12:40 Uhr
Die Sirene des Krankenwagens schreckte Shaun Reid auf. Er bremste ab und steuerte an den Rand der ansonsten leeren Landstraße. Der Krankenwagen schoss um die Kurve vor ihm und raste in einem Wirbel aus Licht und Lärm an ihm vorüber. Aus den Bergen nach Millers Kill zum Washington County Hospital. Er fuhr zurück auf den Highway, nahm die letzte Meile zu seinem Ziel. Er wollte gerade auf den Privatweg nach Haudenosaunee abbiegen, als ihm ein rostiger Jeep Cherokee entgegenholperte. Shaun lenkte seinen Wagen einmal mehr zum Fahrbahnrand; das Letzte, was er brauchen konnte, war ein Zusammenstoß mit einem anderen Fahrer, dem es völlig egal war, ob sein Untersatz dem Mercedes Tetanus bescherte. Nachdem der Jeep ihn passiert hatte, bog Shaun auf den Weg nach Haudenosaunee ab, nur um sich Stoßstange an Stoßstange mit einem weiteren Geländewagen wiederzufinden, diesmal ein Pick-up, der eindeutig mehr als die übliche Anzahl von Reifen brauchte.
Beide Fahrer steuerten so weit wie möglich an den Waldrand und krochen aneinander vorbei. Shaun ließ seine Scheibe herunter und winkte dem anderen Fahrer zu, einem jungen Mann mit militärischem Bürstenschnitt, der im Gegensatz zu dessen Ohrring stand.
»Was ist los?«, fragte Shaun. »Normalerweise ist es hier so ruhig wie in einem Kloster, aber heute herrscht mehr Verkehr als auf dem Northway.«
»Wir gehören zur Suchmannschaft«, erwiderte der Mann. »Sind Sie ein Freund der Familie?«
»Nein, nur geschäftliche Beziehungen.« Das stimmte. Über die Jahre hatte er hin und wieder mit dem verstorbenen Mr. van der Hoeven Geschäfte gemacht. »Ich will zu Eugene van der Hoeven.«
»Mr. van der Hoevens Schwester Millie wird seit gestern Abend vermisst. Die Rettungsmannschaft hat seit Tagesanbruch nach ihr gesucht.«
Scheiße. Das passte genau zu seiner momentanen Pechsträhne. Van der Hoeven war vermutlich nicht mal in der Lage, ihn zu empfangen. »Wie furchtbar«, sagte er voller Anteilnahme.
»Nein, zum Glück wurde sie gefunden, aber sie ist verletzt. Mr. van der Hoeven war noch zu Hause, als wir aufgebrochen sind, doch er wird wahrscheinlich jeden Moment zum Krankenhaus fahren.«
Shaun, der die Neuigkeiten verdaute, schaffte es kaum, dem anderen Fahrer zu danken, ehe er die Scheibe hochkurbelte und weiterfuhr. Wenn das im Krankenwagen van der Hoevens Schwester war, und es sah so aus, blieb ihm nicht mehr viel Zeit, den Mann zu treffen und sein Anliegen vorzubringen.
Unglücklicherweise zwang ihn eine Karawane von riesigen Geländewagen und Pick-ups, die den Weg hinunterrollte, eingequetscht zwischen ihren verschmutzten Seiten und dem Waldrand weiterzufahren. Als er den Kiesweg nach Haudenosaunee erreichte, hatten sich seine Hände verkrampft, und sein Kopf hämmerte. Seine Laune wurde auch nicht besser, als er nach dem Einparken um sein Auto herumging und einige frische Kratzer auf der Beifahrerseite entdeckte.
Shaun stapfte über den Kies und die Verandastufen hoch. Er zögerte, ehe er klingelte, nahm sich einen Augenblick, um sich in die richtige geistige Verfassung zu versetzen. Fröhlich. Optimistisch. Das hier würde nur einen Moment dauern. Er hatte etwas anzubieten, das aus Mr. van der Hoeven einen sehr glücklichen Mann machen würde. Er drückte auf die Klingel und schaukelte dann auf seinen Absätzen zurück. Fröhlich. Optimistisch.
Während er wartete, schaute er sich um. Das sogenannte große Camp war nicht besonders beeindruckend. Oh, es war groß, klar, aber wenn er das Geld der van der Hoevens besäße, würde er es in zwei Stockwerke hohe Fenster stecken, die Veranda mit Messinglampen dekorieren und eine erstklassige Parklandschaft anlegen lassen. Um Himmels willen, schau sich einer die Tür an. Sie stammte direkt aus Unsere kleine Farm.
Die schlichte Tür schwang so plötzlich auf, dass er ganz vergaß, fröhlich und optimistisch zu sein. »Hä«, sagte er.
Eugene van der Hoeven stand exakt halb drinnen und halb draußen. Er war in einen dunklen Pullover und Hose und eine leuchtend orangefarbene Jagdweste gekleidet. Sein Gesicht hatte er abgewandt, so dass eine Hälfte deutlicher zu sehen war als die andere, aber was Shaun erkennen konnte, reichte ihm völlig. Er hatte von van der Hoevens Unfall in dessen Kindheit gehört, aber er hatte nicht erwartet, dass es so …
»Kann ich Ihnen helfen?« Van der Hoeven klang kühl.
Shaun setzte ein Lächeln auf und streckte die Hand aus. »Mr. van der Hoeven? Ich bin Shaun Reid, Präsident und Geschäftsführer von Reid-Gruyn Pulpe und Papier.«
»Mr. Reid«, antwortete Eugene scharf. Er schloss den Mund und setzte erneut an, diesmal in gelassenerem Ton, seinen Ärger beherrschend. »Mr. Reid, es tut mir leid, aber Sie erwischen mich zu einem ungünstigen Zeitpunkt.«
»Ich verstehe«, sagte Shaun. »Ich habe von Ihrer Schwester gehört. Ich will Sie selbstverständlich nicht aufhalten. Wenn Sie mir jedoch ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken könnten, werden Sie es nicht bedauern. Ich hätte Ihnen einen geschäftlichen Vorschlag zu machen, von dem wir beide profitieren werden.«
Van der Hoeven gelang es, Shaun anzustarren, ohne den Kopf zu drehen und seine Narben zu entblößen. »Sind Sie sicher, dass Sie der Präsident sind? Von Reid-Gruyn? Derselben Gesellschaft, der die Fabrik gehört?«
Shaun hob die Hand. »Ich schwöre. Ich werde Ihnen weder Staubsauger noch Lebensversicherungen andrehen.«
Eugene trat ins Haus. Shaun blieb wie gelähmt stehen. Was war gerade passiert? Sollte er eintreten? Er trat einen Schritt vor und stolperte rückwärts, als van der Hoeven aus der Tür preschte, einen Rucksack über der Schulter.
»Ich will los«, sagte van der Hoeven. »Sie haben fünf Minuten.« Er ging an Shaun vorbei die Stufen hinunter. Shaun polterte hinter ihm her.
»Sie und Ihre Geschwister verkaufen Haudenosaunee. Ich schätze, es gab Probleme mit der Erbschaftssteuer und Sie müssen wesentlich mehr zahlen, als Sie erwartet hatten.«
Eugenes Schritt wurde langsamer. Er warf einen kurzen Blick auf Shaun.
»Sie mögen gedacht haben, nur ein großer Konzern wie GWP könnte es sich leisten, Ihnen ein Angebot für den Besitz zu machen. Stimmt nicht. Ich bin hier, um Ihnen eine Partnerschaft mit Reid-Gruyn Pulpe und Papier vorzuschlagen.«
Vor der Dreiergarage blieben sie stehen. »Reid-Gruyn ist in der Lage, zweihundertfünfzigtausend Morgen zu kaufen?«, fragte Eugene. »Ich bin beeindruckt.« Er bückte sich, um das Garagentor zu öffnen.
Shaun fragte sich, ob das Fehlen einer Fernbedienung darauf hinwies, dass die van der Hoevens noch schlechter dran waren, als er vermutete, oder ob es sich eher um ein Beispiel für Wer-den-Taler-nicht-ehrt handelte.
»Ich dachte eher an fünfzigtausend Morgen«, sagte Shaun, während er nach der Kante des Tors griff und half, es hochzustemmen. »Dann blieben immer noch zweihunderttausend, die in ihrem natürlichen Zustand erhalten werden könnten«, fügte er hinzu, für den Fall, dass van der Hoeven mehr von einem Baumknutscher hatte, als er annahm.
»GWP und die Adirondack Conservancy Corporation wollen alles erhalten.« Erneut in der Mitte zwischen dem Sonnenlicht im Freien und dem Schatten im Inneren verzog sich van der Hoevens Gesicht vor Abscheu. »Meine Familie bewirtschaftet und schützt dieses Land seit hundertfünfzig Jahren, und eine fünfzehn Jahre alte Organisation aus Gutmenschen von außerhalb und unterbeschäftigten Biologen glaubt, sie könnte es besser.« Er schnaubte. »Die gemeinnützige Organisation möchte ich sehen, die es so lange aushält wie die van der Hoevens.«
Ja. Das war es, wonach Shaun gesucht hatte. Eine verwandte Seele, die verstand, dass es nicht ums Geschäft ging. Nicht ums Geld. Sondern um die Pflege. Darum, die Verantwortung anzunehmen, die man von früheren Generationen geerbt hatte, um sie an die nächste weiterzureichen.
Im Inneren der Garage, das nicht vom Sonnenschein erwärmt wurde, war es dunkel und kalt. Auf den ersten beiden Stellplätzen standen ein LandCruiser und ein VW-Käfer, und es roch nach Öl und alter, festgetretener Erde. Auf dem dritten Stellplatz stapelten sich Gartenmöbel aus Korb, eine Schubkarre, ein zusammengerollter Sonnenschirm und ein altertümlicher Rasenmäher. Es roch schwach nach Shauns achtzehntem Sommer.
Eugene angelte einen einzelnen Schlüssel aus seiner Tasche. Shaun eilte hinter ihm her zum LandCruiser. »Sie sind in derselben Situation wie ich«, sagte er, hastig bemüht, das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen, ehe van der Hoeven in sein Fahrzeug stieg und davonbrauste. »Wir beide führen Familienunternehmen. Und beide werden wir von Leuten unter Druck gesetzt, die glauben, dass GWP es besser kann als wir. Ich will Ihrer Familie das Land von Haudenosaunee nicht wegnehmen. Ich will eine Partnerschaft. Reid-Gruyn kümmert sich um den Holzabbau, und die van der Hoevens werden weiterhin nach ihrem eigenen Gutdünken das Land schützen.«
Eugene schlängelte sich an ihm vorbei und öffnete die Fahrertür.
»Im Gegensatz zu der einmaligen Zahlung von GWP garantiert Ihnen unsere Partnerschaft ein stetes Einkommen.«
Einen Fuß im Geländewagen zögerte van der Hoeven. »Wie das?«
»Der Kaufpreis wird in Bargeld und Aktien gezahlt. Die van der Hoevens werden Anteilseigner von Reid-Gruyn. Zum Teufel, die beiden Familien könnten die Gesellschaft reprivatisieren.«
»Ich bin kein Geschäftsmann, Mr. Reid. Ich habe kein Interesse an der Leitung einer Gesellschaft. Und die Investitionen unserer Familie werden von A. G. Edwards und Söhne ausgezeichnet betreut.«
»Sie müssen auch kein Geschäftsmann sein. Sie besitzen die Rohstoffe. Ich die Erfahrung.« Shaun rückte näher. »Wollen Sie die gesamte Kontrolle über den Besitz wirklich der Adirondack Conservancy Corporation übertragen? Diese Leute werden Ihr Heim so gründlich kleinverwalten, dass sie nicht mal eine Tulpe setzen oder ein Raupennest ausräuchern dürfen.«
Eugene öffnete den Mund und ließ ihn dann wieder zuschnappen. »Egal. Das Land wird nicht verkauft.«
Shaun spürte, wie ihm der Kiefer herunterklappte. Er kämpfte um einen festen Stand. »Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es gesagt habe. Wir werden absolut niemandem irgendeine Vollmacht übertragen.«
Shaun war verblüfft. »Aber erst vorgestern hat ein Repräsentant von GWP mit den Mitgliedern meines Verwaltungsrats gesprochen. Er war überzeugt, dass der Verkauf stattfinden würde.« Es waren die Beteuerungen dieses Mannes gewesen, die seine verbliebene Unterstützung durch den Verwaltungsrat erschüttert hatten.
Er sammelte seine Beweise. »Und mein Sohn arbeitet für Algonquin Waters. Er hat noch heute Morgen vorbeigeschaut, um mit mir über das Bankett heute Abend zu reden. Meine Frau und ich nehmen auch daran teil.«
»Tun Sie das? Ausgezeichnet.« Van der Hoeven beugte sich zum Rücksitz und zog eine Kiste heraus. Shaun hörte Flaschen klirren. »Ich versuche, die hier rechtzeitig zur Feier heute Abend ins Hotel zu schaffen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie hinbringen könnten.«
Ich wäre Ihnen dankbar. Shaun setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Aber selbstverständlich. Gern.« Er nahm van der Hoeven die Kiste ab und wandte sich zu seinem Mercedes. Er war überrascht, als er weiteres Klirren hörte. Er drehte sich um. Van der Hoeven holte eine zweite Kiste Wein aus dem LandCruiser. Der jüngere Mann bedeutete Shaun mit einem Nicken, voranzugehen.
Das ist surreal. Der blendende Sonnenschein nach der Dunkelheit der Garage ließ seine Augen tränen. Er hatte seine Schlüssel steckenlassen, und statt sie zu holen, um den Kofferraum aufzuschließen, öffnete er lieber die hintere Tür auf der Beifahrerseite und schob die Kiste auf den Rücksitz. Van der Hoeven setzte die zweite Kiste neben der ersten ab.
»Demnach beliefern Sie die Feier mit Chateau van der Hoeven, obwohl Sie behaupten, es werde keinen Landverkauf geben?«
Der jüngere Mann errötete, nur eine Gesichthälfte, und wandte den Kopf nach rechts. »Sie bekommen unseren Wein. Nicht unser Land.« Er trat zurück. »Ich danke Ihnen. Und jetzt muss ich mich von Ihnen verabschieden.« Er drehte sich um und lief zur Garage, ließ Shaun stehen wie einen Botenjungen, dessen Lieferschein unterschrieben war.
»Aber …«, sagte Shaun.
»Danke«, warf van der Hoeven über die Schulter.
Wie ein Mann in einem Traum schlug Shaun die Tür zu, ging um das Heck und öffnete die Fahrertür. Er ließ den Wagen an und schaute ein letztes Mal hinüber zur kalten Dunkelheit der Garage. Van der Hoeven war nicht mehr zu sehen. Er legte den Gang ein und kurvte in Richtung Privatweg um die Auffahrt. Was, zum Teufel, war da eben passiert? Konnte es sein, dass van der Hoeven die Wahrheit sagte? Waren die Sorgen, die er sich wegen einer Quelle für Pulpe gemacht hatte, im Handumdrehen vorbei? Es schien unglaublich. Und warum sollten die van der Hoevens auf die Millionen verzichten, die ihnen der Handel einbrachte? Mit Sicherheit nicht, weil der Auftritt auf dem Aktienmarkt all ihre Geldsorgen beseitigt hatte.
Es sei denn … sein Fuß hob sich vom Gaspedal, während der Gedanke Gestalt annahm. Es sei denn, die van der Hoevens und GWP hätten beschlossen, die Adirondack Conservancy Corporation auszubooten. Der Kaufpreis, der an die Familie gezahlt wurde, orientierte sich am Wert des Landes, aber dieser Wert musste nach unten angepasst worden sein, um GWP dafür zu entschädigen, dass die Nutzungsrechte an die ACC übertragen wurden. GWP wäre nur dem Namen nach der Besitzer. Jeder mögliche wirtschaftliche Nutzen des Landes – Geld aus den Rohstoffen, Geld aus der Erschließung – würde der Adirondack Conservancy Corporation zufallen. Und die ACC würde nichts daraus machen. Sie würde keinen roten Heller an Haudenosaunee verdienen.
Aber was, falls GWP beschlossen hatte, sämtliche Rechte zu behalten? Mit ihrem Geld und den Lobbyisten in Albany konnten sie sich die Zustimmung zu jeglicher »ökologisch sensiblen« Erschließung rund um die Seen und Berge innerhalb des weiten Landes von Haudenosaunee kaufen.
Himmel. Das Geld aus dem Holzabbau war gar nichts. Teufel, ein Jahresgewinn, fünf Jahresgewinne von Reid-Gruyn waren im Vergleich zu dem Geld, das man mit Baulanderschließung in diesem Maßstab machen konnte, nur wie Wechselgeld an einem Limonadenstand.
Shaun hatte die Landstraße erreicht. Er sah nach links und rechts. Die Luft war rein. Sollte er nach Hause schleichen, als Lohn seiner Mühen nicht mehr in der Hand als ein paar Flaschen Wein?
Er wendete den Mercedes in einer engen Dreipunktkehre, bis er mit der Schnauze wieder in Richtung Haudenosaunee stand. Er trat aufs Gaspedal. Er erwog, wie die Chancen standen, in van der Hoevens LandCruiser zu krachen, wenn der ihm auf dem Weg entgegenkam, wenn Eugene zu seiner Schwester eilte. Einen Versuch war es wert. Ein Zusammenstoß würde den Mistkerl so lange aufhalten, wie ein Abschleppwagen für die Fahrt aus der Stadt und das Freiräumen des schmalen Wegs brauchte. Und falls Shaun ihm in dieser Zeitspanne nicht die ganze Geschichte aus der Nase ziehen konnte, würde er ihm zum Krankenhaus folgen und im Wartezimmer herumlungern.