruss. Verlegenheit. Und dann die Erkenntnis, dass sie nicht darum herumkommen würde, sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen. Clares Gefühle zu katalogisieren half ihm, seine eigenen zu ignorieren.
Linda plauderte unbekümmert. »… Russ stapft also in den Bergen herum, bei irgendeiner Ermittlung oder so was, stolpert dabei über eine Erdhörnchenhöhle und bricht sich das Bein. Wenn Reverend Fergusson nicht dort gewesen wäre, um ihn ins Krankenhaus zu schaffen, wäre er erfroren.« Sie strahlte Clare von unten an. »Setzen Sie sich! Setzen Sie sich doch!«
Hugh Parteger, den Russ bis zu diesem Moment überhaupt nicht bemerkt hatte, zog den Stuhl neben Robert Corlew heraus. Clare ließ sich ohne ihre übliche Anmut darauf fallen. Parteger, der sich in seinem Smoking beträchtlich wohler zu fühlen schien als Russ in seinem, musterte mit kühlem Blick die Tischrunde, ehe er sich neben die Frau des Bürgermeisters setzte.
»Wie mutig und klug von Ihnen, Reverend Fergusson«, bemerkte Lena Erlander mit ihrem skandinavischen Akzent. »Ihr Name – ist der schwedisch?«
»Schottisch«, erwiderte Clare. »Und bitte, nennen Sie mich Clare.«
Jim Cameron stürzte sich in die Geschichte, wie Lena und er sich vor drei Jahren in Schottland kennengelernt hatten, was Parteger die Möglichkeit eröffnete, den Tisch mit der Beschreibung zum Lachen zu bringen, wie er einmal anlässlich einer Feier versucht hatte, einen schottischen Tanz zu erlernen, was Robert Corlew auf den Tanzkurs brachte, den er und seine Frau auf ihrer letzten Kreuzfahrt besucht hatten. Das Ganze trug sie durch den ersten Gang. Russ beobachtete Clare, vermied es, Clare zu beobachten, beobachtete sie, ohne dass es so schien, als beobachtete er sie, und fühlte sich wie ein Stück Scheiße.
Er war der Typ aus den Cartoons, auf einer Schulter einen gezeichneten Engel, auf der anderen Seite ein lüsternes Teufelchen. Der eine schlug ihm immer wieder auf den Kopf und mahnte: Schau dir diese umwerfende Frau an deiner Seite an! Willst du das zerstören? Dem anderen sprangen die Augen aus dem Kopf, und er sabberte: Diese Augen, diese Haare, all die nackte Haut … Er hatte Clare nie so freizügig gekleidet gesehen. Er wollte seine Hände über ihre blassen nackten Schultern gleiten lassen, hinunter zu ihrer – Er schob ein großes bitteres Stück Endivie in den Mund und zermalmte es.
»Sind Sie fertig?«, fragte der Kellner. Russ ließ sein Besteck auf den Teller fallen und nickte zustimmend.
Linda beschrieb gerade die panischen Arbeitsstunden, die sie hatte leisten müssen, um rechtzeitig alle Vorhänge im Hotel anzubringen. Er ließ seinen Blick zum Nachbartisch schweifen und dann zum übernächsten, automatisch auf der Suche nach Anzeichen von Vergiftung, Aggression oder Verzweiflung. Ganz vorn im Saal saßen seine Mutter und ihre Cousine Nane, die mit einer ausgelassenen Gruppe von Frauen lachten und redeten, die er für die freiwilligen Gärtnerinnen der ACC hielt. Ein Stückchen weiter entdeckte er einen Tisch, an dem die sieben Männer überwogen: vier elegant gekleidete Asiaten, drei Weiße in schlechtsitzenden Leihsmokings und eine schlanke ältere Frau im rauchgrauen Kleid.
»Wie heißt die Älteste van der Hoeven?«, fragte er Clare, ohne nachzudenken.
»Luella? Nein, Louisa.«
»Ich glaube, das ist die Frau dort drüben.« Er wies mit dem Kinn in die Richtung. Seine Frau warf ihm einen desinteressierten Blick zu, ehe sie sich wieder dem Bürgermeister zuwandte. Sie versuchte, ihn zur Renovierung seines Büros zu überreden.
Clare drehte sich auf ihrem Sitz um. »Könnte sein«, erwiderte sie. »Eine gewisse Familienähnlichkeit ist vorhanden.« Sie drehte sich wieder zurück »Glauben Sie, sie weiß es?«
»Weiß was?« Robert Corlew sah Clare an, dann Russ und dann wieder Clare.
»Eugene van der Hoeven ist heute umgebracht worden«, erklärte Russ.
»So eine Sch-Schande!«, rief Corlew aus. »Wird der Landverkauf denn trotzdem abgewickelt?«
»Eindeutig ja«, antwortete Clare. »Die Malaysier dort drüben sind hohe Tiere von GWP.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Ach, wie blöd, ich habe noch zwei Kisten Wein im Auto, die ich hätte abgeben sollen.« Auf Corlews erstaunten Blick hin erklärte sie: »Eugene bat mich, ihm diesen Gefallen zu tun. Der Typ, der sie abholen sollte, war nicht aufgetaucht.«
»Eugene?«, fragte Corlew. »Wie kommt es, dass Sie einen der van der Hoevens beim Vornamen nennen?«
Clare stürzte sich in die Beschreibung ihrer Hilfsaktivitäten beim Rettungs-und Suchdienst. Russ musterte über die Tische hinweg die Männer von GWP. Und wer hätte das gedacht, da saß auch sein alter Freund Shaun Reid mit seiner jungen, reizenden zweiten Ehefrau. Am obersten Tisch im Saal waren die Vorspeisen bereits serviert worden, und er sah, wie Shaun methodisch kaute. Selbst aus der Distanz konnte Russ erkennen, dass er sich bewegte, als wäre er steif und wund.
Einer der Kellner näherte sich Shaun. Russ, der eine Weinflasche erwartet hatte, war überrascht, als der livrierte Mann Shaun etwas reichte, das wie ein Zettel aussah. Shaun faltete ihn auseinander, las ihn und schaute sich wild um. Dann saß er einen Augenblick mit gesenktem Kopf da. Schließlich erhob er sich und folgte dem Weg, den der Kellner durch den Ballsaal genommen hatte.
Wie interessant!
Russ schob seinen Stuhl zurück. »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden«, sagte er. Er nahm den Hauptausgang, aber statt nach rechts zu den Toiletten abzubiegen, ging er nach links. Er lief am Ballsaal entlang, bis er eine Tür mit dem diskreten Hinweis Nur für Angestellte erreichte. Er stieß die Tür auf und war enttäuscht, als er feststellte, dass sie in eine kleine Kammer führte, auf deren Wandregalen sich Tischwäsche stapelte. Er ging zurück in die Lobby. Bis zur Ecke kam keine weitere Tür. Irgendwo dort hinten befand sich die Küche, die aber offensichtlich einen separaten Zugang besaß, damit die nichtsahnenden Gäste nicht in das geräuschvolle Chaos stolperten, in dem ihre Abendmahlzeit produziert wurde.
Er griff in seine Jacketttasche und zog sein Handy heraus. »Hey, Harlene«, meldete er sich, als jemand abnahm. »Gibt es was Neues?«
»Hey, Chief. Die Spurensicherung ist bei Reid-Gruyn soeben fertig geworden. Sie sagen, auf der Couch befänden sich jede Menge Fingerabdrücke, und es würde einige Zeit dauern, sie zuzuordnen.«
»Wissen Sie, ob jemand Shaun Reid erreichen wollte? Um ihm Fragen zu stellen oder damit er einen Raum aufschließt oder so?«
»Meines Wissens nicht. Lyle ist noch unterwegs und überprüft alle Orte, an denen dieser Schoof sich aufhalten könnte. Kevin beobachtet nach wie vor das Haus. Er hat sich ein paarmal gemeldet, um sich darüber zu beklagen, wie langweilig ihm ist.«
»Sagen Sie ihm, Langeweile wäre gut. Man muss sich erst Sorgen machen, wenn die Dinge beginnen, interessant zu werden.«
»Wie wahr! Eric ist noch oben in Haudenosaunee. Mark versucht, einige der Mercedeslimousinen zu eliminieren … oh, warten Sie, er möchte mit Ihnen sprechen.«
Eine kurze Pause, dann meldete sich Mark. »Hi, Chief.«
»Hi. Haben Sie etwas entdeckt?«
»Noch nicht. Aber etwas Interessantes habe ich doch. Ich sollte doch die Namenslisten durchsehen, um rauszufinden, ob jemand, der die van der Hoevens kannte, einen schwarzen Mercedes fährt, stimmt’s? Ich habe jemanden gefunden, der zwar die Familie nicht kennt, aber Verbindungen zu Haudenosaunee hat.«
»Wer?«
»Shaun Reid. Er ist doch einer der Verdächtigen im Fall Castle, oder? Und er wurde auf Haudenosaunee gesehen.«
Shaun Reid. Der vor aller Augen herumlief, als hätte er eine Schlägerei hinter sich. »Ich glaube, es wird Zeit, Shaun einen offiziellen Besuch abzustatten. Besorgen Sie alles, was wir für einen Durchsuchungsbeschluss brauchen. Wenn Ryswick funktioniert, schlagen wir morgen früh zu. In der Zwischenzeit halten Sie nach weiteren Mercedeslimousinen Ausschau. Der Täter könnte ebenso gut aus der Stadt kommen, wissen Sie. Ihr Vater, Jasper van der Hoeven, hatte dort seinen Hauptgeschäftssitz.«
»Ja, ich weiß.«
Das gedämpfte Klirren von Besteck auf Porzellan drang durch den Eingang zur Lobby. »Geben Sie mir noch mal Harlene, bitte?«
Harlene meldete sich. »Ja?«
»Sagen Sie Lyle, er soll so schnell wie möglich zum Krankenhaus fahren. Er soll Becky Castles Reaktion beobachten, wenn sie erfährt, dass man Sachen von ihr in Reids Büro gefunden hat. Eric soll mich so schnell wie möglich aus Haudenosaunee anrufen. Ich will wissen, ob er etwas gefunden hat.«
»Mach ich, Chief. Wie ist denn die vornehme Feier? Lohnt es sich, dafür an seinem Geburtstag zu arbeiten?«
Er dachte an ihren Tisch. Linda und Clare und Hugh und Russ. Wie ein schlechter italienischer Kunstfilm. »Ehrlich gesagt, Harlene, würde ich lieber irgendwo was Fettiges essen und auf einen Autopsiebericht warten.«