12:00 Uhr

Shaun Reid stand in seinem Büro und dachte über den Rest seines Lebens nach. Er war den ganzen Weg von der AllBanc nach Hause gefahren, um dann müßig in der Einfahrt zu stehen, das Garagentor anzustarren und sich zu fragen, was mit ihm los war. Warum konnte er nicht einfach das Geld kassieren und verschwinden? Terry McKellan hatte recht: Er würde genug Geld besitzen, um sich zurückziehen und mit seiner hinreißenden jungen Frau ein stilvolles Leben führen zu können. Teufel noch mal, schließlich war er an heutigen Maßstäben gemessen selbst noch jung. Fünfzig bedeutete erst den Anfang der mittleren Lebensjahre. Er hatte noch dreißig, fünfunddreißig weitere Jahre vor sich, wenn er auf sein Cholesterin achtete und aktiv blieb.

Die Aussicht war wie der Blick auf eines dieser rätselhaften verschachtelten Bilder, auf denen sich hintereinander eine endlose Reihe von Kartons öffnet, jeder Karton ein grauer, leerer Raum. Er stieß aus der Einfahrt zurück und fuhr zur Fabrik, die Straßen entlang, die er seit dreißig Jahren benutzte. Länger, wenn man die Zeit mitzählte, in der er neben seinem Dad auf dem Beifahrersitz gesessen hatte.

Er hatte es geliebt, mit dem alten Herrn zur Arbeit zu fahren. Als er noch zu klein für die Fabrikhalle gewesen war, hatte sein Dad ihn mit in die Büros genommen. Er war auf dem Drehstuhl der Sekretärin herumgerollt, und sie hatte ihn am Vervielfältigungsapparat kurbeln und Bonbons aus der Schale auf ihrem Schreibtisch stibitzen lassen. Als er älter wurde, hatte er es genossen, wenn sein Dad mit ihm sprach wie mit einem Erwachsenen, Zahlen und Fakten nannte, ihn nach seiner Meinung fragte. Zu Hause durfte er seinen Vater nicht stören, wenn der sich nach der harten Arbeit des Tages in seinem Sessel entspannte, die Zeitung las und den Tom Collins trank, den Mom ihm immer servierte. Aber in der Fabrik war es anders. Dad war munter, dynamisch, aufmerksam. Sie waren ein Team.

Er hatte nie wegziehen oder etwas Eigenes aufbauen wollen. Auf dem College, wo seine Kommilitonen marxistische Literatur lasen und gegen den Krieg demonstrierten, verleugnete er sein Betriebswirtschaftsstudium, weil das fast genauso uncool war wie Reserveoffizier. Aber es hatte immer außer Frage gestanden, dass er nach Millers Kill zurückkehren würde, wo das Büro neben dem seines Vaters auf ihn wartete.

Dort stand er jetzt. Es war klein, zwischen Empfangsbereich und die ehemalige Buchhaltung gequetscht, die mittlerweile an eine große Firma übertragen worden war, die sich um Gehälter, Steuern und Sozialabgaben kümmerte. Er hatte gehofft, dass Jeremy eines Tages hier arbeiten würde, in Hörweite seines Vaters, aber – er verdrängte den Gedanken. Betrat das Büro, das seinem Vater und Großvater gehört hatte.

Die meisten der alten Bilder aus den ersten Tagen der Gesellschaft hingen heute im Empfangsbereich, wo sie jeden beeindruckten, dem es einen Kick versetzte, dass das Geschäft schon über ein Jahrhundert ohne Besitzerwechsel überdauerte. Die Bilder und Tafeln in seinem Büro waren privat, und während er sie betrachtete, wurde ihm bewusst, wie stark sein Leben von der Fabrik und seiner Rolle darin geprägt worden war.

Da waren seine Mom und sein Dad und er mit Latzhosen und Locken, wie sie während der Eröffnungszeremonie für den »neuen« Damm ins Sonnenlicht blinzelten, mittlerweile siebenundvierzig Jahre alt und rasch alternd. Die Fotos seines Highschool-und Universitätsabschlusses. Ohne Auszeichnung. Er war nie ehrgeizig gewesen. Hatte er auch nicht sein müssen. Dagegen trug Jeremy auf seinem Foto nicht nur Talar und Barett, sondern auch Goldschleifen und Auszeichnungsquaste. Selbst damals hatte sein Sohn sich schon auf die Flucht vorbereitet.

Neben dem Abschlussfoto seines Sohnes hing ein gerahmter Zeitungsausschnitt mit einem Bild von Shaun und Russ Van Alstyne bei dem Forellenwettfischen von 1968. Sie hielten ihren Siegesfisch hoch und hatten einander die Arme um die Schultern gelegt. Im Jahr danach war Russ fortgegangen und erst nach einem Vierteljahrhundert zurückgekehrt. Seit er Polizeichef geworden war, hatte Shaun ihn ein paarmal bei Rotarieressen und Stadtversammlungen getroffen. Sie hatten nichts mehr gemeinsam. Es lag nicht an Russ. Shaun hatte mit vielen Menschen, die er in der Highschool Freunde genannt hatte, nicht mehr viel gemeinsam. Sie waren zu Verkäufern und Milchbauern herangewachsen oder hatten endgültig die Stadt verlassen. In Millers Kill gab es nicht viele Erfolgsgeschichten, nicht in der Klasse von ›69.

Er warf sich auf das Sofa, das Courtney für ihn gekauft hatte. Weiches Leder, so bequem wie ein alter Handschuh. Er hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, aber als das alte Sofa – 1964 von seiner Mutter ausgesucht – erst einmal fortgeschafft und das neue aufgestellt worden war, fragte er sich, warum er die harten Sitze und den rauhen Bezug so lange akzeptiert hatte. Vielleicht wäre es mit dem Verkauf der Firma dasselbe. Nachdem GWP sie erst einmal geschluckt hätte, würde er sich fragen, warum er so einen Aufstand gemacht hatte.

Klar. So wie die Opfer der Borgs in Raumschiff Enterprise nie einen Aufstand machten: Sei bereit, dich anzupassen.

Ein Klopfen an der Tür. Er rollte sich von der Couch, als sich die Tür öffnete und Jeremy den Kopf hereinsteckte. »Hey! Störe ich?«

»Was willst du denn hier?« Shaun klang barscher, als er beabsichtigt hatte.

Jeremy betrat das Büro. »Ich hab dich gesucht. Du warst nicht zu Hause, und dein Trophäenweibchen ist in der Kirche, wo konntest du also anders sein als im Allerheiligsten, dem Büro.«

Shaun überhörte den Seitenhieb auf Courtney. »Wenn du das Laufburschenstadium jemals hinter dir lassen möchtest, könntest du es ja auch mal mit ein bisschen Arbeitsmoral versuchen. Viele Stunden Arbeit in diesem Büro haben dein Studium finanziert.«

»Und mein Jahr in London und mein Auto. Vergiss das nicht, Dad.« Jeremy lächelte falsch.

Shaun rammte die Hände in die Hosentaschen, um nicht die Fäuste zu ballen. So lief es ständig zwischen ihnen. Gretchen, Jeremys Mutter, sagte immer, sie seien sich zu ähnlich. Shaun konnte das nicht erkennen. Mit fünfundzwanzig Jahren war er Ehemann und Vater gewesen und hatte fünfzig bis sechzig Stunden die Woche für Reid-Gruyn gearbeitet. Jeremy war ein besserer Hausmeister, der außerhalb des Büros ständig einen draufmachte. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihr Aussehen: Beide waren groß und knochig, Shauns ausgeblichene sandfarbene Haare die Überreste von Jeremys aggressiv rostroten.

»Noch einmal, was willst du hier?«

»Ich wollte wissen, ob du mich heute Abend brauchst, um deine Pfade zu ebnen. Ich kann dir Sitze am GWP-Tisch besorgen, wenn du möchtest.«

»Nein danke.«

Jeremy verdrehte die Augen. »Dad, es ist in deinem Interesse, mit den Typen zu reden. Falls die ein Angebot für die Firma machen, hängt deine Zukunft von ihnen ab. Ich sage dir immer wieder, dass harte Arbeit heutzutage nicht mehr ausreicht. Man muss über den Tellerrand gucken, Beziehungen knüpfen, sich ranschmeißen. Persönliche Beziehungen sind wichtig.«

»Das weiß ich! Was glaubst du, warum, zum Teufel, ich die ganzen Jahre zu diesen Treffen der Rotarier und der Handelskammer marschiert bin?«

»Ooooh, die Rotarier.« Jeremy wechselte vom Falsett in seinen normalen Tonfall. »Dad, wenn du sie beeindruckst, hast du die Chance, innerhalb der GWP-Strukturen großen Einfluss zu gewinnen. Dem Trophäenweibchen würde das bestimmt gefallen.«

Shaun funkelte seinen Sohn wütend an. »Nenn deine Stiefmutter nicht so.«

»Sie ist nur fünf Jahre älter als ich, Dad. Ich sage nicht Mom zu ihr.« Jeremy warf sich auf das Sofa, in exakt derselben Haltung wie Shaun kurz zuvor.

»Das Gespräch hatten wir schon. Nenn sie Courtney.«

»Wird sie heute Abend das hautenge schwarze Kleid tragen? Das, in dem man ihre …« Jeremy machte die Universalgeste für Brüste.

»Verdammt noch mal! Zeig meiner Frau gefälligst ein bisschen Respekt.«

»Tut mir leid, tut mir leid. Das war zu viel. Ehrlich, ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten. Lass mich doch einen Platz am Haupttisch für dich besorgen. Und für Courtney.«

Shaun ließ sich schwer auf seinen Stuhl sinken. »Hör sich das einer an. Platzreservierungen besorgen. Ich kann einfach nicht fassen, dass du dafür deinen Diplom-Kaufmann gemacht hast.«

»Ich lerne eben von der Pike auf. Dieses Jahr bin ich für die Zufriedenheit der Gäste verantwortlich. In zwei Jahren werde ich stellvertretender Geschäftsführer sein. Und noch zwei Jahre, dann bin ich der Hauptgeschäftsführer, und danach, wer weiß. BWL/Opperman besitzt im ganzen Land Hotels.«

»Die Hotelindustrie.« Shaun spuckte das Wort aus. Für ihn klang es immer wie ein verharmlosender Begriff für Prostitution.

Jeremy ignorierte seinen verärgerten Ton. »Die Zukunft der Adirondacks und des Landes liegt nicht in der Produktion, Dad, sondern im Erlebnissektor. Tourismus, Gastronomie, Unterhaltung, Spiele – damit macht man Geld.« Mit lässiger Geste wies er auf den Büroraum. »Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, Steuern, Transportkosten – Reid-Gruyns Produktionskosten für ein Ries Papier sind doppelt so hoch wie die von GWP.«

»Verdammt, woher weißt du das?«

Jeremy hob den Kopf. »Ich passe auf, Dad. Ich bin Teilhaber, schon vergessen? Ich kann eine Menge Geld machen, wenn GWP einen guten Preis bietet.«

Shaun hatte das Gefühl, als hätte man ihm einen Stromschlag versetzt. »Das kann nicht dein Ernst sein. Du würdest nicht für einen Verkauf stimmen.«

»GWP könnte das Beste für Reid-Gruyn sein. Sie können es sich leisten, den Maschinenpark für Spezialpapiere zu modernisieren, sie können billige Pulpe besorgen … verdammt, sie können sogar Arbeiter herankarren, sollte die Gewerkschaft verrückt spielen.«

Shaun umkreiste seinen Schreibtisch. »Die Mühle ist seit 1872 im Besitz der Familie! Ich kann nicht – dass du nur daran denkst, sie an diese … diese … Malaysier zu verschleudern!«

Jeremy setzte sich auf. »Dad?«

Shaun konnte ihn nur anstarren, sein Mund arbeitete, in dem Versuch, Worte zu finden, die dieser Perfidie gerecht wurden.

Jeremy stand auf und ergriff Shauns Arm. »Dad. Ernsthaft. Ich will den Laden nicht verkaufen. Aber sobald das Holz aus Haudenosaunee vom Markt ist, werden unsere Produktionskosten steigen. Und bei dem, was sich im Nahen Osten abspielt, können die Benzinpreise nur nach oben gehen. Selbst wenn du ein oder zwei Jahre kostendeckend arbeiten kannst, werden sie am Ende so viel vom Profit fressen, dass Reid-Gruyn verblutet.«

»Du klingst genau wie mein Banker.« Es klang eingeschnappt, selbst in seinen Ohren.

Jeremy schüttelte ihn sanft, und Shaun hatte die verrückte Vorstellung, er sei das Kind und Jeremy der Erwachsene. »Dieser Tag hat sich abgezeichnet, seit du und Großvater in den Achtzigern die letzten Waldstücke der Firma verkauft habt. Du hast dich der Gnade der Landbesitzer ausgeliefert, und früher oder später geht alles Land an den Höchstbietenden.«

War es das, was das Studium mit seinem Sohn gemacht hatte? Ihm jedes Gefühl ausgetrieben und ihn in ein wandelndes Lehrbuch für Ökonomie verwandelt? Er war froh, dass er kein Diplom-Kaufmann war. Allmählich wurde ihm die Bedeutung dessen, was Jeremy gesagt hatte, bewusst.

»Vielleicht ist das die Lösung«, sagte Shaun und hob die Schulter, um die Hand seines Sohnes abzuschütteln. »Vielleicht sollten wir unser Waldland zurückkaufen.«

Jeremy lachte kurz auf. »Das soll wohl ein Scherz sein. Allein die Steuern würden die Profite auffressen. Das war keine Kritik an dem, was du und Großvater getan habt. Es war eine richtige Entscheidung. Konzentration auf das Kerngeschäft.«

Shaun kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und begann die Unterlagen und Tabellen und Gewinn-und Verlustrechnungen in einen Ordner zu schieben. »Ich mache keine Witze. Hast du noch nie was von vertikaler Integration gehört? Besitz von Rohstoffen, Fabrikationsanlagen und die Mittel, das Produkt auf den Markt zu bringen. Es könnte funktionieren.«

Jeremy schüttelte den Kopf. »Es ist vorbei. Der Verwaltungsrat würden dem Ankauf von Land niemals zustimmen. Und außerdem gibt es in Washington County kein verkäufliches Waldland mehr.«

Shaun grinste seinen Sohn an. »O doch. Haudenosaunee.«

Das Dunkle Netz Der Rache
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