9:35 Uhr
Russ beobachtete Eugenes Gesicht, als dieser den Brief las und das Flugblatt der Planetenbefreiungsarmee studierte. Im Esszimmer neigte sich das Frühstück dem Ende entgegen, dem letzten Schaben über sirupverklebte Teller und Resten aus der Kaffeekanne. Russ hatte ihren Gastgeber leise um ein Gespräch mit ihm und Clare gebeten. Eugene hatte sie ins Wohnzimmer geführt. Leder und Sessel mit Wollbezügen streckten sich ihnen einladend entgegen, aber niemand setzte sich.
Van der Hoeven sah ihn an. »Ich habe von der Gruppierung gehört.« Stirnrunzelnd musterte er den Brief. »Sie ist immer ein wenig verrückt gewesen, wenn es um ihre Anliegen ging, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Millie sich mit solchen Extremisten einlassen würde.«
»Wie lange wohnt Ihre Schwester jetzt bei Ihnen?«, fragte Russ.
»Seit Ende August.« Er drehte das Flugblatt um. »Da steht nirgends ein Datum darauf. Vielleicht hat sie sie ja mitgebracht?«
»Sie lagen in der Küche«, sagte Clare. »Wie wahrscheinlich ist es, dass sie dort Papiere aufheben würde, die sie aus – wo lebt sie?«
»Montana.« Er stand neben dem gewaltigen Kamin aus Flussgestein, halb abgewandt, so dass sein vernarbtes Fleisch im Schatten lag. Russ fragte sich, was von seiner Haltung bewusst und was lange Gewohnheit war. »Nein, zugegebenermaßen ist es wahrscheinlicher, dass die Post in der Küche hierhergeschickt wurde. Ich hole sie vom Kasten am Ende der Straße und lasse sie meistens einfach auf dem Küchentisch liegen. Hier erledige ich auch die Rechnungen.«
Russ warf Clare einen Blick zu und schwor, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Vielleicht sind die Reichen gar nicht so anders als du und ich. Aber wenn er am Küchentisch Schecks ausstellte, dann nicht neben einem Stapel Weinkisten von seinem eigenen Weingut.
Er konzentrierte sich auf Eugene. Falls seine Schwester in eine schmutzige Geschichte verwickelt war, wusste er vielleicht wirklich nichts davon. Oder aber er beschützte sie. »Mr. van der Hoeven, ich weiß, dass Sie Angst um Ihre Schwester haben.« Russ senkte die Stimme. Er war besorgt. Eugene konnte ihm vertrauen. »Allmählich mache ich mir selbst ein wenig Sorgen. Sie sagen, sie kennt sich in den Wäldern aus, kennt sie schon ihr Leben lang. Ergibt es dann Sinn, dass sie abends zu einem Spaziergang aufbricht und sich verirrt?« Am anderen Ende des Raums stand ein verglaster Gewehrschrank und neben dem Fenstersitz ein Tisch, der anscheinend aus den Geweihstangen von Rothirschen gefertigt war.
Man musste kein großartiger Detektiv sein, um festzustellen, wo van der Hoevens Interessen lagen.
»Oder könnte es sein, dass sie von irgendwelchen radikalen Umweltschützern in etwas hineingezogen wurde? Bis zum Hals drinsteckt? Könnte das etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben?«
Eugene nickte nachdenklich. »Ich habe ein Auto gehört, ganz früh heute Morgen. Ehe ich entdeckte, dass Millie nicht im Haus war.«
Russ bügelte die Überraschung aus seiner Miene. Er hatte nicht erwartet, bei seinem Fischzug fündig zu werden. Er ging nur gerne gründlich vor.
»Dem Rettungsdienst gegenüber haben Sie kein Auto erwähnt«, bemerkte Clare.
Ihr Gastgeber machte eine Vierteldrehung in ihre Richtung, gerade genug, um höflich zu sein, zeigte ihr aber nur die gesunde Gesichtshälfte. Bei Clare achtete er mehr darauf als bei den Männern im Haus, stellte Russ fest. Er wollte sagen: Mach dir keine Gedanken, Kumpel. Sie nimmt dich so, wie du bist.
»Ich hielt es für unwichtig.« Eugene wies auf Russ’ Tarnanzug und die Signalweste. »In der Jagdsaison ist es nicht ungewöhnlich, dass Autos und Trucks sich hierher verfahren. Jäger auf der Suche nach einer Zugangsstraße.«
»Haben Sie irgendeinen Grund, anzunehmen, dass Millie sich mit der PBA eingelassen hat?«, fragte Russ.
»Wenn es so wäre, hätte sie es mir mit Sicherheit erzählt. Sie hat sich dem hiesigen Ableger dieser Adirondack Conservancy Corporation angeschlossen.« Eugenes Miene war beweglich genug, um zu zeigen, was er davon hielt. »Eine Runde alter Damen und Neuzugänge aus New York City. Sie hat sie erst letzte Woche hierher eingeladen. Glauben Sie, sie …?«
»Gehören sie der PBA an? Nein. Ich, äh, kenne die Präsidentin der Gruppe ziemlich gut. Sie setzen eher auf … äh, passiven Widerstand.«
Clare sah ihn an, eine Augenbraue hochgezogen. Mom, flüsterte er lautlos. »Andere Organisationen, in denen sie Mitglied ist?«, fragte er van der Hoeven. »Treffen, von denen sie Ihnen nichts erzählt hat? Abwesenheiten, die sie nicht erklärt hat?«
»Sie trifft sich mit jemandem aus der Stadt«, sagte van der Hoeven langsam. »Eine Romanze, meine ich. Wenigstens hat sie das gesagt. Ich muss sagen, dass das untypisch für sie ist. Mit Männern hatte sie bisher nicht viel Erfolg.«
»Vielleicht zieht sie Frauen vor«, bemerkte Clare mit unbewegter Miene.
Eugene gab den scheuen Seitenblick auf und starrte ihr direkt ins Gesicht. »Mit Sicherheit nicht.« Russ konnte sehen, wie er die Priesterin im Licht ihrer skandalösen Bemerkung neu beurteilte.
»Warum glauben Sie nicht, dass sie gestern Abend mit ihrem Freund weggegangen ist?«, fragte Russ.
»Sie hat mir vorher immer Bescheid gesagt, dass sie weg sein würde.«
»Wie lange trifft sie sich schon mit diesem Mann?«
»Praktisch seit ihrer Ankunft. Auf jeden Fall seit Anfang September.«
»Schnelle Arbeit für jemanden, der mit Männern nicht viel Erfolg hat.«
»Sie ist sechsundzwanzig«, betonte Clare. »In diesem Alter kann man sich über Nacht wahnsinnig verlieben.«
»Stimmt«, sagte Russ. »Und es stimmt ebenfalls, dass die Anwesenheit eines Freundes, ob nun echt oder erfunden, alle Arten von Aktivitäten decken kann.« Er wandte sich an van der Hoeven. »Haben Sie den Mann kennengelernt? Hat sie sich hier mit ihm getroffen?«
»Nein.« Er antwortete langsam, als dämmerte ihm zum ersten Mal, dass die nächtlichen Aktivitäten seiner Schwester einen anderen Hintergrund haben mochten als die erste Blüte junger Liebe. Er sah auf den Brief in seiner Hand hinunter. »Glauben Sie wirklich – besteht die Möglichkeit, dass sie sich in echter Gefahr befindet?«
Russ murmelte etwas Unverbindliches. »Vielleicht ist es ja überflüssig, aber ich denke, es wäre angebracht, diesen Freund von ihr ausfindig zu machen. Wie heißt er?«
»Äh …« Van der Hoeven legte grübelnd den Kopf in den Nacken. »Michael. Michael McWhorter.«
»Und wann haben Sie den Wagen in der Einfahrt gehört?«
»Vor dem Aufstehen. So gegen vier, halb fünf.«
»Sie haben uns gesagt, dass ihr Bett unberührt war«, sagte Clare. »Könnte sie es gemacht haben, ehe sie ging?«
»Natürlich. Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, dass Millie … sich davonstiehlt, ohne mir Bescheid zu sagen.«
Russ hob die Hände. »Wir wollen doch nicht über das Ziel hinausschießen. Die erste Annahme ist vermutlich die richtige. Dass sie sich gestern Nacht verirrt hat und Hilfe braucht, um den Rückweg zu finden.« Er nickte Clare zu. »Die zweite Annahme, der ich nachgehen werde, ist, dass sie aus was für Gründen auch immer beschlossen hat, sich im Morgengrauen mit diesem Michael McWhorter zu treffen, und das Auto, das Sie in der Auffahrt hörten, seines war, mit dem er sie abholte.« Er nickte van der Hoeven zu. »Die Suchmannschaft wird von der ersten Annahme ausgehen. Ich kümmere mich um die zweite.«
Eugene war jetzt offensichtlich beunruhigt, seine Schultern hingen herab, und er rang die Hände. Russ dämpfte die Stimme. »Wenn sie nicht in den Wäldern ist, stehen die Chancen gut, dass sie sich bei ihrem Freund befindet. Clare hat recht, mit sechsundzwanzig denkt man nicht immer daran, andere Menschen zu benachrichtigen, ehe man etwas Dummes und Romantisches tut.« Er warf einen kurzen Blick zum Esszimmer, wo die Mitglieder des Suchtrupps das Geschirr abräumten. »Warum reden Sie nicht mit John Huggins und sagen ihm, dass die Polizei dieser Möglichkeit mit dem Freund nachgeht.«
»Richtig. Natürlich. Ich …« Van der Hoeven rieb sich die Hände am Hemd ab. »Ich will einfach nicht, dass ihr etwas passiert.« Er atmete tief durch und richtete sich auf, seine Hände sanken an den Seiten herab, seine Schultern strafften sich. Er verwandelte sich in – wie lautete die alte Bezeichnung? Den Patron. Den Herrn des Anwesens. »Richtig«, wiederholte er mit mehr Selbstvertrauen und ging, um sich Huggins anzuschließen, der mittlerweile Karten auf dem Tisch ausbreitete.
»Ich muss auch hinüber«, sagte Clare. Sie senkte die Stimme. »Was glaubst du?«
»Ich glaube, wenn ich mir einen schwer zu verifizierenden Namen einfallen lassen müsste, würde ich Michael McWhorter nehmen. Es gibt Hunderte von McWhorters in Millers Kill, Fort Henry und Cossayuharie. Tausende, wenn man die Gegend zwischen Lake George und Saratoga mit einbezieht. Die Geschichte von dem Auto – die gefällt mir auch nicht.«
»Glaubst du nicht an eine Verabredung?«
Er sah sie zweifelnd an. »Sechsundzwanzigjährige Frauen mögen aus Liebe eine Menge tun, aber meiner Erfahrung nach wollen sie gut dabei aussehen. Würdest du dich aus dem Bett quälen, um dich morgens um vier mit deinem Liebsten zu treffen?«
»Mit wirren Haaren und Mundgeruch und Knitterfalten vom Kissen im Gesicht?« Sie grinste. »Vermutlich nicht.« Ihr Lächeln schwand. »Aber ich würde mich morgens um vier aus dem Bett quälen, wenn ich etwas vorhätte, das niemand wissen darf.«
»Vielleicht wollte sie zurück sein, ehe ihr Bruder aufsteht.«
»Eugene sagt, er plante, auf die Jagd zu gehen. Er muss noch vor Morgengrauen aus den Federn gewesen sein.«
»Das ist sogar noch besser. Er wäre nicht vor zehn, elf Uhr wieder hier gewesen. Das gibt ihr ungefähr sechs Stunden, um zu tun, was sie tun wollte, und unbemerkt wieder ins Haus zu gelangen.«
»Wenn er heute Morgen nicht bei ihr hineingeschaut hätte, ehe er aufbrach, hätte er gar nicht gemerkt, dass sie fort war.«
»Was ist mit der Putzfrau?«
Clare schaute sich um. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Millies Zimmer betreten würde, ohne sich zu vergewissern, dass es leer ist. Und wenn Millie sie bei ihrer Rückkehr zufällig getroffen hätte, na und? Sie muss einfach nur sagen, sie hätte vor dem Frühstück einen Spaziergang gemacht. Dieses Haus ist so riesig, zwei Leute können den ganzen Tag hier drin verbringen, ohne sich zu treffen.«
Über ihren Kopf sah Russ, wie Huggins sie anstarrte. »Es sei denn, es wären du und John Huggins. Zurück an die Arbeit, Liebling.«
Er liebte es, zuzusehen, wie ihre Wangen sich rosa färbten. Doch ihre Stimme klang so gelassen wie immer. »Er wird nur noch ein oder zwei Stunden weitermachen, ehe er uns entlässt. Danach bin ich zu Hause. Ruf mich an. Ich will wissen, was du über Michael McWhorter herausfindest.«
»Ma’am, zu Befehl, Ma’am.«
Ihr Mund deutete ein halbes Lächeln an, ehe sie sich umdrehte und wegging. Er schüttelte sich, kramte in seiner Tasche und zog die Schlüssel für den Truck heraus. Er würde zur Dienststelle fahren, jemanden damit beauftragen und sich dann verdrücken. Immerhin war heute sein freier Tag. Aber möglicherweise waren sie unterbesetzt, wegen des für die Jagd geöffneten Wochenendes und weil Duane unabkömmlich und Pete im Urlaub waren. Vielleicht sollte er sich selbst darum kümmern. Ihm fiel wieder ein, was Linda gesagt hatte: Ist das der Mann, der niemals Urlaub nimmt, weil sonst der ganze Polizeiapparat zusammenbricht? Vielleicht hatte sie recht. Sein Blick blieb an Clare hängen, die sich über den Tisch beugte und dabei eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr strich. Vielleicht.