14:35 Uhr
John Huggins war auf hundertachtzig. »Sie meinen, es war gar nicht Millie van der Hoeven?«
»Nein«, erwiderte Russ zum dritten Mal. Er befand sich in van der Hoevens Arbeitszimmer, saß im Stuhl des toten Mannes, benutzte das Telefon des toten Mannes. Im Augenblick war er kein glücklicher Mann.
»Na, ich will verdammt sein.« Huggins schwieg kurz. »Ich habe nicht so einfach beschlossen, die Suche abzublasen, wissen Sie. Van der Hoeven hat mir mitgeteilt, seine Schwester sei gefunden worden. Wenn hier jemand Mist gebaut hat, dann er.«
Russ rieb sich unter der Brille die Nasenwurzel. »Eugene hat … sich geirrt. Ist die Suchmannschaft geschlossen aufgebrochen? Oder sind Sie nach und nach gefahren?«
»Nein, ehe wir eine Suche abblasen, zählen wir immer die Leute durch und kontrollieren die Ausrüstung. Wir sind alle gleichzeitig aufgebrochen.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Gegen elf Uhr dreißig.«
Genau zu der Zeit war Becky Castle mit dem Krankenwagen in die Stadt gebracht worden. »Hat jemand von Ihnen Eugene van der Hoeven gesehen?«
»Sicher. Er kam raus und hat sich bei uns für die Hilfe bedankt.«
»War er drinnen oder draußen, als Sie gefahren sind?«
»Im Haus. Er ging hinein, nachdem er mit uns gesprochen hatte. Ich nahm an, er würde sich fertig machen, um zu seiner Schwester ins Krankenhaus zu fahren.«
»Ist noch jemand von Ihrer Mannschaft im Haus gewesen, ehe Sie alle losgefahren sind?«
Neben dem Telefon lag ein Stapel Kataloge. Russ nahm den obersten zur Hand. Jagdausrüstung. Er blätterte noch ein paar durch. L. L. Bean, Eddie Bauer, Militärklamotten. Das ergab Sinn. Ein Mann wie Eugene van der Hoeven mit seiner krankhaften Angst, Haus und Grund zu verlassen, erledigte vermutlich seine gesamten Einkäufe per Telefon.
»Nein. Was, zum Teufel, ist denn los?«
Russ zog einen weiteren Katalog heraus. »Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Ist Ihnen etwas Seltsames oder Ungewöhnliches aufgefallen, überhaupt irgendetwas, zwischen dem Ende der Suche und Ihrem Aufbruch?«
»Nein.« Huggins zögerte, dann sagte er: »Doch. Gewissermaßen. Auf der Strecke zum Highway kam mir ein Auto entgegen. Nicht eigentlich entgegen. Es war so weit wie möglich zum Fahrbahnrand ausgewichen, um uns vorbeizulassen. Wir waren eine ziemlich lange Kolonne.«
»Was für ein Auto?«
»Ein schwarzer Mercedes. Sah ziemlich neu aus, aber Sie wissen ja, wie das ist. Schwer zu sagen.«
»Haben Sie das Modell erkannt?«
Huggins lachte. »Komme ich Ihnen wie ein Mann vor, der häufig um Mercedeslimousinen herumschleicht? Fragen Sie mich nach Chevys, da kenne ich mich aus. Es war eine viertürige Limousine, New Yorker Kennzeichen, mehr weiß ich nicht.«
»Konnten Sie sehen, wer drin saß?«
»Irgendein Typ. Von meinem Blickwinkel aus konnte ich keine Einzelheiten erkennen. Mein Fahrersitz liegt viel höher als ein Mercedes.« Er wurde ernst. »Hören Sie, wenn Millie van der Hoeven immer noch vermisst wird, sollte ich da nicht die Mannschaft zusammentrommeln?«
»Ist Ihre Hundeführerin wieder da?«
»In diesem Moment auf dem Rückweg von Plattsburgh.«
Russ dachte einen Augenblick nach. »Wir stecken mitten in den Ermittlungen, deshalb kann ich Ihre Leute hier oben nicht brauchen, ehe wir das Feld geräumt haben. Aber alarmieren Sie sie schon mal, besonders die Hundeführerin.«
»Okay.« Seine Neugier brachte Huggins offensichtlich fast um, und nur sein Selbstbild als abgebrühter Profi hielt ihn davon ab, zusammenzubrechen und Russ anzuflehen, ihm zu verraten, was vor sich ging.
Russ verabschiedete sich und legte auf. Draußen kauerte Lyle MacAuley vor dem dritten Stellplatz der Garage und musterte mit zusammengekniffenen Augen die dort abgestellte Schubkarre.
»Was hältst du davon?«, fragte Russ.
»Sie wurde benutzt. Heute. Schau mal.« Er wies auf einen abgerissenen Grashalm, noch grün, der in einem der Erdklümpchen klebte. »Der ist frisch.« Er stand auf und streckte sich. »Ich brauche keinen geschniegelten Laboranten, der mir das bestätigt. Und sieh dir mal den Griff an.« Er zeigte darauf. »Blutspuren.«
»Ja, die sind mir auch schon aufgefallen.« Russ rieb seine Nasenwurzel. »Als ich Ed in Gewahrsam genommen habe, habe ich keine offenen Wunden bemerkt.«
»Was ist mit van der Hoevens Leiche?«
Russ schüttelte den Kopf. »Ich habe Emil Dvorak gebeten, uns die vorläufigen Ergebnisse so schnell wie möglich zu übermitteln. Irgendwas an der ganzen Sache« – mit einer Geste umfasste er Karre, Haus und die tiefen Wälder dahinter – »kommt mir nicht geheuer vor.«
»Ich weiß nicht. Mir gefällt Ed Castle als Verdächtiger ganz gut. Er kommt her, überfährt van der Hoeven mit seinem Geländewagen und entledigt sich der Leiche am Arsch der Welt.« Lyle spreizte die Hände, als präsentierte er ein Fait accompli. »Und wir sind rechtzeitig zu den Abendnachrichten wieder zu Hause.«
»Hier war noch jemand.«
Lyles wuchernde Brauen wanderten nach oben.
»John Huggins hat einen schwarzen Mercedes gesehen, der den Weg nach Haudenosaunee raufgefahren ist, als die Suchmannschaft runterkam.«
»Passt wie angegossen.«
»Huggins hat weder Modell noch Baujahr identifizieren können, nur, dass es eine Limousine mit New Yorker Kennzeichen war.«
»Toll. Ich bin sicher, dass es nicht mehr als zwei-oder dreihunderttausend Mercedeslimousinen in New York gibt. Allein in Saratoga sind es vermutlich mehr als hundert. Ich werde mich sofort darum kümmern.«
»Van der Hoevens Zeitleiste weist Lücken auf«, sagte Russ. »Eine oder anderthalb Stunden zwischen der Abfahrt der Suchmannschaft und dem Zeitpunkt, an dem Ed und er hier entdeckt wurden.«
»Irgendwelche potenziellen Zeugen?«
»Eine Putzfrau, die stundenweise hier gearbeitet hat. Ich kann mich nicht an ihren Vornamen erinnern, aber mit Nachnamen heißt sie Schoof. Sie ist Mark Durkees Schwägerin.«
»Lisa.«
»Gutes Gedächtnis.«
Lyle warf ihm einen anzüglichen Blick zu. »Du bist ja vielleicht zu alt, um so was zu bemerken, aber der Tag, an dem ich den Namen einer attraktiven Frau vergesse, ist der Tag, an dem du mich mit einer Schubkarre wegrollen kannst.«
»Ich funke Kevin Flynn an. Er soll sie befragen. Ihr Ehemann hat sie abgeholt, vielleicht hat er auch was gesehen.«
»Kevin?« Lyle sah skeptisch drein. »Bist du sicher?«
»Irgendwann muss er ja mal anfangen.«
»Was ist mit mir?«
Russ grinste. »Du hast nicht nur schon angefangen, du bist verdammt nah am Ende.«
»Klugscheißer. Was soll ich machen?«
Das tatütata einer Sirene unterbrach Russ, ehe er antworten konnte. Er sah zu, wie ein Lieferwagen mit getönten Scheiben und der Aufschrift NYSP SPURENSICHERUNG zwischen Lyles und Noble Entwhistles Streifenwagen einparkte. Russ war erleichtert, als Sergeant Jordan Hayes auf der Fahrerseite ausstieg. Hayes hatte schon früher Tatorte für die Polizei von Millers Kill gesichert, und für die hiesigen Vertreter des Gesetzes kam er dem Ideal eines State Troopers ziemlich nah – klug, bereit, Anweisungen zu befolgen, und nicht willens, sich von der Gerichtsbarkeit herumschubsen zu lassen.
»Du wolltest mir sagen, was ich tun soll«, drängte Lyle.
»Sicher. Fahr rüber zum Krankenhaus und nimm Becky Castles Aussage auf. Sie hat die Operation hinter sich.«
Lyle wirkte überrascht. »Das Krankenhaus hat bei dir angerufen?«
»Äh.« Russ zwang sich, dem Blick seines Deputy Chiefs nicht auszuweichen. »Nein. Ich habe mit Reverend Fergusson telefoniert. Sie hat es mir gesagt.«
»Aha.« Lyle zögerte. »Weißt du, mit fünfzig solltest du eigentlich zu alt und zu klug sein, um dein Leben zu ruinieren.«
Halt dich da raus. Halt dich einfach raus. Russ lief über den Kies zum Lieferwagen, wo ein weiterer Techniker Hayes dabei half, die Ausrüstung auszuladen.
»Sergeant Hayes«, begrüßte Russ diesen mit ausgestreckter Hand.
Der Polizist schüttelte sie kurz. »Chief Van Alstyne.«
»Alles bereit, damit wir hier schnell fertig werden?«
»Worauf Sie wetten können. Zeigen Sie uns den Weg.«
Russ drehte sich zu einem der Streifenwagen um. »Noble«, rief er.
Noble Entwhistle löste sich aus seiner entspannten Haltung an der Seite des Wagens.
»Sie begleiten mich.« Russ zeigte mit dem Finger auf Lyle, der zu ihm herübergeschlendert war. »Du. Ab ins Krankenhaus.« Er senkte die Stimme. »Benimm dich.«
»Komisch«, erwiderte Lyle. »Dasselbe wollte ich dir auch gerade sagen.«