20:40 Uhr

Clare beobachtete Shaun Reid, als dieser in den Ballsaal zurückkehrte. Er blieb einen Moment im Eingang stehen und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. Ihre Großmutter Fergusson hätte beifällig genickt. Trau niemals einem Mann, der Papiertücher benutzt, würde sie sagen. Er wird sich als leichtsinnig und unzuverlässig erweisen.

»Shaun Reid ist zurück«, sagte sie mit erhobener Stimme, um die lebhaften Gespräche links und rechts von ihr zu übertönen.

Russ auf der anderen Seite des Tisches nickte. Er verdrehte leicht den Kopf, als wollte er eine Verspannung lockern, und verfolgte Reids Weg zurück an dessen Tisch. »Schade«, sagte er. »Er hat den Großteil des Essens verpasst.« Kellner kreisten durch den Ballsaal, trugen das schmutzige Geschirr ab und deckten das Dessertbesteck ein.

»Du hättest beinah das Essen verpasst«, sagte Linda und stieß ihn spielerisch mit dem Ellbogen in die Seite. »Ich wette, du verpasst noch mal deine eigene Beerdigung, weil du in Polizeiangelegenheiten unterwegs bist.« Sie beugte sich über den Tisch und sagte in vertraulichem Ton zu Clare: »Hören Sie auf eine Frau, die sich auskennt. Heiraten Sie niemals einen Polizisten.«

Clare spürte, wie ihr brennende Röte ins Gesicht stieg. Es war Hugh, der sie vor einer Antwort bewahrte, indem er ihre Hand nahm und sagte: »Ich tue mein Bestes, damit sie Ihren Rat befolgt.« Er küsste ihr die Hand. Robert Corlew räusperte sich unbehaglich, und Lena und ihr Bürgermeister stießen ein »aah« aus, als versänken sie in einem Bottich Marshmallowbrei.

Russ sah aus wie eines dieser riesigen Steingesichter von der Osterinsel.

Clare hatte nie wirklich an die Doktrin der körperlichen Himmelfahrt geglaubt, aber jetzt wünschte sie, sie wäre wahr und Gott beschlösse in seiner unendlichen Weisheit, ihre Person samt Kleid, Hand, flammend roten Wangen und allem Drum und Dran zu sich in sein himmlisches Königreich zu erheben. Jetzt. Genau jetzt. Jeden Moment.

Sanft zog sie ihre Hand zurück und lächelte Hugh fast überzeugend an. Offensichtlich harrten ihrer auf der Erde noch Aufgaben. Um den vereinten Blicken der Tischrunde zu entkommen, wandte sie sich ab und schaute zu den Kellnern hinüber, die ein Podium neben den Haupttisch rollten. »Was steht als Nächstes an?«, fragte sie niemand im Besonderen.

Jim Cameron antwortete. »Erst hält der Präsident der ACC eine kleine Rede, stellt ein paar Leute vor und ruft zu Spenden auf. Dann werden die Leute von GWP und die van der Hoevens …« Er bog den Kopf zurück, offensichtlich hatte er erst jetzt die Abwesenheit der van der Hoevens am Haupttisch bemerkt. »Nun, wer immer die Übertragung unterzeichnen muss, wird es tun. Dann beginnt der Tanz.« Clare konnte hinter dem Haupttisch sehen, dass vor der Glaswand eine Bühne für eine Band aufgebaut worden war.

Während sie zusah, rollten die Sommelière und ihre Assistentin einen schweren Weinwagen zum Haupttisch und begannen einige vertraute Holzkisten abzuladen. »O nein«, stöhnte sie. Sie behielt den verdammten Wein nie länger als fünf Minuten im Gedächtnis. Als sie sich wieder zum Tisch umdrehte, sah sie, wie Linda sich an Russ schmiegte. Also gab es vielleicht gute Gründe für ihren Mangel an Konzentration.

»Entschuldigen Sie mich.« Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Hugh, Russ und Cameron erhoben sich.

Robert Corlew sah sie an. »Was?«, staunte er. »Was? Tun Kerle das immer noch?«

Lena Erlander blickte mitleidig auf die zusammengeschrumpfte Mrs. Corlew.

Clare bahnte sich ihren Weg durch die Tische, ständig auf ihren Rock achtend. Sie überquerte die Tanzfläche und erreichte die Sommelière, als diese die Verriegelung des Wagens löste und ihn hinausrollen wollte. Die Kisten, auf denen stolz das Etikett der van der Hoevens prangte, waren zu einer wackligen Pyramide vor dem Haupttisch aufgestapelt. Clare glaubte, nie einen traurigeren Anblick gesehen zu haben. »Verzeihung.« Sie berührte die Sommelière am Arm, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Mr. van der Hoeven hat mir zwei Kisten von dem Familienwein anvertraut, um sie zu dem Bankett heute Abend zu bringen. Ich fürchte, ich habe sie im Auto vergessen. Ist es zu spät, um sie noch hereinzubringen?«

Die Sommelière runzelte nachdenklich die Stirn. »Mr. van der Hoevens Instruktionen …« Sie riss sich zusammen, und Clare nahm an, dass die Nachricht von Eugene van der Hoevens Tod im Algonquin Waters bereits die Runde gemacht hatte. »Er wünschte«, fügte sie hinzu, »dass die Hauptpersonen jeweils eine Kiste erhalten und die restlichen Flaschen aus den Kisten geholt und für den Tanz entkorkt werden.« Sie legte eine weiß behandschuhte Hand an die Lippen. »Ihr Wein wird schrecklich kalt sein, aber ich nehme an, wenn wir ihn bis zum Ende des Abends zurückhalten … sicher, holen Sie ihn. Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein. Ich stehe direkt vor der Tür. Meine Verabredung und ich holen ihn.« Sie wandte sich wieder zu ihrem Tisch, zögerte und drehte sich noch einmal um. Sie ging zu der Frau in grauem Satin, die lustlos ins Leere starrte. »Ms. van der Hoeven?«

Die Frau zwinkerte und sah zu Clare auf. »Eigentlich Tuchman. Nun, nein, das wohl auch nicht mehr. Vielleicht nehme ich diesmal den Namen Louisa van der Hoeven wieder an. Das klingt besser als Louisa Tuchman, finden Sie nicht? Oder Louisa de Parrada. Ich fand immer, das klang so nach Flamencotänzerin. Wer sind Sie gleich noch?«

Eugenes und Millies Schwester ertränkte ihren Kummer offensichtlich auf althergebrachte Weise. »Ich bin Clare Fergusson«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir wegen Ihres Bruders tut.«

Louisa van der Hoeven de Parrada Tuchman blinzelte langsam. »Ich glaube, Gene gehörte zu den Menschen, von denen man sagen kann, ›sein Leiden ist zu Ende‹.«

»Vielleicht.« Clare wählte ihre Worte mit Bedacht. »Ich kannte ihn nur kurz, aber er erschien mir wie ein Mann, dem viele Dinge wahrhaft am Herzen lagen. Einschließlich Ihrer Familie und deren Geschichte.« Sie wies mit der Hand auf die von schneeweißem Leinen umrahmten, rauhen Holzkisten. »Ich finde es reizend, dass seine letzte Geste es jedem ermöglicht, mit van der Hoeven-Wein auf die van der Hoevens zu trinken.«

Louisa bedachte die Kisten mit einem zynischen Blick. »Nein«, erwiderte sie. »Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie hohl wir sind. Ein Versuch, Menschen mit Geld zu beeindrucken, das schon vor zwei Generationen verloren wurde.«

»Wie bitte?«

Louisa stützte ein knochiges Handgelenk auf den Tisch. »Dieser Stoff wird in Kalifornien abgefüllt und mit jedem beliebigen Etikett versehen, das man sich aussucht. Die van der Hoevens besitzen keinen Weinberg.«

Das Dunkle Netz Der Rache
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