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Sie dachte über die Decken nach. Konnte man sie irgendwie als Waffe verwenden? Um sich zu verteidigen? Sie waren zu fest, um sie zu zerreißen. Eine war aus dicker Wolle, fast eine Pferdedecke, die Art, die man als oberste Bettdecke benutzt, weil sie kratzt, wenn sie zwischen Laken und Überdecke steckt. Die beiden anderen waren moderner, edle Kunstfaserdinger, weich und warm. Die Kanten waren mit Satin eingefasst. Die konnten nützlich sein. Falls sie eine Möglichkeit fand, den Satin von den Decken abzureißen.
Es war wirklich komisch. All diese Jahre, in denen sie versucht hatte, ihren Besitz abzuwerfen und herauszufinden, was wirklich sie selbst ausmachte und was im Gegensatz dazu mit dem Geld ihrer Familie erworben war. Als Erwachsene hatte sie es mit dem einfachen Leben probiert, erst aus Überzeugung und dann aus Notwendigkeit, während ihr Vermögen schwand und ihre Unterstützung verschiedener Organisationen wuchs. Wenn sie die Tatsachen ignorierte, dass sie für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten musste, im Appartement ihres Vaters an der Park Avenue in New York oder im Ferienhaus ihrer Mutter in Palm Beach leben könnte, konnte sie so tun, als führte sie ein ähnliches Leben wie die meisten ihrer Freunde.
In ihrer Zelle erkannte sie, wie erbärmlich sie sich selbst zum Narren gehalten hatte, auch ohne die Häuser ihrer Eltern und die große Ferienanlage und die Internate und Auslandsreisen. Sie war trotzdem reich. Sie besaß ein Haus und ein Auto und tausend Dinge, die beides füllten: Möbel und Kleidung und Campingausrüstung und CDs und Töpfe und Pfannen und scharfe, lange Messer, die in ihrem eigenen Block aus Kirschholz steckten. Was würde sie nicht darum geben, diese Messer in der Hand zu halten. Jetzt. Jetzt, da alle irdischen Güter auf die Kleidung reduziert waren, die sie am Körper trug, auf eine eiserne Schraube und drei Decken.
Und einen Zwanzigliter-Eimer aus Kunststoff. Wenn derjenige, wer auch immer sie gefangen hielt, zurückkam, konnte sie den Urin über dessen Schuhe gießen.
Wenn derjenige, wer auch immer sie gefangen hielt, zurückkam. Sie hatte sich so ausschließlich auf eine Möglichkeit zur Flucht konzentriert, dass sie die Tatsache, verschwunden zu sein, völlig ignoriert hatte. Sie war nicht dort, wo sie sein sollte. Man würde nach ihr suchen. Oder?
Sie musterte die Decken. Die Schießscharten. Wieder die Decken. Sie schlurfte zu dem Haufen. Die schwerste, dachte sie. Sie zog sie mit einem Stiefel heraus, balancierte vorsichtig, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sobald sie ein annehmbar großes Stück herausgezogen hatte, hoppelte sie zum nächsten Fenster, die Decke unter den Stiefelsohlen mitschleifend. Es war genauso schwierig wie das Aufstellen des Eimers – Schritt, nachziehen, Schritt, nachziehen –, aber wenigstens erschwerte momentan keine volle Blase ihr Denken. Stattdessen wurde sie von der Vorstellung verfolgt, dass ihre unbekannten Entführer jeden Moment wieder auftauchen konnten.
Die schwere Wolldecke glitt aus dem Haufen Decken hervor. Sie schlurfte zurück, stellte sich auf die hintere Kante und schob sie über den Boden. Als sie sie unter der Schießscharte zu einem Knäuel zusammengeschoben hatte, dachte sie einen Moment nach und ließ sich dann auf die Knie fallen. Langsam von der Decke herunterrutschend, beugte sie sich nach vorn wie ein Bittsteller vor einer allmächtigen Gottheit und schob ihren Kopf so weit wie möglich unter die schweren Falten der Decke. Fest gegen die Steinmauer gedrückt, schob sie sich nach oben. Die Decke glitt mit. Zentimeterweise arbeitete sie sich voran, bis ihre kniende Gestalt ein äußerst unbequemes Dreieck mit der geschwungenen Wand bildete.
Jetzt kam der schwierigste Teil. Sie drückte sich gegen die Steine, bis sie glaubte, ihr Schädel würde brechen, krümmte die Zehen und schob mit aller Kraft ihrer Oberschenkel. Ihre Beine streckten sich, ihr Hals zitterte, und ihr Kopf glitt mit Hilfe der weichen Decke aufwärts. Sie stand. Sie rutschte an der Wand empor. Die eingeklemmte Decke bewegte sich mit ihr, bis sie unter ihrem Kopf eine Veränderung im Winkel der Steinmauer spüren konnte. Die weite Öffnung. Sie schob, drehte den Kopf, bis ihr Gesicht in der kratzigen Wolle begraben war. Im Kampf um die letzten Zentimeter stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Sie spürte, wie die Decke nach oben wanderte, dann hängenblieb. Mit an die Steine gepresster Brust, um die Decke am Hinabgleiten zu hindern, riskierte sie es, den Kopf zu heben.
Die Decke war in der Schießscharte hängengeblieben. Sie beugte sich wieder vor, schob mit dem Kopf das herabhängende Ende nach oben, zwängte mehr Tuch in die Öffnung. Das Knäuel wuchs. Mittlerweile musste die Hälfte draußen hängen. Einen Moment lang erwog sie, alles so zu lassen, aber dann wurde ihr klar, dass Leute vorbeigehen mochten, ohne den Blick zu ihrem Banner zu erheben. Sie presste ihr Gesicht gegen die Wolle und sprang auf, so gut sie konnte – eine unbeholfene en pointe in Stiefeln.
Es funktioniert. Die Decke rutschte durch die Schießscharte und war verschwunden. Sie hörte nichts außer einem leisen Krachen, als sie sich in einem dünnen Zweig verfing und dieser brach. Lag sie wie eine ausgebreitete Picknickdecke auf der Erde? Drapiert über ein Brombeergestrüpp? Egal. Sie war groß, sie war weiß und rot und gelb und grün. Sie gehörte nicht dorthin. Sie würde jedem auffallen, der vorüberkam.
Sie dachte daran, wie sie in der Öffnung gehangen hatte, halb drin, halb draußen. Sie betrachtete eine der übrigen Decken, ein flauschiges, flaumiges Lavendel. Sie stellte sich vor, wie jemand vom Suchtrupp die Wolldecke auf der Erde bemerkte, sich umsah, eine andere Decke aus einer der Schießscharten hoch über dem Boden wehen sah. Stellte sich freundliche Schritte vor, die die Treppe heraufpolterten. Stellte sich vor, wie jemand sagte: Halten Sie durch, ich hole Sie im Handumdrehen hier raus.
Sie schlurfte zum Deckenstapel und begann zu zerren.