18:15 Uhr
Das Erste, was Clare hörte, waren laute Stimmen. Auf halbem Weg den Flur hinunter zu Becky Castles Zimmer blieb sie erschrocken stehen, als Ed Castle brüllte: »Gottverdammt, warum hörst du nicht auf, sie zu schikanieren, und findest den Scheißkerl, der das getan hat?«
Russ runzelte die Stirn und beschleunigte seine Schritte. Hinter den halb geschlossenen Türen der anderen Zimmer umklammerten schweigende Besucher Blumensträuße und Topfpflanzen und spähten zum Flur. Suzanne Castles Stimme steigerte das Interesse noch. »Wirst du wohl still sein, Ed! Du regst sie auf!«
Clare begann hinter Russ herzulaufen und bog gerade rechtzeitig um die Ecke, um zu sehen, wie er durch die Tür von Beckys Zimmer stürmte.
»Was, zum Teufel, willst du denn hier?«, knurrte Ed. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch er klang nicht wie ein Mann, der bereit war, zu vergeben und zu vergessen.
Clare stand im Türrahmen, Russ füllte den winzigen Flur zwischen Toilette und dem Rest des Zimmers, und sie wollte sich nicht an ihm vorbeidrängen, deshalb blieb sie, wo sie war.
»Warum sprichst du nicht ein bisschen leiser, Ed?« Russ klang gleichzeitig beruhigend und autoritär wie ein Sergeant mit zwanzig Dienstjahren, der einen verängstigten Gefreiten zur Räson brachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das gesamte Krankenhaus in deine Angelegenheiten einweihen willst.« Er nickte in Richtung des Bettes. »Becky, ich bin froh, dass es Ihnen bessergeht. Lyle.«
Clare schob sich hinter Russ an der Wand entlang, bis sie Lyle MacAuley ausmachte, der am Fenster lehnte.
»Du bist hier nicht willkommen!« Das war Ed. Sie konnte ihn nach wie vor nicht sehen, aber das brauchte sie auch nicht. Die Wut, die in seiner Stimme lag, sprach für sich.
»Ed, es tut mir leid, was heute Nachmittag passiert ist. Ich bedauere es wirklich, und ich wünschte, ich wäre nie in eine Situation geraten, in der ich mich zwischen einem Freund und meinem Beruf entscheiden muss. Aber ich wäre kein Polizist und ich würde nicht für die Sicherheit der Menschen dieser Stadt sorgen, wenn ich anders gehandelt hätte.«
»Sicherheit? Sicherheit?« Clare hörte ein Aufstampfen. »Sieh dir mein kleines Mädchen doch an! Das nennst du Sicherheit? Wenn hier keine Damen anwesend wären, würde ich dir sagen, wohin du dir deine Entschuldigung schieben kannst.«
»Ed«, sagte seine Frau beruhigend.
Russ trat ins Zimmer, und jetzt konnte Clare die Castles sehen.
Ed stand kampflustig am Kopfende von Beckys Bett; Suzanne erhob sich gerade von einem Stuhl und streckte ihm die Hände entgegen. Als Russ noch einen weiteren Schritt in Richtung seines Deputy Chief tat, hatte Clare endlich freie Sicht auf Becky.
Und keuchte.
Lyles Blick wanderte zu ihr. Seine buschigen Brauen hoben sich, ob vor Überraschung oder zum Gruß konnte sie nicht feststellen. Suzanne erblickte sie ebenfalls; die ältere Frau verzog ihren Mund zu einem Mittelding zwischen Grimasse und Lächeln. Ed behielt Russ im Blick.
»Ich bin nicht hier, um mich zu entschuldigen«, sagte Russ. »Lyle und ich müssen mit Becky reden.«
»Mit ihr reden? Was stimmt eigentlich nicht mit euch? Sie hat euch gesagt, wer sie zusammengeschlagen hat. Ich habe euch seine Adresse gegeben. Was sollen wir sonst noch tun, ihn selbst verhaften?«
»Wir sind zu Randy Schoofs Haus gefahren«, sagte Lyle. »Er ist nicht zu Hause, aber wir haben einen Beamten vor seiner Einfahrt postiert; ich habe einen Freund befragt, bei dem er vorher war. Der Freund gibt ihm ein Alibi, aber er hat uns eine Reihe von Orten genannt, an denen Schoof sich aufhalten könnte.«
»Prima. Fahrt los und findet den kleinen Scheißer.«
»Das haben wir vor, Ed. Aber wir müssen allen Spuren nachgehen.« Lyle drehte sich um, so dass er Becky direkt ins Gesicht sah. Er lächelte sie an, als wäre sie noch immer ein hübsches Mädchen. »Becky, kennen Sie einen Mann namens Shaun Reid?«
»Sicher.« Ihr verletzter Mund zwang sie zum Nuscheln. »Ihm gehört die Fabrik Reid-Gruyn, Papier und Pulpe.«
»Was für eine Beziehung haben Sie zu Shaun Reid?«
Trotz der Nähte runzelte Becky die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Ist sie beruflich? Privat?«
»Ich habe gar keine Beziehung zu ihm. Ich weiß, wer er ist, das ist alles.«
Lyle warf einen flüchtigen Blick auf Ed und Suzanne, den elterlichen Schutzwall. »Vielleicht sollten wir das nicht in Anwesenheit Ihrer Eltern besprechen.«
»Zum Teufel damit«, fuhr Ed auf. »Die Fragen, die du Becky stellst, kannst du in unserer Gegenwart stellen.«
Lyles kühler Blick suchte Russ. Russ nickte fast unmerklich. »Becky«, fragte Lyle, »haben Sie ein Verhältnis mit Shaun Reid?«
»Wa’? Nein!«
»Um Himmels willen, Reid ist verheiratet. Und er ist praktisch in meinem Alter. Was hat das mit dem Überfall auf Becky zu tun?«
Lyle ignorierte Ed. »Becky, wir haben gehört, dass in der Stadt Gerüchte umgehen, Sie hätten eine Affäre mit Shaun Reid. Wir möchten wissen, ob etwas Wahres daran ist und ob es noch etwas gibt, das Sie uns über den Überfall auf Sie erzählen wollen.«
»Randy Schoof hat mich zusammengeschlagen.« Becky sprach langsam, sprach die Wörter sehr deutlich aus. »Weil ich ihm die Kamera nicht geben wollte. Ich kenne Shaun Reid nicht persönlich.«
»Ihr habt es gehört. Jetzt verschwindet und verhaftet diesen Schoof, ehe ich …«
Russ hob die Hand. »Ed, du willst in Anwesenheit zweier Gesetzeshüter garantiert keine Drohungen ausstoßen.«
Suzanne trat zum ersten Mal näher und legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. »Bitte. Findet den Mann, der das getan hat.« Sie sah erst Russ an, dann Lyle. »Bitte.«
Lyle warf Russ einen Blick zu und sah etwas, an dem Clare keinen Anteil hatte. Der Deputy Chief nickte. »Das werden wir, Suzanne. Passt auf euch auf. Ich gebe euch Bescheid, sobald wir neue Informationen haben.« Er schob sich an Russ vorbei und verschwand im Flur.
»Ed«, sagte Russ. Der ältere Mann funkelte ihn wütend an. »Es tut mir leid.«
Ed winkte ab. »Reden kosten nichts. Beweis es, indem du den Scheißer Randy Schoof verhaftest.«
Sie hörte Russ tief Luft holen, als wollte er noch etwas sagen. Stattdessen nickte er, wie Lyle es getan hatte, und stapfte aus dem Zimmer.
Clare trat an die Stelle, die er geräumt hatte. »Hi.« Sie setzte ein munteres Lächeln auf. »Ich dachte mir, ich schau vorbei und erkundige mich, wie es Ihnen geht.«