21:10 Uhr

Jeremy gönnte sich sechzig Sekunden, um zu fluchen und auf den Boden zu stampfen bei der Vorstellung, wie sein Vater über ihn herfallen würde, weil er eine der Erpresserinnen in seinem eigenen BMW hatte entkommen lassen.

Nachdem eine Minute vergangen war, konzentrierte er sich auf die anstehende Aufgabe. Die kleine dunkelhaarige Frau, die geschrien hatte, dass ihr Mann dort drin war, stand schluchzend und von Schluckauf geplagt neben dem gemächlich brennenden Eingang und rief mit schmerzerfüllter Stimme immer wieder: »Randy! Randy!«

Jeremy trat zu ihr. Mit feuchtem Gesicht blickte sie zu ihm auf. »Bitte«, flehte sie. »Helfen Sie ihm!«

»Das werde ich«, versprach er. »Aber Sie müssen auch helfen.« Sie nickte heftig. »Gehen Sie zur neuen Fabrik. Hinter dem Angestellteneingang hängt ein Telefon. Rufen Sie die Feuerwehr.« Sie nickte wieder. »Suchen Sie den Vorarbeiter. Sagen Sie ihm, die Männer sollen alle Feuerlöscher im Gebäude einsammeln und hierherbringen. Haben Sie das verstanden?«

»Vorarbeiter. Feuerlöscher.«

»Sagen Sie ihm, Jeremy Reid hätte Sie geschickt.« Unter anderen Umständen wären ihre vor Schreck weit aufgerissenen Augen bei der Nennung seines Namens komisch gewesen. »Richtig, Jeremy Reid. Lassen Sie meinen Vater in Ruhe.«

Sie rannte ohne ein weiteres Wort davon, und Jeremy wandte sich der alten Fabrik zu. Falls er hineingelangte, sollte es ihm möglich sein, ein Fenster zur Flussseite einzuschlagen und zu springen. Er war ein guter Schwimmer, zuversichtlich, dass er selbst einen verängstigten, verletzten Mann die Zeit über Wasser halten konnte, die es dauerte, das Ufer unterhalb der Fabrik zu erreichen. Falls er durch das Feuer kam. Ins Wasser. Feuer. Wasser.

Er grinste und stürmte zum Fluss, der hinter der alten Fabrik entlangströmte. Er kletterte wesentlich schneller, als er beabsichtigt hatte, die steile Böschung hinunter und stolperte die ersten paar Stufen ins schwarze Wasser. Hier unten war es dunkel, Dunkelheit, eine schnelle Strömung und steile Ufer. Er hatte Angst, zu stürzen oder die Orientierung zu verlieren, wenn er hineinwatete, deshalb zwang er sich, sich ins knietiefe Wasser zu setzen, sich zu setzen, zu strecken, und den Kopf unter die Oberfläche zu tauchen.

Keuchend und würgend kam er wieder hoch. Allmächtiger, es fühlte sich an, als hätte ihn jemand in einen Nussknacker gesteckt. Er stolperte tropfnass die Böschung hoch und umklammerte dabei seine armen geschundenen Eier. Ein Wunder, wenn er nach diesem Erlebnis noch Kinder zeugen konnte.

Angesichts der brennenden Tür fragte er sich, ob anständiges Untertauchen reichte. Dann dachte er an den armen Bastard, der dort drin gefangen war. Es musste reichen. Er zog seine tropfnasse Anzugjacke aus, hängte sie sich über den Kopf und rannte hinein.

Durchs Feuer rennen: Prasseln und Zischen und ein Geruch, nicht Rauch, sondern Benzin; die Hitze kochte, seine Hemdsärmel knitterten, die Hosenbeine wurden steif; und dann war er durch, dampfend, aber unversehrt. Er stolperte vorwärts, wich den antiken Maschinen aus, fragte sich, was passieren würde, wenn das Feuer diese Ungeheuer erreicht hatte. Würden sie schmelzen? Explodieren? »Hallo!«, rief er. »Randy? Bist du hier drin?«

Über das gierige Prasseln der Flammen hinweg hörte er ein Geräusch, eine Mischung aus Schluchzen und Rufen. »Hier! Ich bin hier drüben!«

Jeremy folgte dem Klang zur hinteren Mauer. Er erwartete – er wusste nicht, was er erwartete, aber auf keinen Fall einen Kerl in seinem Alter, der zwischen einem Rucksack und Lebensmitteln auf dem staubigen Boden lag und aus einer Wunde blutete, die ein eiserner Stab hinterlassen hatte. Jeremy ließ sich auf die Knie fallen. »Jesus Christus!«, sagte er »Was ist passiert?«

»Millie. Sie hat dieses Ding …« Randy wies auf die Wunde. Eine Handbreit schwarzes Eisen ragte aus seinem Bauch. »Ich hab’s nicht rausgezogen«, sagte er schwach. »Ich dachte, dann blutet es noch mehr.«

Jeremy legte Randy sanft die Hand auf die Schulter. »Genau richtig, Mann. Guter Gedanke.« Er schaute auf und erkannte augenblicklich, dass seine Ab-durch-das-Fenster-Idee einen ernsthaften Makel aufwies. Die Fenster zum Fluss befanden sich drei Meter über seinem Kopf. »Ganz ruhig, Mann. Ich hol dich hier raus. Ich muss mich umsehen, aber ich lass dich nicht im Stich. Hast du mich verstanden?«

Randy nickte. »Es tut mir leid«, sagte er.

Jeremy stand auf und drehte sich um. Er musterte die Maschinen. Konnte er eine unter das Fenster schieben? Als Plattform? Er versuchte, ein paar der planenbedeckten Formen zu schieben, und stellte fest, dass er sie ohne Gabelstapler nicht verrücken konnte. Er ging dichter an das Feuer heran, schnappte sich eine Palette und zerrte sie zur hinteren Mauer. Er kehrte um, nahm eine andere und schleppte sie weg. Er holte noch eine dritte vom Stapel, aber mittlerweile hatte sich das Feuer zu weit ausgebreitet, und er musste auf den Rest verzichten. Er streifte durch die bizarr erleuchtete Halle, suchte unter den Resten von hundertdreißig Jahren Papierherstellung nach weiteren Paletten. Er entdeckte vier, die vielleicht haltbar genug waren, um sie zu verwenden. In Gedanken rechnete er aus, wie weit sie an der Wand hochreichen würden. Aufeinandergestapelt mochten sie hoch genug sein, damit er im Sprung einen der Fensterflügel erreichen konnte. Aber Randy konnte er nicht mitnehmen.

Auf seiner Runde durch das Gebäude hatte er den Waschraum entdeckt. Er verdrängte das leise Hämmern der Panik in seinem Brustkorb und machte sich daran, ihn zu untersuchen. Er war klein und stank, als wären Ratten in den Wänden verendet. Das einzige Fenster war unmöglich zu erreichen. Aber zu seinem Erstaunen funktionierte die Spülung noch, und als er an der Kette zog, spritzte Wasser in die Schüssel.

Einen Moment dachte er daran, sich noch einmal zu übergießen und zum Eingang durchzubrechen. Das Feuer hatte sich ausgeweitet – ihm schien, als verbreitete es sich unnatürlich schnell –, aber ein durchnässter Mann, der mit Höchstgeschwindigkeit rannte, konnte es vermutlich trotzdem schaffen. Ein Mann ohne Last.

Im Widerschein der Flammen betrachtete er das Wasser. Zu Zeiten seines Großvaters war das hier vermutlich die Angestelltentoilette gewesen. Ganz plötzlich fühlte er sich traurig, krank und stolz.

Er kehrte zu Randy zurück. Mittlerweile konnte er die drückende, drängende Hitze spüren, selbst hier am Rand der Mauer zum Fluss. Er kniete sich hin. Randys Augen waren geschlossen. »Hey, Mann. Bist du noch da?«

»Ja.«

»Großartig.« Jeremy versuchte, so zuversichtlich wie möglich zu klingen. »Hör mal, wir müssen hier aushalten, bis die Feuerwehr kommt. Sie ist schon unterwegs. Deine Frau hat sie gerufen.«

»Lisa?«

»Ja.«

»Ist sie okay?«

»Ihr geht’s prima. Und uns bald auch. Achtung, ich heb dich jetzt hoch. Das könnte weh tun.«

Randys Wimmern, als Jeremy ihn anhob, ging in Jeremys Stöhnen fast unter. »Jesus, Mann«, keuchte er, während er durch den Raum wankte. »Du bestehst ja nur aus Muskeln.«

»Ja.« Randy quetschte das Wort heraus.

Jeremy schob sich seitwärts durch die Tür zur Toilette und legte den anderen Mann auf den Boden. »Bin sofort wieder da!«, sagte er, nach Luft ringend. Er schnappte sich die erste Plane, die er finden konnte, zerrte sie von der Maschine und hinüber zur Tür der Toilette. Dasselbe machte er mit einer weiteren Plane, wobei er sich beeilte, weil er das Feuer sehen konnte, es buchstäblich springen und strömen und mehr und mehr von der Fabrik seines Urgroßvaters beanspruchen sah. Zum Schluss holte er ein Glas mit Pickles, das er halb versteckt hinter Randys Rucksack entdeckt hatte. Er schraubte es auf und kippte Flüssigkeit und Pickles aus, während er zur Toilette raste und es in die Schüssel hielt. Er übergoss Randy mit Wasser, dann sich selbst, den Boden, die Planen. Er goss und zog ab, goss und zog ab, bis ihm klarwurde, dass er das Innere des winzigen Raums im Schein des Feuers klar erkennen konnte. Das Tosen hatte die hintere Wand erreicht.

Er ließ das Einweckglas in die Toilette fallen, wuchtete die Planen in den Waschraum und schloss die Tür. Durch die Dunkelheit tastete er sich zu Randy und zerrte die feuchten Planen über sie, bis sie beide vollständig bedeckt waren. »Das erinnert mich daran, wie wir als Kinder immer zelten gespielt haben«, sagte er. »Kennst du das, einfach mit Decken?«

Randy machte ein Geräusch, halb Zustimmung, halb Schmerz. Jeremy streifte sein Jackett ab, rollte es zusammen und schob es unter Randys Kopf. »Nur Mut, Mann«, sagte Jeremy. »Hilfe ist unterwegs.«

»Es tut mir leid« flüsterte Randy.

»Dass du versucht hast, meinen Dad zu erpressen? Das sollte es auch. Wenn wir hier raus sind, fängst du ein neues Leben an, okay?«

»Es tut mir leid … ich dachte, du wärst ein reicher Popel.«

»Ich bin ein reicher Popel«, erwiderte Jeremy lächelnd.

»Warum hilfst du mir?«

Jeremy dachte einen Augenblick nach. »Na ja, weißt du.« Er wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte. »Du, ich, wir alle sind Menschen. Wir müssen doch füreinander da sein.«

Schweigen setzte ein. Jeremy lauschte dem gedämpften Röhren des Feuers. Er hörte keine Sirenen. Er sagte sich, dass er dazu auch nicht in der Lage war, bei all dem Lärm. Schließlich machte Randy den Mund auf. »Falls du durchkommst, aber ich nicht, würdest du mir dann einen Gefallen tun?«

»Du kommst hier raus. Keine Angst.«

»Tust du es?«

Jeremy kniff die Augen ganz fest zu. Er konnte spüren, wie heiße Tränen in seine Augen stiegen. »Ja«, flüsterte er.

»Sag Becky Castle, dass es mir leidtut.«

»Das ist alles?«

»Ja.«

Jeremy legte Randy den Arm um die Schultern und drückte ihn. Randys Hand kam zitternd nach oben und tätschelte Jeremys. Sie warteten, niedergeschlagen und in drückender Dunkelheit, zwei Jungen unter einer Decke. Die nicht ganz so viel Angst hatten, weil keiner von ihnen allein war.

Das Dunkle Netz Der Rache
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