21:00 Uhr
Die Explosion schleuderte Millie zu Boden. Einen Augenblick blieb sie wie gelähmt liegen, alles tat ihr weh, dann rappelte sie sich auf Hände und Knie. Sie hatte Schrammen und Kratzer, war ansonsten aber unversehrt. Sie stützte sich mit der Hand gegen die mit einer Plane abgedeckte Maschine, die sie vor der Explosion geschützt hatte, und zog sich auf die Füße. Das breite Tor, durch das Shaun Reid sie getragen hatte, brannte lichterloh. Flammen leckten in alle Richtungen, fraßen sich durch Planen, mästeten sich an leeren Paletten, krochen über den alten Holzboden.
Die Helligkeit war nach den langen Stunden der Dunkelheit beinah unerträglich. Millie riss die Hände hoch und schirmte ihre Augen ab. Eine Bombe. Shaun Reid hatte eine Art von Bombe gelegt. Er hatte nie die Absicht gehabt, zu ihr zurückzukehren. Er hatte sie hiergelassen, damit sie verbrannte. Trotz der Hitze der Flammen spürte sie Kälte in sich aufsteigen. Eine Kälte wie in dem Turm, in dem ihr Bruder gestorben war. O Gott – was war mit Louisa? War er auch hinter ihrer Schwester her? Sie musste hier raus. Sie musste.
»Hilfe.« Der Schrei aus den hinteren Winkeln der Dunkelheit sandte einen Schauer über ihren Rücken. »Bitte lass mich nicht allein.«
Dort, am hinteren Rand des wachsenden Flammenrings sah sie, wonach sie suchte. Eine schmale Tür. Sie blickte nach hinten. Falls sie ihn holte, falls sie versuchte, ihn hinauszutragen, würde das Feuer die Tür verschlingen, ehe sie es schaffen konnte. Er oder ich, dachte sie, Verzweiflung stieg ihr wie Erbrochenes in die Kehle. Er oder ich.
»Ich rufe die Feuerwehr, wenn ich draußen bin«, brüllte sie. »Sie werden dir helfen.«
»Bitte!«
Sie wich den Flammen aus, vermied es, in ihr rasendes Herz zu blicken, konzentrierte sich darauf, den durch die Luft wirbelnden Splittern und Funken auszuweichen. Da war sie. Die Tür. In Reichweite. Die Hitze schlug schon gegen ihre Oberfläche, und sie schrie vor Schmerz auf, als sie den Türknauf berührte. Sie glaubte ein letztes »bitte« zu hören, aber vielleicht war es auch das gierige, luftverschlingende Zischen des Feuers.
Sie schwankte hinaus in die kühle Dunkelheit, erneut blind. Sie hörte einen Schrei, und nachdem ihre Augen sich an das schwache Licht der Parkplatzbeleuchtung gewöhnt hatten, sah sie den Umriss einer Frau, die über das unkrautüberwucherte Gelände stolperte und rannte, das die alte Fabrik von der neuen trennte.
»Randy!«, schrie die Frau. »Randy!«
Ein blendendes hüpfendes Licht lenkte Millies Aufmerksamkeit ab. Ein Auto holperte über den Feldweg in ihre Richtung, holperte in genau dem Muster auf und ab, das sie gespürt hatte, als sie gefangen im Kofferraum lag.
»Wo ist er?« Die Frau taumelte über die letzte niedrige Bodenwelle. »Wo ist mein Mann?«
»Wo ist Shaun Reid?«, brüllte Millie.
Die Frau sah sie an, als wäre sie verrückt geworden.
»Wo ist er?« Millie lief zu der Frau hinüber. »Ich weiß, dass du ihn treffen wolltest!« Sie packte ihre Arme und schüttelte sie so heftig, dass ihre Zähne klapperten. »Sag mir, wo er ist, und ich sag dir, wo du deinen Mann findest.«
»Im neuen Hotel! Er ist im neuen Hotel!« Die Frau brach in Tränen aus.
»Was, zum Teufel, geht hier vor?«
Millie wirbelte herum. Ein junger Mann, den sie vielleicht als gutaussehend bezeichnet hätte, stand vor ihr, sein makelloser Anzug wirkte im grellen Schein des Feuers geradezu lächerlich. Der Motor des Autos hinter ihm lief, die Fahrertür stand offen.
»Mein Mann ist da drin!« Die schluchzende Frau zeigte auf die brennende Fabrik.
Millie traf eine spontane Entscheidung. »Er ist verletzt«, sagte sie zu dem jungen Mann. »Bitte, bitte, helfen Sie ihm.«
Er drehte sich um und blickte zur Tür und trat einen Schritt darauf zu, was mehr war, als sie ihm zugetraut hatte. Millie stieß ihn, heftig, und rannte zu seinem Wagen, ehe er auf dem Boden aufgetroffen war. Sie schlug die Tür vor seinem empörten Schrei zu, legte den Rückwärtsgang ein und raste über den Feldweg. Mit quietschenden Reifen schleuderte sie auf den Parkplatz und schoss durch das Tor davon.