CHATURANGA DANDASANA
Das Krokodil (Chaturanga Dandasana) lässt den Geist entspannen, trainiert aber gleichzeitig unsere rasche, willensstarke Reaktion in entscheidenden Momenten des Lebens.
Wenn unser Abendspaziergang romantisch war, dann höchstens auf eine sehr eigenwillige Art. Industrieromantik, das war das Wort. Wir schlappten schweigend an Nachttankstellen vorbei, an Matratzendiscountern und Bauzäunen. Vögel sangen ihre Gutenachtlieder, wurden aber die meiste Zeit von Lastwagen übertönt, die beim Bremsen quietschende Furzgeräusche von sich gaben.
Siv hatte lose seinen Arm um mich gelegt, mit der anderen Hand schob er sein Fahrrad. Er schwieg. Ich schwieg auch.
Schon das zweite Mal innerhalb von drei Tagen musste ich an Mirko Hansen denken, mit dem ich manchmal auch so nach Hause gelaufen war, damals, in der 11 b. Und dann war da noch dieser andere Gedanke, der einfach nicht verschwinden wollte, der zäh an mir klebte wie Kaugummi an einer Schuhsohle. Die Erinnerung an dieses andere, letzte Mal, das ich einen Mann mit zu mir genommen hatte.
An die Fahrt mit Chris, seine Hände auf dem Lenkrad, die Luft im Auto so hormonvernebelt, dass wir glatt eine rote Ampel übersehen hatten. Alles hatte gestimmt. Alles.
Und ich ganz allein war schuld, dass es im Ansatz gescheitert war.
Oder nicht?
Auch eine traurige Geschichte, die ich Siv hätte erzählen können. Aber vielleicht nicht ganz so passend.
Immer noch schweigend stiegen wir die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Plötzlich war ich gar nicht mehr so sicher, ob das hier eine gute Idee war. Doch jetzt konnte ich ihn ja schlecht wieder nach Hause schicken. Oder? Und es war schön, nicht allein zu sein. Ich würde morgen früh Gesellschaft haben zum Frühstück. Selbst wenn es nicht die war, nach der ich mich im Moment so unpassend sehnte. Mir fiel der alte Hippiespruch ein, den meine Mutter damals nach der Scheidung aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und an die Klotür gepinnt hatte. If you can’t be with the one you love, love the one you’re with.
Als ich den Schlüssel in der Wohnungstür drehte, fiel es mir plötzlich ein. Der Ficus! Gut, er sah schon deutlich erholter aus. Für die Vorher-Nachher-Geschichte einer Frauenzeitschrift würde er mit seinen fünf frischen Blättchen jedenfalls eine gute Figur abgeben. Aber das konnte Siv ja nicht wissen, solange ich kein »Vorher«-Foto daneben stellte. Was würde er von mir denken, wenn er meine einzige Grünpflanze sah?
Es half alles nichts. Siv durfte auf keinen Fall mein Wohnzimmer betreten.
Das war allerdings gar nicht so einfach. Denn die Tür zum Wohnzimmer stand weit offen, und von der Wohnungstür blickte man direkt hinein. Siv machte einen Schritt in die Richtung. Ich nahm ihn bei der Hand und schüttelte sanft den Kopf.
»Nicht da«, hauchte ich, »hier hinein.«
Und schob ihn in mein Schlafzimmer.
»Oh«, sagte Siv. »Das war direkt.«
»Du siehst, ich lerne von dir.«
Siv setzte sich auf mein Bett. Wo hätte er sich auch sonst hinsetzen sollen? Schließlich bestand das Schlafzimmer aus fast nichts anderem. Fast sah es aus, als wäre das Bett zuerst da gewesen, und dann hätte man das Zimmer drum herum gebaut.
Siv strich seine Hosen glatt, zog seine Flipflops aus und stellte sie ordentlich zusammen. Danach zupfte er die Wäscheklammern von den Hosenbeinen und klemmte sie an die Zehenstege der Schuhe. Schließlich legte er sich auf den Rücken, die Hände auf seinen Bauch und schloss die Augen.
Ich stand vor meinem eigenen Bett und fühlte mich etwas überflüssig.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte ich. Sehnsüchtig dachte ich an die Flasche Sekt im Kühlschrank, die wahrscheinlich täglich tiefer in eine Sinnkrise stürzte. So lange hatte noch keine ihrer Vorgängerinnen darin ausharren müssen. Manchmal, wenn ich den Kühlschrank öffnete, sprach ich beruhigend auf sie ein. Wenn eine besondere Gelegenheit kam, hatte ich ihr versprochen, würde sie schon noch ihren Auftritt bekommen. Schließlich gab es Momente, da musste es ein bisschen rajaz sein.
Siv hatte noch immer die Augen geschlossen.
»Leg dich zu mir«, sagte er.
Da konnte und wollte ich nicht Nein sagen. Auch wenn mir die Flasche ein bisschen leidtat. Aber das konnte warten.
Ich kuschelte mich an ihn und schob vorsichtig eine Hand unter den Saum von Sivs Shirt. Wollte doch mal sehen, wie das bei ihm mit dem Nabelchakra aussah. Ich kam aber nicht weit. Er nahm meine Hand am Handgelenk und öffnete die Augen.
»Nicht«, sagte er, »du musst nichts tun.«
Ich lag da, etwas peinlich berührt. Schon wieder hatte ich etwas falsch gemacht. Es fühlte sich ein bisschen an, als sei ich einem Gott an die Wäsche gegangen. Und das auch noch, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.
»Aber …«
»Nein. Nicht aber. Leg dich einfach hin und entspann dich.«
Brav rollte ich mich in Rückenlage. Das ging. Aber entspannen, wo es gerade wieder spannend wurde? Sivs Nähe, sein Duft, begannen mich schon wieder zu elektrisieren. Der Gedanke an die Flipflops mit den Wäscheklammern rückte in weite Ferne und endlich auch das Bild von Chris, wie er mit halb aufgeknöpftem Hemd auf meinem armen blauen Sofa gesessen hatte. Das Hier und Jetzt bestand aus seidiger Haut – wenigstens an Sivs Händen – und Aufruhr in meinem Körper. Von der angenehmsten Sorte.
Siv stützte sich auf einen Ellenbogen und sah mich an.
»Warte«, sagte er, »nicht so.«
Ich konnte seinen Blick nicht deuten. War das Erregung, die da in seinen Augen glitzerte? Bei jedem anderen Mann wäre ich ganz sicher gewesen. Aber hier lag ich mit meinem gut gebauten Yogalehrer und wusste immer noch nicht, was das hier werden würde. Sex oder Entspannungstherapie. Noch nicht einmal geküsst hatten wir uns.
»Zieh dich aus.«
Also doch.
An diese Art von Direktheit konnte ich mich glatt gewöhnen.
Folgsam stand ich wieder auf, streifte mir zuerst das Shirt ab, dann die Hose. Es fiel mir schwer, seinem Blick standzuhalten. Als ich nur noch in Unterwäsche vor ihm stand – sehr schlicht, schließlich war ich ja der natürliche Typ! –, bekam ich plötzlich eine Gänsehaut. Es war schwer zu beschreiben, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Als wäre Siv nicht gerade im Begriff, mein Lover zu werden, sondern eher mein Hausarzt.
Das mochte auch damit zu tun haben, dass ich die einzige Nackte hier im Raum war. Wenigstens die einzige Halbnackte. Er trug schließlich noch immer sein langärmliges Hemd und seine weite Baumwollhose.
Gleichzeitig war etwas daran, das mich erregte. Ich kam mir vor wie eine Klosterschülerin, die vor lauter Unschuld gar nicht merkte, dass der berüchtigte Landadelige sie gleich flachlegen würde.
Siv hob eine Hand, hakte seinen Zeigefinger unter den Bund meines Slips, zog mich erst damit zu sich heran und stand dann auf, um mir das Höschen ganz auszuziehen. Danach drückte er mich sanft in die Kissen zurück und legte eine Hand auf meine Stirn.
»Mach die Augen zu. Nur spüren.«
Zuerst spürte ich gar nichts. Dann Sivs Finger. Die aber umso mehr. Und plötzlich hatte ich keine Zeit mehr, mich über sein seltsames Benehmen im Bett zu wundern.
Sivs Finger schienen überall zu sein. Sie schwärmten aus wie eine Ameisenarmee. Mein ganzer Körper war bedeckt mit ihnen, und sie suchten sich zielsicher die schönsten Stellen aus. Halsbeuge, Armbeuge. Kniekehlen. Hüften. Und später … noch eine andere Stelle. Da fühlten sie sich gleich wie zu Hause.
Siv hatte nicht zu viel versprochen. Energieblockaden? Wenn die da gewesen waren, hatte er sie längst weggezaubert. Schon bald verlor ich jedes Zeitgefühl, verwundert, wie gut sich Sivs Hände bei mir auskannten. Ich war schon auf dem Weg zum Mond, spürte schon das leise Zittern beim Abheben, da fiel mir plötzlich ein, dass ich etwas vergessen hatte.
Den zweiten Passagier.
Ich wollte nicht allein abheben. Ich wollte ihn mitnehmen.
»Warte!« Ich öffnete die Augen. Siv kniete über mir, und ich blinzelte verwundert. In der Zwischenzeit hatte ich ganz vergessen, dass er immer noch nicht ausgezogen war. Das würde sich gleich ändern! Ich musste nur noch schnell etwas holen.
Mit zittrigen Knien stand ich auf, torkelte ins Bad und öffnete das Medizinschränkchen. Wo waren die verdammten Dinger? Alles, was ich fand, war eine Großpackung Aspirin und eine vampirblutrote Gurgellösung. Dann fiel es mir ein. Kulturbeutel. Die moderne Frau musste auf Reisen schließlich immer für alles gerüstet sein. Schließlich hatte ich entdeckt, was ich suchte. Extrazart, extrasicher, für das längere Vergnügen. Das würden wir haben.
Schnell war ich zurück. Siv lag schon wieder rücklings auf dem Bett, eine Hand unter seinen Kopf gestützt und musterte mich. Er sah ruhig aus.
Fast ein bisschen zu ruhig dafür, dass sich ihm gerade eine nackte Frau in eindeutiger Absicht näherte.
»Fang!«
Das Kondompäckchen flog durch die Luft. Ich sprang mit einem Satz hinterher und landete halb auf Sivs Körper.
Er legte schlaff einen Arm um mich. Das Päckchen beachtete er gar nicht. Er ließ es einfach auf seiner Schulter liegen, dort, wo es gelandet war. Gleichzeitig spürte ich etwas, das mich äußerst irritierte.
Besser gesagt: Ich spürte eben gar nichts. Und das war noch viel irritierender. Sivs Arme, Sivs Brustkorb und seine Schenkel waren sehnig und hart unter meinem Körper – aber dort, wo es hart hätte sein müssen, war es weich. Um nicht zu sagen: kuschelweich.
Endlich griff Siv nach dem Kondompäckchen und legte es sanft zur Seite.
»Das brauchen wir nicht«, sagte er.
»Äh, ja«, stotterte ich, »das habe ich auch gerade gemerkt.«
Houston, wir haben ein Problem. Die Rakete würde heute nicht mehr starten. Nicht zu zweit, aber auch nicht mehr in Solobesetzung. Ich fühlte mich plötzlich nackt. Nicht erotisch nackt, eher so nackt wie in diesen Träumen, in denen man als einziger Mensch ohne Anziehsachen über eine belebte Einkaufsstraße läuft.
»Ich meine, mach dir nichts draus«, sagte ich schnell, »das kann ja mal passieren.«
Siv tat etwas Seltsames. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Vergnügt wie ein Kind, dem ein guter Streich gelungen war.
Das fand ich nicht nett.
War ja schön und gut, dass er sich von einem einmaligen Hänger nicht aus der Ruhe bringen ließ – aber so komisch war das nun auch wieder nicht. Schließlich ging das auch mich etwas an. Mit einem Mann, der ungefähr so viel innerliche Beteiligung zeigte wie ein Atheist bei der Papstaudienz, schwand auch meine eigene Lust in Rekordzeit. Da konnte er noch so fingerfertig sein. Wie konnte das bloß passieren? Fand er mich denn gar nicht schön? Sexy? Begehrenswert?
»Nein, Evke«, sagte er und legte seine Hand auf meine. »Du hast mich falsch verstanden. Es ging mir darum, dir etwas Gutes zu tun. Deine Nadis, deine Energiekanäle, zu öffnen. Dazu habe ich dein Wurzelchakra angeregt, das ist bei dir ein sehr starkes Zentrum.«
»Wie? Das war gar kein Sex?«
Ich war verdattert. Hatte Bill Clinton am Ende recht gehabt, damals, nach dem Schäferstündchen im Oval Office? Und ich hatte immer geglaubt, dass Sex noch andere Varianten haben konnte als das klassische Steckspiel.
Siv sah mich ernst an. »Sex ist etwas Heiliges. Da werden sehr mächtige Energien ausgetauscht, weil du dabei jemanden ganz und gar in deine Aura eindringen lässt. Dazu braucht es sehr viel Zeit und sehr viel Vertrauen.«
Tatsächlich: päpstlicher als der Papst. Wahrscheinlich hatte der Kollege aus dem Vertrieb recht gehabt. Nicht nur Yogafrauen wollten lieber atmen als Sex haben. Auch die Männer.
»Was stimmt denn mit meiner Aura nicht?«, fragte ich gekränkt.
Siv setzte sich auf, rutschte an den Bettrand und strich mir väterlich über den Kopf. »Keine Sorge«, antwortete er, »mit deiner Aura ist alles bestens. Nur diese große Trauer, die ich darin spüre. Die macht mir ein wenig Sorgen.«
»Ach was«, ich schob seine Hand weg. »Ich? Traurig? Dazu gibt es überhaupt keinen Grund.«
Ich stand auf und machte einen Schritt ans Fenster. Die Häuser gegenüber blickten mit toten Augen in die Nacht. Nur ein einziges Licht brannte. Wieder dieses freundliche Signal in der Dunkelheit. Dort wäre ich jetzt gern gewesen. Oder irgendwo anders. Jedenfalls nicht hier.
Hinter mir hörte ich das Klacken von Wäscheklammern, dann ein leises Quietschen, als Siv von meinem Bett aufstand. Er trat hinter mich und legte eine Hand auf meine Schulter.
»Evke? Möchtest du lieber allein sein?«
Ich nickte. Auch wenn es nur die halbe Wahrheit war. Ich wusste nämlich schon ganz genau, wer mir in dieser Nacht noch Gesellschaft leisten würde. Hatte ich meiner Sektflasche nicht versprochen, dass es eine gute Gelegenheit geben würde? Jetzt war sie gekommen.
»Gut«, sagte er, »wenn das so für dich stimmt.«
Er schlang seinen Arm um mich, drückte mich und gab mir einen Kuss. Auf die Wange.
»Ich möchte, dass du das hier richtig verstehst. Nicht dass du glaubst, ich fände dich nicht anziehend. Aber die Dinge brauchen Zeit, zu wachsen.«
Ich nickte ergeben.
»Deshalb möchte ich dich auch um etwas bitten«, sagte er. Sein Atem kitzelte mein Ohr.
»Das, was wir heute Abend erlebt haben – es bleibt unter uns, ja? Es ist einfach zu zart, um es zu zerreden. Vor allem mit anderen Menschen als mit denen, die es angeht.«
Er war schon fast an der Tür, als mir kalt wurde. Eiskalt. Wieder würde ich allein schlafen, allein aufwachen, und keiner würde mir Latte to go ans Bett bringen. Nicht mal einen »Momente der Entspannung«-Tee.
»Siv?«
»Schlaf schön, Evke. Du weißt, nur im traumlosen Tiefschlaf sind wir unserem wahren Ich am nächsten.«
Ich hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, und wartete noch kurz, um sicherzugehen, dass er weg war. Dann zog ich mir ein unförmiges, blaues Schlafshirt über, ging an den Kühlschrank, entriss der Flasche ihren Korken und schenkte mir ein Longdrinkglas voll Sekt ein. Wenn schon, denn schon.
Die Kohlensäure brannte in meinem Hals wie ein unangenehmes, inneres Echo der kleinen Ameisen, die vor weniger als einer Stunde über meine Haut gekrabbelt waren. Ich öffnete die Balkontür und trug das Glas nach draußen. Dann ging ich noch mal zurück und wühlte im Schreibtisch nach meiner Zigarettenschachtel. Irgendwo mussten noch welche sein. Wenn ich schon eine Sauerei mit meiner Aura machte, dann auch so richtig. Mitten auf dem blank polierten Schwarzwaldklinik-Aschenbecher mit dem abgestoßenen Rand, der noch immer auf dem Balkontisch stand.
Lange starrte ich auf das erleuchtete Fenster im Nebenhaus. Ein gelbes, warmes Licht war das, wie ein ruhig glimmendes Lagerfeuer, in dessen Glut man an einem schönen Herbstabend Kartoffeln in Alufolie garen konnte. So wie mein Vater es mir gezeigt hatte, als ich ein Kind war. Damals, in unserem kleinen Ferienhaus an einem winzigen See in Holstein, wo meine Eltern so häufig das Wochenende verbracht hatten. Wie lange war ich nicht mehr dort gewesen? Es musste über zehn Jahre sein. Jedenfalls nicht mehr nach der Scheidung. Ich wusste nicht einmal, ob meinem Vater das Häuschen überhaupt noch gehörte.
Ich dachte an den rauchigen Geschmack, die bröselige Schale, das köstlich duftende Innere, und mein Mund schmeckte plötzlich salzig.
Als das Licht im Nachbarhaus erlosch, begann ich zu weinen.