11:35 Uhr
Russ schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück, Frustration wie einen bitteren Geschmack im Mund. Er hatte eine Stunde damit verbracht, McWhorters ausfindig zu machen, auf der Suche nach einem Michael, der Millie van der Hoevens Geliebter sein mochte. Ohne Erfolg.
Harlene Lendrum lehnte an seiner Bürotür, die er nur halb geschlossen hatte, damit die warme Luft zirkulieren konnte. In einer Hand hielt sie eine Kaffeekanne. »Na ja, es ist zwar kein Geburtstagskuchen oder Champagner, aber Sie können den Rest haben, wenn Sie möchten.«
»Die Einladung kann ich ja wohl kaum ablehnen. Drei Stunden alter Kaffeesatz. Lecker.«
Harlene spießte ihn mit einem Blick auf. »Niemand hat Sie gezwungen, an Ihrem Geburtstag hierherzukommen, Mister, also lassen Sie es nicht an mir aus.« Die Disponentin, die zwei frühere Polizeichefs überdauert hatte und ihn vermutlich ebenfalls überleben würde, hielt nicht viel von Rang oder Dienstbeflissenheit.
»Entschuldigung.« Er klopfte mit dem Bleistift auf die Unterlagen, an denen er arbeitete. »Diese Suche macht mich verrückt. Den richtigen Typ zu finden ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ich habe alle Michael McWhorters und M. McWhorters ausgedruckt und mir den Stapel mit Noble geteilt.« Noble Entwhistle, seit fünfzehn Jahren bei der Polizei von Millers Kill, war Russ’ erste Wahl, wenn es um solche Arbeiten ging. Noble hatte keinen einzigen originellen Gedanken im Kopf, aber er war hartnäckig, pedantisch und damit zufrieden, den ganzen Tag an Türen zu klingeln, Leute zu befragen und Namenslisten zu überprüfen. Arbeiten, die einen intelligenteren Mann wie den ehrgeizigen Mark Durkee in den Wahnsinn treiben würden.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie eben am Telefon keinen möglichen Verdächtigen aufgescheucht«, bemerkte Harlene.
Er grunzte. »Ich habe alle aussortiert, von denen ich weiß, dass sie zu alt oder zu verheiratet für das Mädchen sind, aber auf der Liste bleiben noch immer eine Menge Namen übrig.«
»Älter und verheiratet sind für Mädchen keine Hinderungsgründe.«
Er sah sie scharf an. Ihre Miene war ausdruckslos. »Ich musste was tun, um die Anzahl zu reduzieren, sonst sitze ich den ganzen Tag hier rum. Es gibt einfach zu viele verdammte McWhorters.«
»Ehe Sie sich weiter über McWhorters auslassen, möchte ich Sie daran erinnern, dass meine Mutter eine geborene McWhorter war.«
»Meine Großmutter mütterlicherseits ebenfalls. Ich bin sicher, dass wir zwei irgendwie verwandt sind.«
Harlene tätschelte ihre federnden grauen Löckchen. »Man erkennt es an unserer Ähnlichkeit.« Harlene war gut zehn Jahre älter und einen Kopf kleiner als er, so geradeaus und eckig wie eine verwitterte Holzplanke.
»Ähem«, wich er aus. »Ich werde meine Mum fragen. Sie wissen, wie sie ist. Liebt diesen ganzen Genealogiekram.« Die Idee folgte dieser Aussage auf dem Fuß. »Meine Mutter.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie wissen, wie sie ist,« wiederholte er. »Was liebt sie mehr als Ahnenforschung?«
»Ihre Kreuzzüge. Rettet die Wale und geht wählen und so weiter.«
»Exakt. Sie ist die Präsidentin des lokalen Ablegers der Adirondack Conservancy Corporation. Und ich wette fünf Dollar für die Kaffeekasse, dass sie ein oder zwei Dinge über das vermisste Mädchen weiß. Eugene van der Hoeven sagte, seine Schwester hätte sich mit den hiesigen Mitgliedern der ACC getroffen.« Er stand auf. »Ich fahre zu meiner Mutter. Ich lasse das Funkgerät im Truck an, für den Fall, dass Sie mich erreichen müssen.«
Seine Disponentin beäugte seine ausgebeulte Tarnhose und das langärmelige Thermohemd. »Falls Sie ab sofort im Dienst sind, sollten Sie einen Polizeiwagen nehmen und sich umziehen. Sie bewahren doch eine Reserveuniform in Ihrem Spind auf, oder?«
Er tat ihren Vorschlag ab. »Sobald ich eine Spur von diesem Michael McWhorter habe, bin ich weg. Ich will heute Nachmittag einen guten Thriller lesen.«
Sie schnaubte. »Jetzt weiß ich, dass Sie Ihre besten Jahre hinter sich haben. Freinehmen, wenn ein aktueller Fall anliegt? Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«