MAYURASANA
Mayurasana (Der Pfau) wirkt stark aktivierend und macht glücklich. Er hilft, die Fülle des Lebens in seiner ganzen Schönheit zu erkennen und dankbar anzunehmen.
»Geht das da vorn noch mal weiter?«
Im Tonfall war die Frage vielleicht etwas aggressiv, aber in der Sache berechtigt. Seit gefühlten fünf Minuten standen wir draußen in der Schlange, während die Drehtür zum Sunny-Side-Eingang noch immer blockiert war. Und nun hatte auch noch so ein feiner norddeutscher März-Nieselregen eingesetzt, als wären himmlische Wesen dort oben mit einem höllischen Zerstäuber zugange.
Mit der rechten Hand zog ich an der marineblauen Kapuze des Babys auf meinem Arm und berührte dabei seinen Hinterkopf, ein Körperteil, der mich jedes Mal besonders rührte. Diese Familienähnlichkeit. Diese ausgeprägte Rundung, typisch Frank, und selbst die Form der Wirbel am Haaransatz kam mir vertraut vor. Das Baby streckte mir ein rundes Zünglein entgegen, dann runzelte es besorgt seine kleine Stirn.
Auch diesen Gesichtsausdruck kannte ich nur zu gut. So sah Papa aus, wenn er im Lokal zu lange auf einen Kellner warten musste. Kein Wunder, dass sein Sohn genauso dreinschauen konnte.
»Tja, mein Schatz«, sagte ich, »deine Mama hat viele Qualitäten, aber mit Drehtüren steht sie auf Kriegsfuß.«
Gerade hatte sich der Babymund zu einem Protestschrei verzogen, da fasste Chris entschlossen über mich drüber, fummelte an der Schnullerkette und steckte dem Kleinen seinen Sauger in den Mund.
»Nicht traurig sein, Fynn, mein Freund«, sagte er, »deine Mami kommt wieder. Kann sich nur um Stunden handeln.«
Drinnen hatten Ilona, die Empfangsdame und mein Vater schließlich mit vereinten Kräften den total verkeilten Kinderwagen aus der Drehtür befreit, und der stockende Verkehr kam sofort wieder ins Fließen. Im nächsten Moment standen auch Chris, Fynn und ich im Foyer.
»Danke fürs Halten«, sagte Ilona und streckte die Arme sehnsüchtig ihrem Sohn entgegen, als hätte sie ihn seit Stunden nicht gesehen.
»Immer musst du ihn nehmen«, beschwerte sich mein Vater von der anderen Seite, »so kann ich doch nie eine tiefe Bindung zu ihm aufbauen!«
»Mach dir keine Sorgen, Papa«, sagte ich, »bleibt doch alles in der Familie. Und außerdem«, ich knuffte ihn sanft mit dem Ellenbogen, »wieso bist du überhaupt hier? Sunny-Side-Partys sind doch nie plus eins!«
»Aber ich muss doch meine zukünftige Frau bei der Rückkehr in den Job unterstützen«, sagte er entrüstet. »Und außerdem bin ich mittlerweile von zwei Seiten verwandt mit eurem Laden!«
Chris und ich gaben unsere Mäntel an der Garderobe ab und bahnten uns einen Weg durch die gut gelaunte Menge in die Kantine, die wie jedes Jahr zur Tanzfläche mit Büfett umgebaut worden war. Weit kamen wir nicht, schon im Eingang entdeckte uns Frau Stöver und presste uns abwechselnd an ihren mächtigen Busen.
»Na, ihr zwei Turteltäubchen?«, krähte sie übermütig. »Ihr seht ja richtig urlaubsfrisch aus! Wie war’s auf Ibiza?«
Chris nahm meine Hand und drückte sie liebevoll.
»Wunderbar«, sagte ich, »um diese Jahreszeit hat man die Insel ja fast für sich allein. Und wir mussten ja alles noch einmal nachreisen, was wir letztes Jahr verpasst haben.«
»Aber da wart ihr doch auch schon gemeinsam da, oder?«
»Schon, Frau Stöver. Aber da – wie soll ich sagen …«
»… da kannten wir uns noch nicht so gut«, ergänzte Chris.
Die Idee mit Ibiza war uns am Neujahrsmorgen gekommen, als Chris und ich leicht verpeilt auf dem blauen Sofa herumgelungert und sehr viel Milchschaum mit sehr wenig Espresso getrunken hatten. »Es gibt nur eine Sache, die ich bedauere«, hatte er gesagt und meinen Nacken gestreichelt. »Dass wir damals dieses Honeymoon-Programm hatten auf der Insel und es überhaupt nicht geteilt haben. « »Und ich weiß noch immer nicht, was ich mit meiner Woche Resturlaub anfangen soll«, hatte ich geseufzt. »Aber am 29. März müssen wir zurück sein in Deutschland!«, hatte Chris gesagt. »Da ist die Sunny-Side-Party. Und das ist immerhin so etwas wie unser Jahrestag. «
»Ist es denn um diese Jahreszeit nicht noch ein bisschen leer dort?«, fragte Frau Stöver besorgt. »Da fährt doch sonst keiner hin!«
»Stimmt schon«, ich nickte, »aber so ist das eben. Immerzu kommt man im Leben entweder zu früh oder zu spät. Erstaunlich, dass trotzdem ab und zu etwas klappt.«
Chris wollte noch etwas hinzufügen, aber ich hielt ihm schnell den Mund zu. »Nicht jetzt«, zischte ich, »Anna ist dran.«
Auf einem Podium neben dem DJ-Pult hatte meine Freundin sich aufgebaut und schwang ein kabelloses Mikrofon vor ihrem Nadelstreifenanzug. Es gab ein paar hässliche Pfeiftöne von sich, und sie haute ungeduldig drauf, bis es vollständig schwieg. Dafür verstärkte es jetzt auch keinen Ton mehr. Schließlich erbarmte sich der DJ, kam neben dem Plattenteller vor, schlurfte auf sie zu und schaltete es an einem kleinen Hebel wieder an. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaubte, in ihm den Praktikanten aus der Intranet-Abteilung wiederzuerkennen. Nur dass er jetzt nicht mehr aussah wie die frühen Tokio Hotel, sondern eher wie die frühen Take That, mit Karoshirt und Schiebermütze. Diese jungen Leute. Wechselten ihren Geschmack wie die Hemden.
»Hey«, rief Anna, »seid ihr gut drauf?«
Die Reaktion war gespalten. Die meisten taten gar nichts, Fynn begann auf dem Arm seiner Mutter zu weinen. Nur ein Grüppchen rechts vorn an der Tanzfläche hob geschlossen die Arme und rief enthusiastisch: »Hey, Anna!«
»Ich glaube, das sind die neuen Animateure«, flüsterte ich Chris zu, »die kommen frisch von der Schulung.«
»Super!«, rief Anna mit gespieltem Enthusiasmus zurück. »Ich freu mich sehr, euch heute zum dreiundvierzigsten Sunny-Side-Firmenfest zu begrüßen. Ich weiß ja, ihr alle freut euch schon auf das köstliche Büfett mit den ayurvedischen Spezialitäten, das Plisch, äh, ich meine Frau Köster und Frau Naschke für euch gezaubert haben, und deshalb möchte ich mich auch ganz kurz fassen, bevor unser Vorstandsvorsitzender, Herr Dr. Großenstedt, noch ein paar Worte an uns richten wird. Wie die meisten von euch vielleicht wissen, hat Sunny Side eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, deren Anfänge im Jahr 1967 liegen. Damals kam ein junger Zugschaffner auf die kreative Idee, einen kompletten D-Zug als Urlaubszug zu chartern und die Abteile …«
»Kann das sein, dass deine Freundin heute ein bisschen langatmig ist?«, fragte Chris und biss mich bei der Gelegenheit sanft ins Ohrläppchen.
»Sei nachsichtig!«, gab ich zurück. »Die hat zurzeit wirklich andere Sorgen.«
»Andere Sorgen? Was denn?«
»Es ist wegen Tobi. Der hat doch neulich seinen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben. Und jetzt muss sie sich entscheiden: entweder Wochenendbeziehung, oder sie geht mit.«
»Wo ist denn Tobis neue Stelle?«
»In Bielefeld.«
Zehn Minuten später war Anna fertig, dann bestieg Dr. Großenstedt das Podium, um ein paar Worte zu sagen, und eine halbe Stunde danach kündigte er die kurze Begrüßung des Firmendienst-Vorstandes an. Plisch und Plum standen mit glasigen Augen hinter den Warmhalteschalen aus Edelstahl und schepperten ungeduldig vor sich hin. Ich konnte mich täuschen, aber es hörte sich an, als klopften sie den schleppenden Takt der Worte mit ihren Schöpfkellen auf den Deckeln nach. Auch bei der Dekoration hatten sie sich nicht lumpen lassen. Zwischen den Warmhalteschalen standen eine chinesische Glückskatze mit depressivem Gesichtsausdruck, die mechanisch mit ihrer Pfote winkte, und ein goldener Buddha mit Schlafzimmerblick.
Um kurz vor halb neun wurde das Büfett endlich eröffnet. Vor mir in der Essensschlange stand Berger, die unvermeidliche Sonnenbrille im Haar und einen Teller in der Hand.
»Das sieht aber mal wieder ganz köstlich aus, die Damen«, sagte er und deutete auf Reis mit einer Auberginenpampe, »wenn ich das hier mal probieren dürfte?«
Plisch griff bereits nach der Schöpfkelle, da fiel Plum ihr in den Arm.
»Auf keinen Fall«, sagte sie streng zu ihrer Kollegin, »der Herr Berger ist ein Pitta-Typ, dem bekommen keine Speisen, die zusätzlich die innere Hitze schüren.«
Plisch schenkte ihr einen vernichtenden Seitenblick.
»Der ist nicht Pitta!«, sagte sie. »Schau dir doch seinen Körperbau an. Kompakt, massig, langsame Bewegungen. Reinstes Kapha.«
»So«, funkelte Plum zurück, »und was ist mit seiner Neigung zum Schwitzen? Seinen häufigen Magen-Darm-Problemen? Herr Berger ist Pitta, da beißt die Maus keinen Faden ab.«
Unauffällig hob Herr Berger einen Arm und sah sich um. Vermutlich suchte er nach verräterischen Schweißflecken.
»Also, meinetwegen ist er ein Mischtyp«, lenkte Plisch ein, »aber Auberginen in kleinen Mengen kann er auf jeden Fall vertragen.«
Herr Berger ließ seinen Teller sinken und hob abwehrend eine Hand.
»Ach nein«, sagte er, »wenn ich’s mir recht überlege, habe ich doch keinen großen Hunger.«
Später wurde getanzt. Chris und ich lehnten an einem Stehtischchen am Rand und sahen zu. Ab und zu sagte einer von uns: Jetzt sollten wir aber mal, aber es kam nie so weit. Stattdessen kam immer etwas dazwischen. Ein dringender Kuss, eine unaufschiebbare Umarmung.
Frau Stöver schwang mit ansteckendem Spaß ihre Hüften, genau an ihrer Seite ließ Lisa-Marie den Oberkörper wackeln. Mittlerweile hatte ich mich an ihren neuen, platinblonden Look gewöhnt und war nicht mehr jedes Mal irritiert, wenn sie an mir vorbeirauschte. Seit sie es beim Fotoshooting für die große Boulevardzeitung im letzten Spätsommer zum Titelmädchen gebracht hatte, war sie wie ausgewechselt, hatte alle drei Wochen eine neue Frisur und alle vier einen neuen Freund. In letzter Zeit hatte ich munkeln hören, dass ein großer Münchner Frauensender ihr eine Stelle als Nachwuchsmoderatorin angeboten hatte, und ich hätte gern mal ein ernstes Wörtchen mit ihr geredet. Leider sprach sie immer noch nur das Nötigste mit mir. Mein Betrug mit der Bärchentasse saß einfach zu tief.
»Übrigens«, ich schmiegte mich an Chris, »Melli war heute wieder beim Arzt. Alles in bester Ordnung.«
»Wie weit ist sie denn?«, fragte Chris. »Das Kind müsste doch jeden Moment da sein, so wie sie aussieht!«
»Es dauert aber noch so drei bis vier Wochen. Neulich hat Steve das Schlafzimmer schon mal umgeräumt, damit das Babybett auch Platz hat. Das war für Melli allerdings ein harter Prozess.«
»Wieso das denn? Ich dachte, sie freut sich!«
»Schon. Aber jetzt ist kein Platz mehr für ihren Altar.«
»Für Steves Plasmafernseher auch nicht.«
»Ein Sieg der Gerechtigkeit.«
»Sag mal, Evke? Weißt du, was ich dich schon lange fragen wollte?«
»Na?«
Er blickte verschämt an mir vorbei und biss sich schief auf die Lippe. »Wie soll ich es sagen?«, begann er und stotterte ein bisschen, »hast du … ich meine, es ist ja nicht schlimm, wenn es so ist, ich frag nur … also … hast du eigentlich ein Problem mit Zimmerpflanzen?«
Verdutzt sah ich ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die haben ein Problem mit mir. Warum fragst du?«
»Na ja, es ist …«, wieder blickte er nervös zur Seite, »also, heute Mittag bin ich zufällig in einem Blumenladen gewesen und habe mich ein bisschen nach Grünpflanzen umgesehen. Da habe ich einen wilden Wein entdeckt. Sehr hübsch, so eine ganz saftige, grüne Farbe, und die Floristin hat gesagt, der ist extrem robust und verzeiht fast alles.«
»Oh, wie süß!«, ich schlang meine Arme um Chris. »Und den wolltest du mir schenken?«
»Schenken nicht direkt.« Er griff nach meinen Ellenbogen und sah mich seltsam an. So ernst. Als hätte er mir eine entscheidende Mitteilung zu machen.
»Chris?«, fragte ich vorsichtig. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja … nein … ach, Evke, unterbrich mich doch nicht, wenn ich dir gerade etwas Wichtiges sagen möchte. Ich dachte, dieser Wein … und wir … na, dass wir drei ganz gut zusammenpassen würden. Wenigstens für den Anfang. Deshalb habe ich mir gedacht … Evke, möchtest du mit mir zusammenziehen?«
Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Die Tanzfläche schwankte, die Tänzer noch mehr, und in meinem Kopf war Sturmflut auf Hallig Hooge. Schließlich hob ich den Blick und sah dem Goldbuddha auf dem Büfett direkt in die Augen.
Er zwinkerte. Ich schwöre, er hob seine schweren Lider um einen Millimeter und zwinkerte.
Und dann sagte er etwas. Ein einziges Wort.
Vielleicht war es ja ein altertümlicher Sanskrit-Ausdruck. Aber es klang, als sagte er: »Siehste?«
In diesem Moment, nach drei ayurvedischen Ingwercocktails, hatte ich drei überraschend klare Gedanken.
Erstens: Das riesige, laminierte »The Matrix«-Plakat über Chris’ Bett würde in den Flur wandern.
Zweitens: Das blaue Sofa würde einen neuen Bezug bekommen. Und einen Ehrenplatz.
Drittens: Endlich wusste ich, was die Yogis immer mit dem Hier und Jetzt meinten. Es gab Momente, manche groß und manche klein, in denen das Leben alles gab, was es hatte. Und man durfte keinen von ihnen verpassen.
Das hier war einer der glücklichsten.
Und es fing gerade erst an.